Gaza-Protestwahl in England: Wer ist George Galloway?
Der ehemalige Labour-Abgeordnete George Galloway hat die Nachwahl im nordenglischen Rochdale gewonnen und zieht damit ins Unterhaus ein. Sein Wahlkampf war vor allem pro-palästinensisch ausgerichtet. Allerdings schlägt der Vorsitzende der Workers Party immer wieder chauvinistische Töne gegen Migrant:innen und LGBTQIA+ an.
Seit Donnerstag ist die kleine Stadt Rochdale im Norden Englands landesweit in aller Munde. Der Kandidat der Workers Party of Britain, George Galloway, hat die Nachwahl für das britische Unterhaus mit knapp 40 Prozent der Stimmen gewonnen. Er setzte sich unter anderem gegen Azhar Ali durch, der ursprünglich als loyaler, parteirechter Kandidat der Labour Party angetreten war. Aufgrund verschwörungstheoretischer, anti-israelischer Äußerungen wurde Ali allerdings die Unterstützung der Partei kurzfristig entzogen. Die Aufstellung eines neuen Kandidaten war nicht möglich. Platz zwei mit rund 6000 Stimmen weniger als Galloway belegte der unabhängige Lokalpolitiker David Tully. Die Nachwahl war notwendig, weil der vorherige Abgeordnete von Labour Tony Lloyd für den Wahlkreis verstorben war.
Galloway war jahrelang Mitglied der Labour Party. Dort wurde er 2003 ausgeschlossen, weil er öffentlich den Irak-Krieg ablehnte, britische Soldat:innen aufgefordert hatte, illegale Befehle nicht zu befolgen und arabische Armeen aufgerufen hatte, gegen das britische Militär zu kämpfen. Er gründete daraufhin die Partei Respect – The Unity Coalition, mit der er wieder ins Unterhaus einziehen konnte, wo er 2015 allerdings abgewählt wurde. 2016 löste sich Respect auf. Im Jahr 2019 gründete er die Workers Party of Britain.
Die Wahl in Rochdale ist der erste große Erfolg für die Partei. Galloway profitierte dabei vor allem von der Krise der konservativen Tories, die aktuell praktisch jede Nachwahl verlieren, und der Suspendierung von Ali. 2019 konnten die beiden großen Parteien zusammen noch 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, bei der Wahl am Donnerstag waren es nur noch 26 Prozent. So klein Rochdale auch ist, so groß ist das Signal dieser Wahl – vor allem an den Labour-Vorsitzenden Keir Starmer. Im Herbst wird ein neuer Premierminister gewählt. Im Moment sieht alles nach einem klaren Erfolg für Starmer aus. Doch der Krieg Israels gegen Gaza und die pro-zionistische Haltung der Labour-Führung bleibt in Großbritannien nicht unwidersprochen. Millionen Menschen sind seit dem 7. Oktober auf die Straßen gegangen, haben gegen Genozid in Gaza protestiert und einen Waffenstillstand gefordert. In Rochdale macht die muslimische Community rund 30 Prozent der Wähler:innenschaft aus. Die Labour-Führung hat in den letzten Jahren versucht, ihre pro-zionistische Haltung in der Partei rigoros durchzusetzen. Der ehemalige Vorsitzende Jeremy Corbyn wurde 2020 beispielsweise zeitweise von der Parteiführung wegen Antisemistismus-Vorwürfen suspendiert. Über 100 Stadträte von Labour – unter ihnen viele muslimische – sind aus Protest gegen die Führung aus der Partei ausgegetreten. Insofern ist es gut möglich, dass das Beispiel Rochdale Schule macht und es auch in anderen Wahlkreisen zu erfolgreichen Wahlantritten gegen die Labour Party kommt.
Ein kleinbürgerliches Programm
Gegenüber den Massen hat Galloway die Wahl in allererster Linie durch seine pro-Gaza-Haltung gewonnen. Er bezeichnete die Wahl selbst als „Gaza-Protest-Wahl“. In der ersten Rede nach seinem Wahlerfolg sagte er unter anderem: „Keir Starmer: Das ist für Gaza.“ Dabei ist es zunächst positiv, dass die Massen mit der Wahl von Galloway ihre Solidarität mit Palästina ausdrücken. Dennoch bettet sich diese Position in ein Programm der Workers Party und von Galloway ein, das volksfrontähnliche und teils sogar verschwörungstheoretische Züge hat.
