Gegen Frauenunterdrückung: Kollektiv kämpfen statt individueller Wahlfreiheit
Der Feminismus, der sich nach einer Phase der Radikalisierung in den 70er und 80er Jahren institutionalisierte, beschränkt sich auf die Illusion der individuellen Wahlfreiheit. Er hat den ausgebeuteten und unterdrückten Frauen so nichts mehr anzubieten. Es bedarf einer Alternative, die ihre Lebensbedingungen in den Mittelpunkt stellt und die kollektive Organisierung der Arbeiter*innen und Frauen vorantreibt, unabhängig von Bourgeoisie und Bürokrat*innen.
Zwei teilweise widersprüchliche Vorstellungen von der Lage der Frauen sind heute Common Sense: Einerseits die Vorstellung, die Gleichstellung von Männern und Frauen in unserer Gesellschaft sei bereits erreicht und jede Frau könne individuell für sich entscheiden; andererseits die Sichtweise, dass Frauen vor allem Opfer sind, die des Schutzes bedürfen. Dagegen stellen wir eine dritte Vision. Wir denken, Frauen können und müssen kollektiv für ihre Befreiung kämpfen, im Bündnis mit der Arbeiter*innenklasse. In diesem Artikel sollen diese drei Sichtweisen analysiert werden.
Die Ideologie der Wahlfreiheit
Vielerorts wird heute behauptet, die Emanzipation sei in den westlichen Gesellschaften erreicht, denn es existiere eine rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen. Auf Grundlage dieser Gleichstellung hätten Frauen die freie Wahl, wie sie ihr Leben gestalten. Systematische Unterschiede, die nicht wegzudiskutieren sind, werden mit angeblich falschen Entscheidungen der Frauen erklärt oder damit, dass ihnen die innere Haltung fehle, diese freie Wahl auch auszuüben. Der Feminismus hat nunmehr die Aufgabe, die individuelle Wahlfreiheit zu verteidigen und eine andere Kultur zu schaffen. Der bürgerliche Staat mit seinen Institutionen erscheint als derjenige, der die Gleichstellung per Gesetz durchgesetzt hat.
Diese Vorstellung beruht auf der bürgerlichen Ideologie des liberalen Individuums. Im Fokus der Aufmerksamkeit der bürgerlichen Feministinnen, die von dieser Vorstellung ausgehen, stehen Fragen des Körpers und des Begehrens und vor allem der Kultur. Es geht darum, dass Frauen individuell für sich den „richtigen“ Weg erkennen und wählen.
Die Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse durch die Bourgeoisie wird dabei total ausgeblendet. Ebenso die Tatsache, dass die Institutionen des Staates und die bürgerliche Ideologie der Aufrechterhaltung dieser Ausbeutung dienen. Auch wenn sie bestimmte Zugeständnisse machen (die meist Ergebnisse von harten Kämpfen sind), garantieren sie trotzdem auf anderen Ebenen gleichzeitig die patriarchale Unterdrückung von Frauen (wie auch andere Unterdrückungsformen), um die kapitalistische Ausbeutung weiterhin zu stützen.
Frauen als Opfer
Frauen werden aber auch als machtlose Opfer gesehen, die Schutz benötigen. Die Rolle des Beschützers füllt in den meisten Fällen ebenso der Staat aus. Teils kommt diese Rolle aber auch NGO’s zu, die ihrem Selbstverständnis nach feministisch sind und die die Auswirkungen der patriarchalen und kapitalistischen Verhältnisse für Frauen der Arbeiter*innenklasse und Frauen in den abhängigen Ländern erträglicher machen wollen, ohne diese Verhältnisse anzugreifen. Auf die Spitze treibt dies ein imperialistischer Feminismus, der Kriege mit der Verteidigung von Frauenrechten legitimiert.
Auch hier werden die Klassenverhältnisse, die zu Armut und Gewalt führen, vor deren schlimmsten Auswüchsen die Frauen gerettet werden sollen, ausgeblendet.
Diese beiden Vorstellungen sind vordergründig widersprüchlich. Ihr gemeinsamer Kern ist aber, dass sie die Möglichkeit von kollektiven Kämpfen von Frauen gegen ihre Unterdrückung negieren. Außerdem spiegeln diesen beiden Vorstellungen eine Gleichzeitigkeit in der Lebensrealität der Frauen wieder: Während heute ein nie gekanntes Ausmaß an Rechten für Frauen existiert, leiden sie gleichzeitig massenhaft an Elend, Armut, schlechten Arbeitsbedingungen und Gewalt. Dies kann der Feminismus, der sich dem Individualismus verschrieben hat und die Analyse der kapitalistischen Verhältnisse aufgegeben hat, nicht verstehen.
