Genozid in Gaza: Mehr als 70.000 Tote durch direkte Gewalt

11.01.2025, Lesezeit 5 Min.
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Quelle: Anas-Mohammed / Shutterstock.com

Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet untersuchte Todesopfer durch direkte Gewalteinwirkung. Dazu kommen zehntausende indirekte Todesfälle.

Nach Angaben der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet forderte die israelische Offensive im Gazastreifen innerhalb eines Jahres mehr als 70.000 direkte Opfer. Eine erschreckende Zahl, die weder die indirekten Todesfälle durch Hunger oder Krankheiten noch die Tausenden von Leichen unter den Trümmern mit dazuzählt.

Eine neue Studie, die in der Zeitschrift veröffentlicht wurde, schätzt die Anzahl der zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 30. Juni 2024 an den Folgen direkter Gewalt verstorbener Palästinenser:innen auf mehr als 64.000. Die Autor:innen der Studie schätzen die Zahl der nicht in den offiziellen Listen verzeichneten Todesfälle auf fast 41 Prozent. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Gesamtzahl der Todesopfer im ersten Kriegsjahr, von Oktober 2023 bis Oktober 2024, die erschreckende Zahl von 70.000 direkten Opfern überstieg.

Die Forscher:innen verwendeten die Capture-Recapture-Methode. Für diese ursprünglich in demografischen Studien verwendete Methode vergleicht man zwei Stichproben und schließt aus der Anzahl der geteilten Individuen auf die Gesamtpopulationsgröße.

Für den Gazastreifen verwendeten die Forscher:innen drei verschiedene Listen von Opfern: eine Liste des Gesundheitsministeriums in Gaza aus Daten, die in den Leichenhallen der Krankenhäuser in Gaza gesammelt wurden, eine Online-Umfrage des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens und eine Liste, die aus Nachrufen und Würdigungen der Opfer in ausgewählten sozialen Netzwerken zusammengestellt wurde.

Nach der Aussortierung von Duplikaten und vermissten Personen (die möglicherweise von Israel entführt oder in den zahlreichen Gefängnissen und Lagern in der Nähe der Enklave festgehalten wurden) sammelten die Forscher:innen 22.347 Namen auf der Krankenhausliste, 7.581 auf der Liste der Online-Umfrage und 3.190 auf der aus sozialen Netzwerken zusammengestellten Liste. 1.721 Namen aus der Liste der sozialen Netzwerke erscheinen auf mindestens einer anderen Liste, 2.477 auf der Umfrageliste und 3.299 auf der Krankenhausliste.

Durch den Vergleich der Erfassungsquote der einzelnen Listen können die Forscher:innen die Zahl der Opfer schätzen, die der Zählung entgehen. Je weniger Namen mehreren Listen gemeinsam sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Gesamtzahl der Verstorbenen nur teilweise erfassen. Der Erhebung zufolge bleiben mindestens 34.996 Todesfälle ungeklärt. Die Gesamtzahl der direkten Opfer durch die israelische Offensive dürfte daher eher bei 64.260 liegen.

In der Datenerhebung fehlen die indirekten Opfer, die von Krankheiten betroffen sind. Diese breiten sich seit der massiven Zerstörung der Infrastruktur in der Region aus, sowie die Hungersnot, die durch die fast vollständige israelische Blockade und den Mangel an Nahrungsmitteln und Wasser verursacht wurde.

Auch die Vermissten, die unter den Trümmern oder in israelischen Gefängnissen gefunden wurden, nachdem sie verhaftet und anschließend deportiert worden waren, sind in der Erhebung nicht berücksichtigt. Eine frühere Lancet-Studie bezifferte die Zahl der Todesopfer auf 186.000, einschließlich der indirekten Opfer, deren Tod auf die Folgen der Offensive zurückgeführt werden kann. Diese frühere Studie basierte auf einer Schätzung des Verhältnisses zwischen der Zahl der direkten Todesopfer und der Zahl der indirekten Todesopfer und kam auf der Grundlage einer Analyse anderer Konflikte zu der schockierenden Zahl von 186.000, wobei ein Verhältnis von 1:4 angenommen wurde.

Zur Veranschaulichung: Würde derselbe Koeffizient auf die Schätzung der direkten Todesfälle im jüngsten Lancet-Artikel angewandt, würde die Gesamtzahl der direkten und indirekten Opfer zwischen Oktober 2023 und Juni 2024 etwa 256.000 betragen. Nimmt man die geschätzte Zahl der direkten Todesopfer zwischen Oktober 2023 und 2024, d.h. 71.000, so ergeben sich 280.000 Toten innerhalb eines Jahres, d.h. mehr als 10 % der Gesamtbevölkerung, die vor Beginn des Krieges auf 2,3 Millionen geschätzt wurde. Devi Sridhar, ein Spezialist für öffentliche Gesundheit an der Universität Edinburgh, nannte vor kurzem die enorme Zahl von 350.000 potenziellen Opfern.

Obwohl die genaue Zahl der Opfer erst nach Beendigung des Krieges bekannt sein wird, zeugt diese erschreckende neue Schätzung der direkten Todesopfer von der Brutalität des israelischen Feldzugs in Gaza. Während die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens gezwungen ist, nach Süden zu fliehen, um der vom zionistischen Staat ausgelösten Hungersnot zu entkommen. Israel baut auch weiterhin entlang des Netzarim-Korridors militärische Infrastrukturen auf, es werden in dem gesamten Gebiet unerbittlich Angriffe durchgeführt, die sich gegen jede noch brauchbare Infrastruktur richten – von Zelten für Geflüchtete bis zu den Ruinen von Krankenhäusern, humanitären Konvois und Schulen.

Angesichts der genozidalen Gräueltaten Israels in Gaza und der anhaltenden kolonialen Gewalt ist es notwendiger denn je, die Mobilisierung für die Solidarität mit dem palästinensischen Volk und seinem Recht auf Selbstbestimmung zu verstärken und gleichzeitig Aktionen gegen Waffenlieferungen an Israel und den Imperialismus, der den Genozid mitträgt, zu unterstützen.

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