Gejagt, gelyncht, in Brand gesetzt: Angriffe auf syrische Geflüchtete in der Türkei

16.07.2024, Lesezeit 6 Min.
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Foto: PhotoBatta / shutterstock

In der Türkei gab es in den vergangenen Wochen Angriffe und Brandanschläge auf syrische Geflüchtete. Wie kam es zu diesen Angriffen und was müssen wir dagegen tun?

Es brauchte nur einen Funken, um die sowieso schon rassistisch aufgeladene Stimmung der türkischen Bevölkerung gegenüber syrischen Geflüchteten erneut eskalieren zu lassen. Nachdemin den sozialen Medien die Meldung kursierte, ein syrischer Geflüchteter habe ein mit ihm verwandtes Mädchen sexuell missbraucht, fanden sich vor etwa zwei Wochen auf den Straßen von Kayseri (Türkei) Mobs zusammen, die syrische Geflüchtete auf offener Straße jagten, ihre Geschäfte und Autos anzündeten und zerstörten. „Wir wollen keine Geflüchtete in unserem Land“, skandierte die Menge und zeigte den Wolfsgruß, ein Handzeichen, das mit den extrem rechten Bozkurts in Verbindung steht. 

Es dauerte nicht lange, bis die Welle an Hass weitere türkische Städte erreichte. Auch in anderen Provinzen, wie zum Beispiel Adana, Şanlıurfa, Bursa oder Istanbul kam es zu Ausschreitungen. In Gaziantep wurde ein Syrer niedergestochen, wie ein Video aus den türkischen Nachrichten zeigt; in Antalya wurde ein syrischer Jugendlicher von einem Lynchmob angegriffen und erstochen. Er starb noch vor Ort.

Während der Ausschreitungen wurde die Forderung nach einem Rücktritt des Präsidenten Erdoğans laut. Viele der Randalierer kritisieren seine Flüchtlingspolitik und machen ihn dafür verantwortlich, dass „Millionen Syrer in das Land gekommen seien“. Die Ausschreitungen konnten erst beruhigt werden, nachdem Erdoğan verlautete, vermeintlich „antitürkische Kräfte“ hätten die Unruhen provoziert – eine offensichtliche Propagandalüge. Der türkische Präsident sucht nun den Diskurs mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad, um mit ihm über eine mögliche Abschiebeoffensive von syrischen Geflüchteten zu diskutieren.

Wie kam es zu diesen Angriffen?

In der Türkei herrscht seit einiger Zeit eine extrem hetzerische Stimmung gegen Geflüchtete. Der wirtschaftliche Sumpf, der vielen Menschen einen lebenswerten Alltag verunmöglicht, wird von der Politik in die Schuhe der Geflüchteten geschoben. Auf der einen Seite gibt es die AKP-Regierung, die Milliarden Euros von der EU kassiert, um Geflüchtete davon abzuhalten, die EU-Grenze zu Griechenland zu überqueren. Auf der Gegenseite nutzen Parteien wie die kemalistische CHP oder die extrem rechten Parteien, aber auch selbsternannte linke Parteien wie die stalinistische TKP, die Wirtschaftskrise aus, um den Bürger:innen ihre chauvinistische, nationalistische Agenda aufzudrücken. Sie hetzen gegen Geflüchtete, zum Beispiel mit dem Argument, diese bekämen vom Staat viel Geld, während die türkischen Bürger:innen verhungern müssten. 

