Genozid in Gaza bringt die Kinderlähmung zurück

27.08.2024, Lesezeit 8 Min.
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Kinder auf den Ruinen eines Kindergartens in Gaza / David Lisbona (Creative Commons)

In Gaza treten bestätigte Fälle der Kinderlähmung auf. Dies ist Folge des genozidalen Krieges.

Ende Juli fand die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Polioviren des Types 2 in Abwasserproben aus Gaza. Die Mitteilung der WHO weist explizit auf die zerstörte Infrastruktur hin, die eine konsequente Durchimpfung der Bevölkerung in Gaza unterbrochen hat. Zum Zeitpunkt der Mitteilung Ende Juli gab es in Gaza keine bestätigten Polio-Fälle. Am 17. August 2024 wurde dann der erste Poliofall in Gaza nachgewiesen. Expert:innen warnen vor einem größeren Ausbruch in den nächsten Wochen und Monaten. Dies ist das erste Auftreten der Polio seit über 25 Jahren in Gaza.

Polio als Kriegswaffe in Gaza

Die israelische Regierung und die Israeli Defense Forces (IDF) haben immer wieder verkündet, das einzige und wichtigste Ziel für sie sei die Auslöschung der Hamas. Dass dies auch die Auslöschung der Zivilbevölkerung in Gaza bedeutet, wird nicht einfach nur billigend in Kauf genommen – es ist gewollt. Der Ausbruch der Polio ist keine Naturkatastrophe, sondern eine aktive Kriegswaffe Israels gegen das palästinensische Volk. Eine Gefahr stellt das Virus vor allem auch für Israels ärmere Bevölkerung dar. Doch die israelische Regierung hat die nötigen Ressourcen, um eine Impfkampagne gegen das Virus zu starten. Aufgrund des anbahnenden Ausbruchs der Polio hat sie auch bereits mit solch einer Kampagne angefangen – jedoch nur für die eigene israelische Bevölkerung, nicht für die palästinensische und erst recht nicht für die Menschen in Gaza und der Westbank. Israel hat bereits mit einer Impfkampagne angefangen, jedoch nur für die „eigene“, die israelische Bevölkerung. Damit wird das Virus vor allem die anderen umliegenden Regionen und die Kinder in Gaza am härtesten treffen. Doch auch für Israelis, vor allem ärmere, kann das Virus zur Gefahr werden. Die israelische Regierung nimmt bewusst in Kauf, dass auch Teile der eigenen benachteiligten Bevölkerung am Polio-Virus stirbt.

Damit macht Israel wieder einmal klar: Tote Kinder sind für sie kein Grund, mit ihren Bombardierungen aufzuhören. Ganz im Gegenteil nutzen sie das gezielte Bombardieren und Zerstören von Schulen, Kindertagesstätten, Universitäten, Geburtsstätten, etc. genauso wie eine mögliche Polio-Epidemie als Kriegswaffe gegen die palästinensische Bevölkerung. Israel will diesen Genozid zu jedem Preis durchführen. Selbst die Proteste der eigenen Bevölkerung hält sie nicht davon ab, ihre etlichen Massaker zu beenden. Stattdessen wird jeglicher Gegenprotest niedergeknüppelt – egal, ob das ein Protest von antizionistischen oder jüdisch-orthodexen Demonstrant:innen ist. 

Der jahrzehntelange Kampf gegen Polio

Das Zurückdrängen der Polio war und ist ein harter Kampf von Gesundheitsarbeiter:innen, Forscher:innen, NGOs, Communities und vielen mehr. Die Poliomyelitis, kurz „Polio“, ist eine durch den Poliovirus ausgelöste Viruserkrankung und gilt als hoch ansteckend. Die Übertragung ist durch Schmier- oder Tröpfcheninfektion möglich und erfolgt in der Praxis vor allem über verunreinigtes Wasser. Das macht eine Eindämmung, besonders in Gebieten mit schlechter Trinkwasserversorgung, schwer.

Die Polio, auch „(spinale) Kinderlähmung“ genannt, befällt sogenannte Motoneuronen, also Nervenzellen, die zur Muskelsteuerung nötig sind. Dies führt zu Lähmungen, oft bleibend. Befällt das Virus die Atemmuskulatur, kann die Krankheit zum Tod führen.

Bis heute ist keine Heilung für Poliomyelitis bekannt. Erst mit der Entdeckung von Impfstoffen in den 1950ern konnte der Krankheit wirkungsvoll der Kampf angesagt werden. Noch in den 1980ern wurden über 300.000 Neuinfektionen pro Jahr gezählt, erst in den 2000ern wurden die ersten Kontinente als „poliofrei“ deklariert – allen voran natürlich Europa und Nordamerika. 2021 war die Polio nur noch in Afghanistan und Pakistan „endemisch“, also quasi heimisch, es trat eine zweistellige Anzahl von Fällen mit Lähmungen auf.

