Mina Khani, Aktivistin der Gruppe Street Roots und Teil des Internationalistischen Blocks bei den G20-Protesten, bilanziert die Ereignisse aus ihrer Sicht und fordert eine Strategiedebatte in der radikalen Linken." /> Mina Khani, Aktivistin der Gruppe Street Roots und Teil des Internationalistischen Blocks bei den G20-Protesten, bilanziert die Ereignisse aus ihrer Sicht und fordert eine Strategiedebatte in der radikalen Linken." /> G20: Schöne Proteste, miese Ergebnisse

G20: Schöne Proteste, miese Ergebnisse

22.07.2017, Lesezeit 10 Min.
Gastbeitrag

Unsere Gastautorin Mina Khani, Aktivistin der Gruppe Street Roots und Teil des Internationalistischen Blocks bei den G20-Protesten, bilanziert die Ereignisse aus ihrer Sicht und fordert eine Strategiedebatte in der radikalen Linken.

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Die Bilder der hunderttausend Menschen, die gegen den G20-Gipfel protestierten, sagen mehr aus, als nur die Spaltung zwischen Arm und Reich in Deutschland oder weltweit. Die Bilder machen klar, dass viele Demonstrant*innen bereit sind, bis zum bitteren Ende für ihre Rechte zu stehen, den heftigen polizeilichen Maßnahmen zum Trotz. Verschiedene Momente, die in den Anti-G20-Demonstrationen mit Kamera festgehalten wurden, sind mehr als ergreifend.

Nichtsdestotrotz sind die Proteste vor zwei Wochen immer noch ein Rätsel für mich. Ich frage mich, weshalb unsere Proteste immer die selben Formen annehmen, wenn wir doch jedes Mal aufs neue erfahren, dass diese uns nicht wirklich weiterbringen. Ich kann im Rahmen der Proteste um die G20 keine linke „Bewegung“ erkennen. Eine Bewegung ist immer nur dann eine Bewegung, wenn sie sich und die Gesellschaft „bewegen“ kann. Die radikale Linke in Deutschland muss sich langsam darüber ernste Gedanken machen, dass sie aufgrund der wichtigen Rolle des deutschen Staates in Europa, aber auch weltweit, mehr „bewegen“ kann, als nur sich selber auf den Straßen. Über die politischen Inhalte unserer Proteste muss viel mehr diskutiert werden und die Inhalte bestimmen natürlich auch die Formen. Wenn wir mit vergangenen Protestformen nicht weiterkommen, dann ist es unsere Pflicht uns langsam darüber Gedanken zu machen, warum wir auf der Stelle treten. Diese Diskussion findet aber gerade nicht statt und wenn doch, dann nur in kleineren Räumen. Die Proteste in Hamburg waren teilweise sehr bewegend; die Bilder von so vielen Menschen, die sich vom Kapitalismus und Neoliberalismus nicht manipulieren lassen und sich weigern, Zuschauer*innen der Katastrophen unserer Zeiten zu bleiben, sind sehr ermutigend.

Aber was kommt danach? Wenn wir als „radikale Linke“ nur ab und zu, hier und da ein Zeichen setzen und durch unsere eigenen körperlichen Verluste zwar auch die Repressionen hierzulande sichtbarer machen, aber dann nach ein paar Tagen zurück in unser bürgerliches Leben gehen, ohne einen Stein hin oder her bewegt zu haben, müssen wir dann nicht eher von einem miesen Ergebnis sprechen und uns im Nachhinein gedemütigt fühlen?