Dabei handelt es sich nicht nur um den bürgerlichen Feminismus a là Alice Schwarzer, nicht nur um die offiziellen Vertreterinnen in den Parteien und Institutionen, sondern auch um einen postmodernen Feminismus, der zwar radikal tut – und andere bürgerliche Feministinnen kritisiert – aber letztlich nur darüber nachdenkt, wie sich jede*r einzelne von ihnen individuell verhalten sollte. Damit ist er nur eine zwar radikal erscheinende, aber den patriarchalen Verhältnissen gegenüber ebenso zahnlose Spielart des bürgerlichen Feminismus. Er gibt sich oppositionell, beweist aber durch seine Praxis das Gegenteil.
Die Institutionalisierung des Feminismus…
Woher kommt es, dass große Teile des Feminismus sich der Vorstellung der individuellen Wahlfreiheit unterworfen und den kollektiven Kampf aufgegeben haben?
Es gab einen Übergang der feministischen Bewegung von einer Phase der Radikalisierung in den 70ern und 80ern zu einer institutionalisierten feministischen Bewegung in den 90er Jahren. Die Feministinnen, die vorher auf der Straße kämpften, gründeten NGO’s und wurden in die Institutionen des Staates und der internationalen Organisationen integriert. Sie verwechselten staatlich oder von internationalen Institutionen finanzierte NGO’s mit der feministischen Bewegung und ihre Projekte mit politischen Aktionen. Ebenso fanden sie Einzug in die Universitäten und die bürgerlichen Parteien. Und es entstand eine neue Generation von Frauen, die diesen Zustand ganz normal fand.
Nicht zu verschweigen ist dabei allerdings auch die Rolle des Stalinismus, der die Thematisierung der Frauenunterdrückung als Spaltung der Klasse denunzierte und so dazu beitrug, die radikalisierten Frauen vom Marxismus abzustoßen.
Gleichzeitig wurden Rechte von Frauen in den imperialistischen Ländern tatsächlich ausgeweitet. Allerdings waren diese Fortschritte vor allem für die wohlhabenderen Frauen zugänglich. Arbeiterinnen und arme Frauen, vor allem in den abhängigen Ländern, wurden währenddessen den Bedingungen des Neoliberalismus unterworfen, mit Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und erhöhter imperialistischer Ausbeutung.
… und seine Privatisierung
Der nun institutionalisierte Feminismus hatte kein Interesse daran, diese für die Massen der Frauen drängenden Fragen aufzugreifen. Statt wie in den 70ern den Staat zu kritisieren und das Bündnis mit anderen Bewegungen zu suchen, kritisierte er zwar die Ungleichheit der Geschlechter, aber ohne die der Gesellschaft zugrunde liegende Ungleichheit zwischen Ausbeuter*innen und Ausgebeuteten anzugreifen. Nicht die Aufhebung der Familie wurde mehr angestrebt, sondern ihre Ausweitung auf „andere Familien“. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in vielen Bereichen entdecken.
Denn die Interessen dieser Institutionen, in die sie nun integriert waren, prägten die Feministinnen. Und so trat die Idee der individuellen Emanzipation jeder einzelnen Frau in den Vordergrund. Diese individuelle Emanzipation ging einher mit neuen Konsumnormen, mit neuen kapitalistischen Interessen. Ebenso entstand die Anforderung, den eigenen Körper sich selbst individuell anzueignen – ungeachtet der kapitalistischen Zugriffe, die natürlich weiterhin stattfanden. Der Feminismus wurde ganz im Sinne des Neoliberalismus privatisiert.
Die radikale Kritik der feministischen Bewegung der 60er bis 80er, die sich gegen die Allianz von Patriarchat und Kapitalismus wandte, wurde aufgegeben. Statt um kollektives Handeln ging es jetzt um das individuelle Entscheiden. Statt um Befreiung ging es um Wahlfreiheit. Statt um die Emanzipation in einer anderen Gesellschaft ging es nur noch um mehr Rechte in dieser Gesellschaft.
Aber diese waren und sind nur für wenige Frauen tatsächlich zugänglich.
Individuelle Wahlfreiheit und soziale Verhältnisse
Am krassesten drückt sich dies im „coolen Feminismus“ oder im „Feel-good Feminismus“ aus, der nur noch darum streitet, die Kultur zu verändern. Vorkämpferinnen sind berühmte Sängerinnen und Schauspielerinnen, Austragungsorte Fernsehserien und Oscar-Verleihungen. Das Ideal der Wahlfreiheit wird dort auf die Spitze getrieben.