Auf der Website der Workers Party fasst die Partei in einem Zehn-Punkte-Programm ihre wichtigsten Forderungen zusammen. Dazu gehören der Austritt aus der NATO, bezahlbarer Wohnraum, kostenlose Gesundheitsversorgung, kostenloser öffentlicher Nahverkehr usw. Wenig davon vertritt Galloway aber wirklich nach außen. Die Gaza-Frage ist bei der Wahl die wichtigste Frage gewesen, allerdings haben es sowohl Labour als auch die Tories nicht geschafft, die politische und soziale Krise der letzten Jahrzehnte auch nur abzufedern. Die Kinderarmut hat sich von 2017 bis 2022 verdreifacht. Fast jedes vierte Kind lebt in schwerer Armut. Alleinerziehende Frauen trifft es am härtesten. Staatliche Leistungen wie Kindergeld oder Wohngeld wurden drastisch gekürzt oder halten nicht mit steigenden Preisen Schritt.
Ein rechtsoffener Scharfmacher
Neben der Solidarität mit Gaza hat sich Galloway in den letzten Jahren aber vor allem einen Namen als migrations- und LGBTQIA+-feindlicher Scharfmacher gemacht. In einem Youtube-Video aus dem Jahr 2022 macht Galloway die „Masseneinwanderung“ dafür verantwortlich, dass die Löhne sinken, Menschen keine Arzttermine bekommen, erwerbslos werden oder Kinder keine Schulplätze bekommen. Grund für die sozialen Probleme seien nicht etwa die Kapitalist:innen oder der Staat, der für Sozialkürzungen verantwortlich ist, sondern die Migrant:innen. Damit greift Galloway offen rechte Narrative auf, die sich seit dem Brexit in Großbritannien noch einmal verstärkt haben.
Galloway hat in den letzten Jahren auch immer mit transfeindlichen Äußerungen für Aufmerksamkeit gesorgt. In einem Artikel vom 25. Juni 2021 für Russia Today (!) warnte er wortwörtlich vor einem „Transwahn“. Er kritisierte vor allem die Labour Party für ihre „Transversessenheit“, mit der sie vor allem Arbeiter:innen abschrecken würde. Er wolle nicht, dass Kinder in der Grundschule lernen, dass es „99 Geschlechter gäbe oder dass Männer Frauen werden können“. Dabei berief sich Galloway teilweise auf rechte Verschwörungstheorien, nach denen Kindern in der Schule beigebracht werden würde, wie man masturbiert oder Analsex hat. Auf den ersten Blick scheint Galloway in Großbritannien einen ähnlichen diskursiven Raum einzunehmen wie hierzulande Sahra Wagenknecht. Allerdings ähneln Galloways rechte und teils verschwörungstheoretische Positionen eher einem Jürgen Todenhöfer als dem BSW-Projekt von Wagenknecht. Er hat bereits in der Vergangenheit für die rechte Brexit Partei von Nigel Farage geworben und wurde offen von einigen namhaften Rechtsextremen unterstützt, wie dem ehemaligen Vorsitzenden der British National Party Nick Griffin.
Eine blutige Nase für Labour?
Sicherlich ist die Wahl von Galloway ein Warnsignal für die Führung der Labour-Party, die mit Corbyn schon einmal die Erfahrung machen musste, von einem Underdog überrumpelt zu werden – auch wenn die Bedrohung heute von außerhalb der Partei durch ausgetretene oder ausgeschlossene Mitglieder kommt. Dennoch vertritt Galloway letztlich nur ein kleinbürgerliches Programm mit starken chauvinistischen Tendenzen. Die Arbeiter:innenklasse spielt für ihn nur eine Rolle, wenn es um die Anpassung an die rückständigsten Sektoren der Klasse geht.