Dass die Regierung aber die Gelder der EU nur in minimalem Ausmaß für die Geflüchtetenhilfe nutzt, ist mehrfach nachgewiesen. Genauso mit den regulären Steuergeldern und den gesonderten Katastrophensteuern – kaum etwas davon wird für das genutzt, wofür sie überhaupt erhoben wurden. Die damalige Regierung versprach: „All eure Steuern werden zu euch als Straßen, Wasser und Strom zurückkommen.“ Dieses Versprechen ist mehrere Jahrzehnte her. Heute sitzen meine Tante, ihr Mann und ihre fünf Kinder in Istanbul, der größten und wichtigsten Stadt der Türkei, alle paar Wochen im Dunkeln wegen Stromausfällen und duschen nicht selten mit eiskaltem Wasser. Noch schlechter geht es den Bewohner:innen ländlicher Gebiete in der Türkei. Aber ein paar Straßen wurden wirklich gebaut – oft löchrig, schief, teilweise mit sandigem Zement statt Asphalt und hier und da gerne mal nur bis zur nächsten Seitenstraße.

Die Geflüchteten werden von allen Seiten der bürgerlichen Parteien für ihre politische Agenda ausgenutzt. Erdoğans Regime erleichtert Einbürgerungsprozesse für Geflüchtete, damit diese ihn bei den Wahlen unterstützen können. Die Oppositionen benutzen diese politische Manipulation als Argument für ihre eigenen Zwecke: Nur dank der Stimmen Millionen Geflüchteter habe Erdoğan die letzten Präsidentschaftswahlen gewinnen können. Das Migrationsabkommen mit Deutschland, beziehungsweise die Gelder aus diesem Abkommen, wollen alle Seiten. Das Abkommen hindert sie aber nicht daran, die Geflüchteten rigoros abzuschieben. Für die CHP war das sogar eines ihrer Hauptversprechen bei den Präsidentschafts- und auch bei den Kommunalwahlen.

Solidarität mit allen Geflüchteten! Nieder mit der Kriegspolitik!

In Berlin gingen am 6. Juli hunderte Menschen vor der türkischen Botschaft auf die Straße, um gegen diese Angriffe zu protestieren, aber auch gegen Erdoğans Regime und die Migrationspolitik türkischer Parteien wie der CHP oder der extrem rechten Zafer Partisi. In einer starken Rede sprach Dania, eine der Redner:innen, über die Doppelmoral des AKP-Regimes und wie Geflüchtete in der Türkei von der Politik ausgenutzt werden, um die Staatskassen zu füllen. Erdoğan selbst wurde zeitgleich mit einer dutzende Autos langen Eskorte in die Botschaft gefahren. Er kam nach Deutschland, um die türkische Nationalmannschaft höchstpersönlich zu unterstützen. 

Auch in Paris gab es Proteste gegen die Angriffe auf Geflüchtete. Dort stand der Protest im Zusammenhang mit den antimuslimischen Gesetzen, die kürzlich erhoben wurden, wie dem Abaya-Verbot. Der Protest wurde angeführt von einer kurdischen Organisation, die sich vor wenigen Monaten auch mit den Angriffen auf kurdische Menschen bei den Newrozfeiern in Belgien solidarisierten und dagegen protestierten.

In Istanbul selbst gab es wegen der Demonstrationsverbote zwei autonome kleine Demonstrationen, jeweils in Kadıköy und in der Nähe von Taksim. Sie wurden schnell von der Polizei aufgelöst. Doch die Solidarität reichte sehr weit: Aus vielen Städten meldeten sich Kollektive, Organisationen und Parteien wie die SEP oder sogar der Gewerkschaftsdachverband DİSK über Social Media zu Wort und solidarisierten sich mit den Opfern und Betroffenen der Gewalt.

Wir müssen uns in der Türkei, doch auch in anderen Ländern Europas und international gegen die Ursache von Flucht und Verfolgung stellen: die Kriegsinteressen Europas und ihrer Militärpolitik. Gerade in Deutschland wird aktuell so viel aufgerüstet wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Geschäfte der Waffenproduktion boomen und machen Milliardengewinne. Waffen im Wert von mehreren 100 Millionen Euro gehen jährlich von Deutschland an die Türkei, die diese Waffen wiederum in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien einsetzt, doch auch darüber hinaus. Die Proteste der syrischen Bevölkerung in Nordsyrien gegen das türkische Militär sind ein starkes Widerstandszeichen gegen diesen Militarismus.

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