Die individuelle Wahlfreiheit ist in Wahrheit aber natürlich bedingt durch die sozialen Verhältnisse. Ohne die Möglichkeit des kollektiven Kampfes gegen diese Verhältnisse, bleibt die Wahlfreiheit beschränkt auf einige wenige, während die Mehrheit der Frauen mit ihren langen erschöpfenden Arbeitstagen voller Lohnarbeit und kostenloser Hausarbeit gar nicht dazu kommen, sich über ihre Wahlfreiheit Gedanken zu machen, geschweige denn die Möglichkeit haben, sie tatsächlich auszuüben. Denn die kapitalistischen Klassenverhältnisse existieren weiter, auch wenn der institutionalisierte – ebenso wie der postmoderne – Feminismus sie nicht zur Kenntnis nimmt.
Das Dilemma des bürgerlichen Feminismus
Selbst für diejenigen, die die Wahlfreiheit heute zu einem bestimmten Ausmaß besitzen mögen, kann der individualisierte Feminismus dies nicht mehr garantieren. Heute greifen beispielsweise rechte Bewegungen, die im Verlauf der Krise in vielen Ländern immer stärker geworden sind, Rechte von Frauen an. Die Rechten wollen vor allem die Situation der migrantischen und armen Frauen verschlechtern und spielen sie teils gegen die einheimischen Frauen aus. Aber sie richten sich auch gegen die Rechte, die alle betreffen. Und der individualisierte Feminismus kann nicht antworten, weil er den gemeinsamen Kampf aufgegeben hat, sich also leichter gegeneinander ausspielen lässt. Und weil er nicht darauf vorbereitet ist, einmal erreichtes zu verteidigen.
Wie eine Anführerin der sozialistischen Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen), Celeste Murillo, schreibt, steckt der bürgerliche Feminismus in einem Dilemma: Für diejenigen, die die Wahlfreiheit besitzen, hat der Feminismus nichts mehr anzubieten, als ein gutes Gefühl und für diejenigen, die sich die Wahlfreiheit nicht leisten können, hat der Feminismus auch nichts mehr anzubieten, weil er nichts mit ihrem Leben zu tun hat.
Frauen können gemeinsam kämpfen
Gegen die beiden vorgestellten Sichtweisen müssen wir eine dritte Vorstellung setzen. Sie kritisiert die zwei vorherigen Vorstellungen dafür, dass sie die Kämpfe und Bewegungen von Frauen von heute und gestern einfach ignorieren. Das heißt, sie pocht darauf, dass Frauen kollektiv kämpfen müssen und dies auch immer wieder tun. Sie kritisiert den institutionalisierten Feminismus dafür, die Interessen der Frauen verraten zu haben.
Und sie betont dabei, dass uns die demokratischen Rechte, die wir als Frauen heute genießen, eben nicht vom kapitalistischen Staat geschenkt wurden, sondern dass sie von Massenbewegungen der Frauen und Arbeiter*innen in Momenten des verschärften Klassenkampfes erobert wurden. Und dass diese Rechte deshalb nicht einfach für immer gegeben sind, sondern auch immer wieder zurückgenommen werden können.
Der Grad der Radikalisierung und die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf sind danach entscheidend dafür, ob die Situation von Frauen sich verbessert – oder aber ob sie sich in Zeiten der Reaktion verschlechtert.
Eine Alternative für die Unterdrückten und Ausgebeuteten
Wir müssen feststellen, dass sich die Situation der Frauen verschlechtert hat. Wir können zwar wählen und ohne Erlaubnis unseres Vaters oder Ehemanns arbeiten, aber wir müssen überdurchschnittlich oft unter extrem prekären Bedingungen arbeiten und die Ausmaße der Gewalt gegen Frauen steigen immer weiter an. Auch erkämpfte Rechte stehen immer wieder zur Disposition und werden von Staat und rechten Bewegungen angegriffen.
Unsere Aufgabe als Revolutionärinnen ist es, denjenigen eine Alternative zu bieten, die vom individualisierten Feminismus nichts zu erwarten haben, weil er ihre Lebensbedingungen nicht im Blick hat. Wir müssen über Prekarisierung sprechen, über die Doppelbelastung bei der Lohn- und der Hausarbeit, über patriarchale Gewalt im Betrieb, in der Schule und der Universität, der wir weder mit Hilfe der Polizei noch mit coolen feministischen Popstars entkommen können. Wir können ihr nur gemeinsam etwas entgegensetzen, wenn wir uns als Frauen an unseren Orten unabhängig von Staat und Reformismus organisieren, um gemeinsam mit den Männern der Arbeiter*innenklasse gegen unser Unterdrückung und Ausbeutung zu kämpfen.