Generalstreik in Kolumbien: „Wir sind diejenigen, die in die Prekarität gedrängt werden“

01.12.2019, Lesezeit 5 Min.
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Trotz staatlicher Gewalt: Student*innen beteiligen sich an Protesten gegen die Regierung Kolumbiens. Gespräch mit Sebastián Pinilla Patiño, Vertreter des Studiengangs Grafikdesign an der Universidad Nacional de Colombia und Teil der Nationalen Union der Hochschulstudent*innen (UNEES).

Bild: Protest in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá am 22. November. jungeWelt

In Kolumbien hat es seit 1977 keinen landesweiten Generalstreik mehr gegeben. Am 21. November besetzten Hunderttausende Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Indigene, Afrokolumbianer*innen und Student*innen die Straßen und legten ganz Kolumbien lahm. Warum?

Weil die derzeitige Regierung beabsichtigt, jene neoliberalen Leitlinien zu übernehmen, die der Beitritt Kolumbiens zur OECD im Jahr 2018 mit sich gebracht hat. Sie führt einie Reihe von Reformen durch, die mehrere Sektoren gleichzeitig betreffen. Dabei geht es zum Beispiel um eine Renten- und eine Arbeitsreform.

Wie würden sich diese Regierungsvorhaben auswirken?

Unter anderem könnten von Unternehmen dann für den Preis, für den vorher eine Person unter 25 eingestellt wurde, zwei eingestellt werden, ohne dass für sie Krankenkassen- und Rentenbeiträge oder Sonntagszuschläge und Überstunden gezahlt werden müssten. Staatliche Unterstützung würde gekürzt, das Renteneintrittsalter erhöht und Renten unter dem für den Lebensunterhalt erforderlichen Minimum ausgezahlt.

Warum sollten sich deiner Meinung nach Student*innen gegen diese Maßnahmen zur Wehr setzen?

Weil wir es sind, denen ansonsten ein Land im Krieg vererbt wird, das uns verschwinden lässt und umbringt – ein Land mit noch größeren sozialen Ungleichheiten. Wir sind diejenigen, die dann ohne Arbeitsrechte und Rentenansprüche in die Prekarität gedrängt werden.

Bereits im Oktober 2018 hatte die Student*innen-Bewegung die Nichteinhaltung von Vereinbarungen über den Bildungshaushalt seitens der Regierung mit einem riesigen Streik zurückgewiesen. Was ist seitdem passiert?

Die Regierung hat keine großen Fortschritte gemacht. Beispielsweise wurden nur wenige Fälle von Menschenrechtsverletzungen an Student*innen durch die Staatsgewalt zur Sprache gebracht. Hinzu kommt, dass die Schulden, die der Staat bereits bei den Hochschulen hatte und deren Begleichung wir gefordert haben, noch weiter gestiegen sind. Mehrere von ihnen müssen noch dieses Jahr ihre Tätigkeit einstellen, wenn der Staat die erforderlichen Mittel nicht auszahlt. Aber da stattdessen weiterhin an einem Haushalt festgehalten wird, der in den 1990er Jahren beschlossen wurde, sind unsere Proteste zu einem landesweiten Generalstreik geworden.

Zum jetzigen Generalstreik hattet ihr schon schon vor Wochen aufgerufen. Das geschieht in einer Zeit, in der es in mehreren lateinamerikanischen Ländern zu Aufständen kommt. Steht der Streik in Kolumbien damit im Zusammenhang?

Ja. Die Erschöpfung der Bevölkerung Lateinamerikas wegen rechtsextremer und korrupter Regierungen hat uns Parallelen zwischen unserer Erfahrung und dem, was etwa mit den Chilen*innen geschieht, erkennen lassen. Zu sehen, wie andere kämpfen, lässt uns daran glauben, dass Menschen das Potential haben, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, die zuvor aus der Perspektive von Individualismus, Pessimismus und Frustration gesehen wurden.

Noch vor dem 21. November hat die Regierung die Grenzen geschlossen und die Städte militarisiert. Die Maßnahmen haben euch aber nicht daran gehindert, zu demonstrieren. Wahrscheinlich habt ihr aber aber ja trotzdem schwere Repressionen und Infiltrationen befürchtet. Bei euren Protesten gab es sie dann auch. Was ist passiert?

Wir sind Opfer von Staatsterrorismus geworden. Die Polizei hat während des Protestes mehrere koordinierte Menschenrechtsverletzungen begangen. Unter anderem hat sie Menschen dafür bezahlt, ganze Wohnkomplexe zu zerstören und Panik zu erzeugen. Später kehrten sie dann in die betroffenen Nachbarschaften zurück und ließen sich zusammen mit der Armee als „Held*innen“ feiern, um so den Protest besser stigmatisieren zu können.

Ist das der Grund, weswegen ihr den Streik fortsetzt?

Wir machen weiter, weil die Regierenden nicht zuhören. Sie sagen, dass sie dialogbereit sind. Allerdings ist ihre Vorstellung von Dialog, dass wir uns hinsetzen, um uns anzuhören, was diese Regierung für „gute“ Dinge getan hat, ohne unsere Anliegen zu verhandeln. Erst haben sie die sozialen Organisationen, die zum Streik aufgerufen haben, gar nicht eingeladen.

Wir setzen den Streik fort, auch wenn es infolge der Proteste Tote und Verletzte gab. Sogar ein Schüler ist gestorben. Deshalb kämpfen wir weiter für die Abschaffung der „ESMAD“ (auf die Niederschlagung von „Aufständen“ spezialisierte Einheit, Anm. d. Redaktion) und dafür, dass unsere Genoss*innen nicht vor unseren Augen sterben.

In Kolumbien hat die Zahl der Morde an Anführer*innen sozialer Bewegungen, Gewerkschafter*innen, Bäuer*innen, Indigenen und ehemaligen FARC-Kämpfer*innen enorm zugenommen. Nun wurden auch Anführer*innen der Student*innen-Bewegung bedroht. Was gibt dir die Kraft, weiterzukämpfen?

Wir haben es hier mit einer skrupellosen und mafiösen Regierung zu tun. Diese ist zu jedem Betrug fähig, um weiterhin an der Macht zu bleiben, die sie durch Lügen und Vertuschungen beibehalten haben. Wir müssen viel befürchten. Wir alle haben Angst zu sterben und Angst, dass unseren Liebsten etwas zustößt. Aber die Wut, die die Ungerechtigkeit auslöst, gibt uns Kraft. Ich will glauben, dass wir in Frieden leben können.

Interview: Inés In

Dieses Interview erschien zuerst in einer kürzeren Version in der Tageszeitung junge Welt.

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