Gescheiterter Putsch: Sprungbrett Erdogans oder Ausdruck seiner Krise?
Spät nachts, als der Putschversuch zurückgedrängt wurde, landete Erdoğan am Atatürk-Flughafen in Istanbul, wo vor kurzem durch einen IS-Anschlag 45 Menschen ums Leben kamen. Dort nannte er den Putsch einen „Segen Gottes“ und kündigte eine vollständige Säuberung des Militärs an. Doch diese Botschaft ist nicht nur als Kriegserklärung gegen die Putschisten zu verstehen. Dem Staatspräsidenten geht es auch um die Fortsetzung der systematischen Transformation des türkischen Staates in seinem Sinne.
Erdoğan nutzt den Putsch als Sprungbrett für die Bonapartisierung des türkischen Staates. Es ist ein provisorischer Sieg, denn die Niederschlagung des Putsches bedeutet keinesfalls eine Stabilisierung des Regimes, das sich in einer permanenten Krise befindet. Diese Krise veranschaulicht besonders die Säuberung innerhalb der staatlichen Institutionen – eine der tiefsten seit der Gründung der türkischen Republik. Denn nach dem gescheiterten Versuch fürchtet Erdoğan um einen erneuten Putsch. Daher versucht er, die vollständige Kontrolle über den Staat zu übernehmen.
Die Bonapartisierung ist ins Stocken geraten
Die Eigenschaft der Türkei als Land der permanenten Krise basiert auf mehreren Faktoren: Die Türkei ist eine Halbkolonie. Das drückt sich im enormen Einfluss ausländischen Kapitals in der Türkei aus. Besonders in der Industrie ist die Entwicklung der türkischen Wirtschaft sehr abhängig von imperialistischen Konzernen. Die türkische Wirtschaft hat nicht die ökonomische und politische Stärke, Kompromisse mit dem Kleinbürger*innentum und der Arbeiter*innenklasse zu schließen. Das zeigt sich einerseits im permanenten Konflikt zwischen der säkularen und westlichen Istanbuler Bourgeoisie (TÜSIAD) und der religiös-konservativen und rechten anatolischen Bourgeoisie (MÜSIAD), andererseits am arbeiter*innenfeindlichen Kurs Erdoğans, mit 18.000 Arbeitsmorden in Form von vermeidbaren Unfällen seit 2002.
Die bewaffneten Befreiungskämpfe des kurdischen Volkes seit der Kolonialisierung Kurdistans setzte für die türkische Bourgeoisie einen starken Militärapparat voraus. Die Versuche, das kurdische Volk militärisch und mittels Assimilationspolitik zu unterdrücken, scheiterten immer wieder. Die Kosten des Kriegs waren stets eine große ökonomische Last. Der allmächtige Militär- und Staatsapparat wurde ein Hindernis für die ökonomische und politische Stabilität des Regimes.
Im Jahr 2002 übernahm die AKP im Schatten einer tiefen wirtschaftlichen Krise die Regierung. Ihre historische Aufgabe bestand darin, durch wirtschaftliche Liberalisierung, politische Reformen und diplomatische Außenpolitik der türkischen Bourgeoisie zu ermöglichen, ihre Widersprüche in der kurdischen Frage aufzuheben: Ein „Friedensvertrag“, das Zurückdrängen des mächtigen Militärapparats aus Wirtschaft und Staat sowie Privatisierungen waren die Mittel des neuen Kurses.
Die Grenzen des Regimes
Zudem befindet sich die Türkei in einer geopolitischen Lage, die von intensiven Konflikten und permanenten imperialistischen Interventionen geprägt ist. Die Bilanz der AKP-Regierung veranschaulicht alles andere als die Erfüllung des Modells des Staates als „ideellem Gesamtkapitalisten“: Der Annäherungsprozess an die EU gerät immer wieder ins Stocken. Niemand glaubt an eine Mitgliedschaft in absehbarer Zeit. Erdoğan, zuerst als Regierungschef, nun als ein Staatspräsident, der de facto „die Regierung regiert“, erlebt außenpolitisch in seinen Regionalmachtbestrebungen Niederlagen. In der kurdischen Frage änderte er seinen Kurs von diplomatischen zu klassischen militärischen Taktiken.
Sein aktuelles Regime basiert auf dem Versuch der Installierung eines Bonapartismus. Doch die objektiven und subjektiven Faktoren erlauben ihm nicht die Rolle eines „Schiedsrichters“, der sich im Konsens mit der Bourgeoisie über die Klassen erhebt. Im Gegenteil: Er nutzt kriegerische und nationalistische Mittel, was ihm zwar die Konsolidierung einer Basis ermöglicht, doch weder die Erfüllung der Interessen der imperialistischen Akteure noch die der Istanbuler Bourgeoisie.
Die Rolle der imperialistischen Bourgeoisie in einer Halbkolonie ist besonders wichtig, da sie den Großteil der zentralen Produktionsmittel besitzt. Das Schicksal der einheimischen Bourgeoisie steht also in direkter Verbindung zur Kollaboration mit dem Imperialismus. Die Legitimation eines bonapartistischen Regimes entsteht in den Augen des Kapitals außerdem aus den verschärften Konflikten zwischen den Klassen – was aufgrund des niedrigen Organisierungsgrads, der Spaltung der Arbeiter*innenklasse und der Abwesenheit einer revolutionären Massenpartei momentan nicht zwingend erscheint.
Während Erdoğan sich eigentlich über die Klassen erheben müsste, um Bonaparte zu sein, bekommt er nur die Unterstützung einer Fraktion der Bourgeoisie. Das ist der wesentliche Grund, weshalb die Bonapartisierung nicht vorankommt und das Regime von Erdoğan sich in seiner Krise befindet. Nicht einmal die „Normalisierung“ der konflikthaften Beziehungen zu Russland und Israel war ein Erfolg, sondern vielmehr Ausdruck der ins Stocken geratene Außenpolitik Erdoğans. Vor dem Hintergrund all dieser Widersprüche ist der Putschversuch einer Clique zu verstehen, die zwar in den Klassenverhältnissen isolativ blieb, aber die den Zeitpunkt für den Sturz Erdoğans gekommen sah.
Die wahrscheinlichste Option Erdoğans ist die Fortsetzung des de-facto-Präsidialsystems, also die Verteidigung und Neueroberung von Stellungen in den staatlichen Institutionen durch Säuberungsprozesse. Um einen Konsens mit den anderen Flügeln der einheimischen und imperialistischen Bourgeoisien zu finden, braucht er diese Stellungen.
Der Putsch endete also mit der Kapitulation der Putschisten, aber die außenpolitischen und innenpolitischen Widersprüche des Erdoğan-Regimes bleiben bestehen. Es ist also keinesfalls allmächtig, sondern weiterhin höchst instabil.