Generalstreiks in vier Ländern
// In acht Monaten kam es in vier Ländern Lateinamerikas zu Generalstreiks. Das könnte Zeichen eines neuen Aufbruchs der Arbeiterbewegung im Süden sein. //
Die Zeit um die Jahrtausendwende war eine der sozialen Bewegungen in Lateinamerika: Angefangen mit dem Aufstand der ZapatistInnen im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas im Jahr 1994 organisierten sich landlose Bauern/Bäuerinnen und indigene Gemeinschaften vom Río Grande bis Feuerland. Deren VertreterInnen trafen sich beim Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre und ähnlichen Zusammenkünften, bei denen ArbeiterInnen nur einen kleinen Teil des Protestes gegen den Neoliberalismus trugen.
Die „neufreiheitlichen Reformen“ rissen einen tiefen Graben auf zwischen gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen in Kernbereichen und einer wachsenden Masse von prekär Beschäftigten. In dieser Zeit schien die ArbeiterInnenbewegung bestenfalls wie ein zweitrangiges Subjekt sozialer Veränderung. In den zurückliegenden acht Monaten kam es in vier Ländern der südlichen Hälfte Lateinamerikas zu Generalstreiks. Diese brachten die organisierte Arbeiterbewegung, die im letzten Jahrhundert eine riesige Rolle spielte, wieder auf die politische Bühne.
Beispiel Argentinien: Am 20. November 2012 wurden in der Megametropole Buenos Aires keine Zeitungen ausgeliefert, der Müll nicht abgeholt. Die Metro fuhr nicht, und auf der größten Autobahn, der Panamericana, lagen brennende Reifen. In vielen Teilen des Landes gab es Straßenblockaden und Demonstrationen. Bei dem eintägigen Generalstreik ging es um einen höheren Freibeitrag bei der Lohnsteuer sowie mehr Rente wegen der grassierenden Inflation.
Aufgerufen hatten die zwei Gewerkschaftsdachverbände CGT und CTA – genauer: die CGT unter Führung Hugo Moyanos und die CTA mit Pablo Micheli als Chef. Die beiden traditionellen Organisationen hatten sich in den letzten Jahren in fünf verschiedene Teile zersplittert. Die beiden streikenden Gewerkschaften stehen in Opposition zur Mitte-Links-Regierung von Cristina Fernández de Kirchner – aber es gibt zwei weitere CGTs und auch noch eine CTA, die Kirchner unterstützen.
Alle GewerkschaftsführerInnen gehören wie die Regierungschefin zur peronistischen Bewegung, die aktuell nicht über eine einheitliche Partei verfügt. Am 11. August finden in Argentinien Vorwahlen statt. Sie entscheiden über die Zulassung und die KandidatInnen der Parteien, die am 27. Oktober bei der Wahl zum Parlament antreten. Hugo Moyano war ein zentraler Unterstützer der peronistischen Kabinette seit der Krise von 2001. Doch nach Machtkämpfen im eigenen Lager hat er selbst eine eigene Partei – „für Kultur, Bildung und Arbeit“ – ins Leben gerufen, die mit anderen Teilen des Peronismus gegen die Regierung antritt.
Kirchner konnte die Präsidentschaftswahlen vor zwei Jahren mit absoluter Mehrheit gegen eine zersplitterte Opposition locker gewinnen, aber das Parlament wird nun härter umkämpft sein. Während des Generalstreiks waren VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung auf die Straße gegangen, die sich als „clasista“ (klassenorientiert) und antibürokratisch verstehen und deshalb für alle Flügel des Peronismus wenig Sympathie haben. Sie treten mit einer „Front der Linken und Arbeiter“ zur Wahl an.
Beispiel Bolivien: Im Mai wurde das Land 15 Tage lang von Arbeitsniederlegungen paralysiert. Schulen und Krankenhäuser wurden bestreikt, an 40 Orten in allen Provinzen Straßen blockiert. Auch Fabriken und Bergwerke blieben geschlossen. Die Gewerkschaftszentrale COB hatte zur Aktion aufgerufen, um das Rentensystem des Expräsidenten Sánchez de Lozada zu kippen. Es war die erste offene Konfrontation zwischen der Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) und den Gewerkschaften. Evo Morales, der erste indigene Präsident des Landes und ehemalige Gewerkschafter der Koka-Bauern, bekam die meisten Stimmen aus der ArbeiterInnenklasse. Doch die COB hat im März eine „Partei der ArbeiterInnen“ (PT) ins Leben gerufen, die vor allem von Beschäftigten des größten Bergwerks Huanuni getragen wird, um Unabhängigkeit vom Regierungslager zu gewährleisten.
Beispiel Chile: Am 11. Juli kam es zum größten Generalstreik seit dem Sturz der Pinochet-Diktatur. Er legte das Land lahm. Die Gewerkschaftszentrale CUT hatte (wie schon im August 2011) zum Protest gegen die rechte Regierung von Sebastián Piñera aufgerufen. Doch es beteiligten sich auch viele SchülerInnen und Studierende, die seit Monaten der Bewegung für ein kostenloses Bildungssystem neuen Schwung gaben. In der Nähe besetzter Schulen und Fakultäten kam es bereits am Morgen zu Straßenschlachten mit der Polizei. Auch Belegschaften bauten Barrikaden. Insgesamt waren über 150.000 Menschen auf der Straße, um gegen das neoliberale System, das von der Diktatur hinterlassen worden war, zu protestieren. Die Kämpfe der letzten Monate, besonders der wochenlange Streik der HafenarbeiterInnen, vereinigen sich zu einer großen Bewegung der ArbeiterInnen und StudentInnen.
Beispiel Brasilien: Für den 11. Juli rief der Gewerkschaftsdachverband CUT zum Generalstreik auf. Schon seit Wochen waren Millionen Jugendliche auf die Straße gegangen. Sie protestierten gegen eine Erhöhung der Fahrpreise für Bus und U-Bahn, aber bald auch gegen Polizeigewalt, Korruption und die horrenden Ausgaben für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele. Der CUT fordert, ähnlich wie die Jugendbewegung, Investitionen in den öffentlichen Verkehr und eine Senkung der Fahrpreise. Der Streik richtet sich auch gegen Rentenkürzungen und schlechte Arbeitsbedingungen. Auch in der Metallindustrie im Ballungszentrum São Paulo wird die Arbeit niedergelegt, wo die ArbeiterInnenpartei (PT) der Regierung von Dilma Rousseff vor 20 Jahren entstanden ist. Angesichts dieser Proteste bot die Präsidentin Zugeständnisse an. Der nächste Streik ist bereits für den 30. August angesetzt.
In den vergangenen zehn Jahren etablierten sich linke Regierungen in fast allen Ländern des Kontinents, mit nur einigen Ausnahmen wie Chile und Mexiko. Die Hegemonie der USA über ihren Hinterhof wankte. Die Menge der in extremer Armut lebenden Menschen wurde durch Sozialprogramme deutlich gesenkt. Wachsende Exporte, in erster Linie von Lebensmitteln und Rohstoffen in Schwellenländer wie China, finanzierten diese Umverteilungsprojekte.
Doch die linken Regierungen geraten nun mit den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung in Konflikt, weil diese einen größeren Anteil des wachsenden Reichtums fordern. Jetzt wird sich zeigen, ob diese Regierungen die Forderungen der lohnabhängig Beschäftigten umsetzen, oder ob die ArbeiterInnenbewegung sich neue politische Vertretungen schafft.