Die Abwesenheit der Repräsentant*innen der Arbeiterklasse bei diesen Protesten zeigt uns, dass obwohl diese Proteste einen sehr anti-kapitalistischen Charakter haben, sie im Großen und Ganzen kaum mit der Arbeiter*innenbewegung verwoben sind. Woran liegt das? Es gibt Themen, die Themen der Arbeiter*innenbewegung werden aber von den radikalen Linken weder groß thematisiert noch beachtet, wie z.B: Lohnarbeit, Mindestlohn, prekäre Arbeitsbedingungen, Rente etc.. Warum sind sie nicht unsere Themen? Warum kämpft ein großer Teil der radikalen Linken in Deutschland nur stellvertretend für Migrant*innen und Geflüchtete gegen Rassismus und identifiziert sich damit als „antifaschistisch“? Warum spielt der Klassenkampf für sie keine Rolle mehr? Diese Fragen können nur beantwortet werden, wenn sie in einem revolutionären Prozess bearbeitet werden. Die radikale Linke muss also anfangen, in einem langen Prozess ihren revolutionären Charakter zu entdecken, wo diese Fragen sorgfältig bearbeitet werden. Um das mit Rudi Dutschkes Worten zu formulieren: „Revolution ist nicht ein kurzer Akt, wo mal irgendwas geschieht und dann ist alles anders. Revolution ist ein langer komplizierter Weg, wo der Mensch anders werden muss.“ Die Spaltung zwischen der radikalen Linken und der Arbeiter*innenklasse hier in Deutschland hat materielle Gründe. Nur eine Form der Selbstorganisierung und Selbstkritik, die diese Spaltung durchbricht und die damit verbundenen Fragen im praktischen Sinne thematisiert, kann auch einen revolutionären Charakter erlangen.

Das demokratische Gesicht der Repression

Nach außen trägt Europa die Botschaft der Demokratie, besonders wenn sie uns als „politische Flüchtlinge“ aufnimmt und anerkennt. Wir fliehen aus den Ländern, in denen alleine das Organisieren einer Kundgebung das Leben kosten kann. Länder wie der Iran, die Türkei, Afghanistan, Syrien, Irak etc. – die Menschen jeder dieser Länder leiden an verschiedenen Formen von Repressionen oder Krieg. Und obwohl viele andere aufgrund von Kriegen oder Armut aus diesen Ländern fliehen, sind sie immer noch aus politischen Gründen hier. Ging es nicht eigentlich vor allem um sie bei diesem Gipfel? Und, wo sind sie? Wieso kommen sie kaum zu Wort? Wer repräsentiert sie in diesen Protesten? Haben sie überhaupt eine Stimme unter uns? Die kurdischen und türkischen Blöcke waren natürlich da. Sie sind durchaus gut organisiert und haben vielleicht angesichts ihrer aktuellen, aber auch historischen Erfahrungen in der Türkei oder Rojava/Bakur mehr revolutionäre Kraft als viele andere. Wo werden aber diese Erfahrungen mit anderen ausgetauscht? Wo sind die Verknüpfungen zwischen dem Kampf der progressiven Kräfte in der Türkei und in den kurdischen Gebieten, mit den Protesten hier in Hamburg erkennbar? Was repräsentiert den internationalistischen Charakter unserer Proteste? Die Anwesenheit von Migrant*innen als aktiver Teil der Selbstorganisation repräsentiert natürlich gleichzeitig auch einen Teil der Linken in Deutschland. Aber das Flüchtlingsthema wird trotz ihrer Anwesenheit nicht sichtbarer thematisiert. Ist hier unter den Linken als Geflüchtete „willkommen zu sein“ unsere einzige Angelegenheit in dieser Sache? Was heißt in diesem Kontext „ein politischer Geflüchteter“ zu sein? Jemand, der aus politischen Gründen verfolgt wird und deswegen flieht.