Das ist immer noch zu viel, aber kein Vergleich mit der Situation Anfang des 20. Jahrhunderts bis weit in die 1980er hinein. Bilder von Lagerhallen voller Kinder in Eisernen Lungen – Geräte zur künstlichen Beatmung von Erkrankten der Kinderlähmung – finden sich heute nur noch in Geschichtsbüchern – Eiserne Lungen in Museen. Auch die allgegenwärtigen Behinderungen, die durch eine überlebte Kinderlähmung verursacht wurden, sehen wir in Industrieländern heute in erster Linie bei sehr alten Menschen. Diese haben ein Leben mit ihren Behinderungen hinter sich und erinnern sich noch sehr gut an die Zeit, als viele Kinder starben und noch mehr ihr Leben lang mit den Folgen der Infektion kämpften.

Doch die Kampagne zur Auslöschung der Polio hatte auch immer wieder Rückschläge. Besonders in Kriegsgebieten oder Gebieten, in denen schwere Krisen die Infrastruktur angriffen, traten immer wieder Fälle auf, oder es wurden zumindest Erreger nachgewiesen. So gab es 2021 in der Ukraine einen inzwischen als beendet erklärten Ausbruch, 2013 und 2014 gab es in Syrien Polio-Fälle. 2022 gab es sogar einige Fälle in New York und Spuren im Abwasser Londons. Diese Ausbrüche konnten nur unter großen Anstrengungen beendet werden. 

Der Regionaldirektor der WHO für den Östlichen Mittelmeerraum Dr. Hanan Balkhy sagte über Gaza: „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Lebensbedingungen die Verbreitung der Polio und anderer Krankheiten stark begünstigen“. Die WHO spricht weiter von der Notwendigkeit für ein „sicheres und förderliches Umfeld“ für die Durchführung von Impfungen „durch Waffenstillstand oder Tage der Waffenruhe, um Maßnahmen ergreifen zu können, die verhindern, dass die Polio Kinder in Gaza und den umliegenden Regionen und Ländern lähmt“.

In einer Mitteilung vom 16. August schreibt die WHO außerdem: „Ihr (der Polio, A.d.Ü.) Wiederauftreten, vor dem die humanitäre Gemeinschaft in den letzten zehn Monaten gewarnt hat, stellt eine weitere Bedrohung für die Kinder im Gazastreifen und den Nachbarländern dar. Ein Waffenstillstand ist der einzige Weg, die öffentliche Gesundheitsversorgung im Gazastreifen und der Region zu sichern“.

Gegen Israels Genozid und gegen jegliche Beihilfe dazu

Der Krieg in Gaza ist ein Genozid und wir müssen für sein Ende kämpfen. Wir hier in Deutschland müssen uns einem der größten Waffenexporteure und Genozidsupporter der Welt entgegenstellen – der deutschen Rüstungsindustrie und die Politiker:innen, die sie reicher und reicher werden lässt. ThyssenKrupp, Rheinmetall, Heckler & Koch, sie alle müssen von den Beschäftigten bestreikt werden. Denn wir können zwar Ein- und Ausgänge blockieren, wir können Maschinen in Fabriken zerstören – aber all das können die Bosse wieder aufbauen lassen. Jeden finanziellen Verlust können sie wieder reinholen. Wenn aber die Beschäftigten streiken und die Fließbänder dadurch stillstehen, kann keine einzige Waffe mehr produziert werden. 

Dasselbe gilt auch für die See- und Flughäfen und Güterbahnhöfe. Wenn die Beschäftigten dieser Sektoren ihre Arbeit niederlegen, dann kommen keine Waffen mehr rein oder raus. Keine Bomben können geliefert werden. Umso wichtiger ist es also, Streiks in diesen Sektoren zu unterstützen und gleichzeitig die Beschäftigten von der Forderung nach einem Stopp der Waffenlieferungen zu überzeugen. So können Beschäftigte und beispielsweise Klimaaktivist:innen zusammen Blockaden organisieren, um den Im- und Exportverkehr zu stoppen. Eine gute Chance für solch eine Solidarisierung und gemeinsame Forderungsaufstellung wäre die Streikdemonstration des Hamburger Hafens am 31. August. Dort streiken die Beschäftigten der HHLA zusammen mit weiteren Hafenarbeiter:innen gegen den Abverkauf des Hamburger Hafens an MSC. Gleichzeitig stehen dort bereits einige antiimperialistische Beschäftigte auf den Straßen, um gegen Krieg und Aufrüstung zu protestieren.

Doch auch uns Gesundheitsarbeiter:innen steht eine wichtige Rolle zu. Wir arbeiten in Pflegetagesstätten, in Krankenhäusern, in Arztpraxen – also in einer der systemrelevantesten Sektoren für eine funktionierende Gesellschaft. Während unsere Kolleg:innen im Gesundheitssektor in Gaza nach und nach getötet, in Foltergefängnissen misshandelt und an ihren Arbeitsstellen in medizinischen Einrichtungen ohne jegliches gerichtliches Urteil verhaftet werden, dürfen wir nicht still sein. Wir müssen auf unserer Arbeit, bei unseren Streiks, darüber sprechen. Wir müssen unsere Kolleg:innen davon überzeugen, politische Forderungen wie Waffenstillstände gegen die Regierung zu stellen. 

Wir müssen jeden Tag für das Leben kämpfen. Und dieses Leben wurde durch diesen Genozid zehntausendene Male ausgelöscht. Wir müssen uns klar gegen diesen Genozid, gegen die humanitäre Katastrophe in Gaza und gegen jeden Krieg stellen.

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