Umso mehr irritiert die Haltung der Socialist Party UK, der Schwesterorganisation der Sozialistischen Organisation Solidarität (SoL) und Teil des Komitees für eine Arbeiter:inneninternationale (CWI), die ihn sogar als „Stimme der Arbeiter:innenklasse“ bezeichnet. Und das obwohl er nicht einmal das Programm der Workers Party ernsthaft nach außen vertritt, das zumindest gewisse soziale Forderungen beinhaltet. In einem Beitrag vor der Wahl rufen die Genoss:innen dazu auf, Galloway zu unterstützen – trotz der Fehler Galloways, die man diskutieren müsse. Was die Fehler von Galloway sind, verrät der Artikel allerdings nicht. In einem anderen Beitrag heißt es: Der Erfolg Galloways würde das Selbstbewusstsein der Arbeiter:innen stärken, um eine sozialistische Alternative zu Labour aufzubauen. Galloway drücke vor allem die Wut und die Enttäuschung gegenüber der Labour-Party aus, die sich auch bei der breiten Unterstützung für das Bündnis „Enough Is Enough“ 2022 gezeigt habe. Dadurch sei ein politisches Vakuum entstanden.
Wie oben bereits geschrieben, stimmen wir überein, dass es durchaus ein positiver Ausdruck für die Palästina-Solidarität ist, dass Galloway gerade mit diesem politischen Schwerpunkt Erfolg hatte. Darauf zu vertrauen, dass Galloway ohne eine Perspektive des Kampfes der Arbeiter:innenklasse gegen den britischen Imperialismus und die Unterstützung Israels etwas ausrichten kann, bleibt jedoch illusorisch. Insofern ist das Erfreuliche nicht der Erfolg von George Galloway, sondern das dahinter stehende politische Phänomen: Die breite Solidarisierung mit den Palästinenser:innen, die sich weltweit in Massendemonstrationen ausgedrückt hat und immer noch ausdrückt.
Darüber hinaus findet sich in den Beiträgen der Socialist Party kein einziges Wort zur migrations- und LGBTQIA+-Feindlichkeit von George Galloway. Vielmehr tun sie die Fehler von Galloway als etwas ab, das man diskutieren müsse, das aber nicht rechtfertige, ihn nicht zu wählen. Doch Rassismus und Transfeindlichkeit sind keine Nebenwidersprüche im Kampf für die Befreiung der Arbeiter:innenklasse. Besonders in Großbritannien ist die Arbeiter:innenklasse traditionell migrantisch geprägt, wird immer queerer und weiblicher. Die Behauptung Galloways, dass der Kampf für Rechte von Trans-Personen die Arbeiter:innen abschrecken würde, ist nur ein rechtes Narrativ von Politiker:innen, die sich an das Bewusstsein des rückständigsten Teils der Arbeiter:innen anpassen. Stattdessen braucht es einen gemeinsamen Kampf für die Gleichstellung von trans Personen und Migrant:innen – sowohl politisch für demokratische Rechte, als auch allgemein für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen für alle Arbeiter:innen.
Die Unterstützung für Galloways Kandidatur durch die Socialist Party stellt uns letztlich auch vor die Frage, wie das CWI es in Deutschland mit Kräften wie Wagenknecht oder Todenhöfer halten wird, sollten diese an politischem Einfluss gewinnen. Sind das dann auch Stimmen der Arbeiter:innen, die unterstützenswert sind, um das Bewusstsein der Arbeiter:innenklase zu heben?
Vielmehr ist es notwendig sozialistische Kandidaturen der Arbeiter:innen aufzustellen mit einem radikaldemokratischen Programm zur Überwindung des kapitalistischen Systems und zum Aufbau einer Arbeiter:innendemokratie auf der Basis der Massen der Arbeiter:innen. Die Genoss:innen der Socialist Party machen in ihrem Beitrag zwar auch den Vorschlag von unabhängigen Kandidaturen und reden abstrakt von der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Arbeiter:innenpartei. Allerdings bleibt dieser Vorschlag letztlich inhaltsleer, wenn man im konkreten Fall dann doch wieder opportunistische Wahlunterstützung für Kandidat:innen wie Galloway betreibt und damit die Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innen nicht vorantreibt, sondern verhindert. Es ist gut möglich, dass die Wahl Galloways in der pro-palästinensichen Bewegung für Aufruhr sorgt und die Labour-Führung um Keir Starmer schwächt. Ohne eine wirkliche Alternative abseits des Reformismus führen kleinbürgerliche Illusionen in Demagog:innen wie Galloway aber wohl kaum zu mehr als einer blutigen Nase für die Labour-Führung.