Ich bin eine dieser Flüchtlinge, ich habe versucht, hier in Deutschland Heim zu finden, denn mein eigenes Zuhause ist für mich zu gefährlich. Die Repressionen der islamischen Regierung im Iran funktionieren aber nicht in einem politischen Vakuum. Sie funktionieren vor allem auch aufgrund der politischen Weltlage, in der wir uns gerade befinden. Der Iran wird jahrzehntelang u.a. mit dem Vorwand der „Menschenrechte“ vom Westen sanktioniert. Die Sanktionen und Kriegserklärungen treffen aber nicht nur die Regierung, sondern, viel mehr als die Machthaber, die Bevölkerung. Die politische Lage im Iran hat sich kaum geändert. Aber es gibt jetzt ein Atomabkommen zwischen den Industrieländern und dem Iran. Die Tore werden im Rahmen neuer Privatisierungen im Iran für den Westen geöffnet. Plötzlich ist der Iran ein relativ „moderater Partner“ für den Westen. Gleichzeitig gibt der deutsche Staat mit uns Flüchtlingen an. Wir werden in unseren Ländern verfolgt und bekommen hier „Schutz“.
Dieser Zustand der Ohnmacht von Flüchtlingen gegenüber den Industrieländern hält jedoch nur solange an, wie wir uns dem weltweiten Kampf gegen den Kapitalismus von hier aus nicht anschließen und uns gegen die Missstände, die von hier aus verursacht werden nicht mobilisieren und organisieren.

Klar, gegen uns gelten besondere Maßnahmen: Wenn wir vom Staatsapparat fotografiert werden, wenn wir durchsucht werden und wenn unsere Namen und Adressen von der Polizei aufgenommen werden. Der dominante Diskurs sagt, es ist „cool und modern“ hier gegen die Iranische Regierung zu sein, es ist aber kriminell im selben Kontext gegen den deutschen Staat zu protestieren. Aber der iranische Staat kriminalisiert seine Gegner*innen ebenso, wenn auch mit ganz anderen, brutaleren Mitteln. Ich will damit keine unmittelbaren Vergleiche ziehen. Das wäre in diesem Fall auch absurd. Aber Unterdrückung ist einfach Unterdrückung, egal ob sie hier oder dort ausgeübt wird. Oppositionelle Migrant*innen werden hier solange gefeiert und können sich solange frei bewegen, wie sie sich politisch im pro-westlichen/pro-kapitalistischen Raum bewegen. Ansonsten sind sie entweder „Terroristen“ oder „Unruhestifter“.

Und: Deutschland kann tatsächlich auf seine schicke Form der Repression „stolz“ sein, denn bei keiner einzigen Durchsuchung im Iran wurde von mir verlangt, dass ich meine Unterwäsche abgeben soll. Was für eine perverse Fantasie haben die Polizeibehörden in Hamburg, die sowas zugelassen und gefordert haben? Die Polizeieinsätze in Hamburg in den letzen Tagen repräsentieren wieder einmal die Bereitschaft des westlichen Kapitalismus, sein demokratisches Gesicht aufzugeben, wenn es hart auf hart kommt. Der Repression von „Unruhestiftern“ oder der „linksextremistischen Szene“ wurde eine neue Definition verliehen. Jetzt wird also mal wieder permanent vom „Linksextremismus“ gesprochen. Es wurde sogar „linker Faschismus“ gekreischt. Die paar ziellosen Steine und Barrikaden definiert der deutsche Staat als „Terror“ und dieser Terror muss natürlich „bekämpft“ werden. Herzlichen Glückwunsch an uns alle und willkommen in der Realität. Damit kommen wir nochmal zu dieser Frage: Was genau muss sich bei uns ändern, dass wir als anti-kapitalistische Linke doch „Steine“ bewegen können?

Friedlich ist das andere Wort für Scheiße

Der Staat bringt uns in ein Dilemma. Wir müssen „friedlich“ aussehen, damit einigermaßen zugelassen wird, dass wir uns organisieren und mobilisieren. Was aber „friedlich“ heißt, definieren der Staat und seine Repressionsapparate für uns. Nach deren Definition sind die Wasserwerfereinsätze der Polizei auf Demonstrant*innen „friedlich“, dagegen sind die Menschenmassen, die sich in die Richtung des Gipfels bewegen „brutal“. Nach deren Definition sind Knüppelschläge auf Demonstrant*innen „friedlich“, die Menschenketten, die sich dagegen bilden, sind aber „brutal“. Nach deren Definition sind gebrochene Hände und blutendende Nasen der Demonstrant*innen das Ergebnis des polizeilichen „Schutzes“; sich das Gesicht zu vermummen, um nicht vom Staatsapparat fotografiert zu werden, ist aber „brutal“. Steine und Flaschen, die auf bewaffnete Polizist*innen geworfen werden sind ein Zeichen der linken Kriminalität, die Stadt in drei Zonen zu teilen und jede*n, der*die sich gegen G20 mobilisiert, mit aller Härte zu kriminalisieren, ist aber „friedlich“. Wie lange lassen wir uns von der Staatsgewalt einschüchtern und schreien dabei, dass „Wir uns nicht einschüchtern lassen“? Haben wir eigentlich nicht doch Angst davor, wie der Rest der Gesellschaft von uns denkt, wenn wir darauf beharren, dass unsere Proteste polizeilich gemeldet waren, wenn wir darauf beharren, dass wir „friedlich“ waren? Es ist unser gutes Recht, die Vorgehensweise der autonomen Linken differenziert zu kritisieren. Sollten wir aber angesichts dieser Kritiken uns in „friedliche“ und „gewaltsame“ Protestierende kategorisieren lassen? Tragen wir nicht mit dieser Taktik dazu bei, dass autonome Linke, die gerade zum Sündenbock gemacht werden, immer mehr kriminalisiert werden und sich demnach immer mehr von einer ernsteren Form der Politisierung abwenden? Drängen wir sie damit nicht in eine Ecke, wo sie immer identitärer werden? Die radikale Linke braucht die Aufmachung einer Debatte über die Repression und Gewalt und Gegengewalt. Natürlich bringen die brennende Autos nichts, wenn keine linke Strategie und Taktik dahinter steckt. Aber eine Distanzierung von solchen Vorgehensweisen, die keine Antwort auf die Gewaltfrage hat, bringt uns auch nicht weiter und lässt uns nur in „kriminelle“ und „friedliche“ Demonstrant*innen kategorisieren, was langfristig auch für alle Linken ganz schlimme Folgen haben kann.

Und jetzt?

„Wir“, das sind diejenigen, die denken, dass der Kampf gegen den Kapitalismus nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir uns gut und durchdacht organisieren und mobilisieren. Und dazu gehört natürlich linke Strategien und Taktiken zu entwickeln, die das gesamte System treffen und nicht nur seinen polizeilichen Apparat. Wir mussen es schaffen, das Privateigentum in Frage zu stellen. Und das kann nur die Arbeiter*innenklasse. Durch Streiks, Fabrikbesetzungen und demokratische Selbstverwaltung von Unternehmen, Schulen, Unis, Ländern und der Welt. Wenn wir sagen, dass die Repressionen und die Staatsgewalt immer massiver werden, dann heißt das für uns, dass wir neue Formen des Widerstandes entwickeln müssen. Das bedeutet, dass wir als Linke in Europa und spezifisch in Deutschland eine neue Debatte um die Inhalte und Formen des Widerstandes benötigen. Ich hoffe, dass wir diese Debatte gemeinsam in die Wege leiten, sie gemeinsam entwickeln und gemeinsam Antworten finden können. Diese konstruktive Kritik ist ja auch nicht in einem Vakuum entstanden. Sie ist Teil vieler Diskussion in diesen post-G20-Tagen. Post-G20 ist aber schon seit Jahrzehnten und klar ist auch, dass der Kapitalismus und Imperialismus uns bei unserer Neu-Organisation, die stets Teil jedes revolutionären Gedankenguts sein muss, nicht still zuschauen werden. Wie können wir die angesprochenen Widersprüche diskutieren? Wie können wir das Diskutierte in Taten umsetzen. Diese sind, denke ich, wichtige Fragen unserer Zeit.

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