Für eine Impfkampagne an jeder Haustür statt Zwang und Entlassungen

20.11.2021, Lesezeit 6 Min.
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shutterstock.com / Von Prostock-studio

Beim Stand von 65.000 Neuinfektionen an einem Tag verhängen Bund und Länder völlig unzureichende Maßnahmen. Ab einer 7-Tages-Inzidenz von 1.000 wird in Bayern ein Lockdown verhängt – aber nur für die Freizeit. Die Wirtschaft soll trotz Pandemie weiterlaufen. Eine groß angelegte Impfkampagne ist nicht in Sicht.

Die Infektionszahlen steigen unaufhörlich, die 7-Tage-Inzidenz liegt in einigen Landkreisen bereits bei über 1.000 Infizierten auf 100.000 Einwohner:innen. Manche Krankenhäuser wie in München bereiten sich auf die Triage vor, also Situationen, in denen nicht alle Patient:innen gleichzeitig behandelt werden können. Längst werden Patient:innen in andere Bundesländer oder zum Teil sogar in andere europäische Länder verschoben, weil es keine Kapazitäten mehr gibt.

Nachdem die Bundes- und Landesregierungen lange weitgehend tatenlos die steigenden Zahlen beobachteten, haben sie nun erstmals umfangreiche Maßnahmen ergriffen. Dazu zählen unter anderem:

  • Eine allgemeine 2G-Regel in den Bereichen Kultur, Freizeit und Sport
  • 3G-Regel am Arbeitsplatz sowie Bus und Bahn
  • Homeoffice-Pflicht mit „betriebsbedingten“ Ausnahmen

Eine Impfpflicht für bestimmte Bereiche wie dem Gesundheitswesen wurde noch nicht verabschiedet, dürfte aber in den nächsten Wochen kommen. In Österreich ist sie schon Realität, genauso wie der Lockdown. Einzelne Bundesländer in Deutschland können auch strengere Regeln erlassen. So etwa in Bayern; dort müssen ab Mittwoch Bars und Clubs schließen, Gastronomie darf nur bis 22 Uhr offen bleiben. Zudem gelten Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und eine Ausweitung von 2G und 2G Plus etwa auch auf Friseursalons oder Hochschulen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder spricht von einem „De-facto-Lockdown für Ungeimpfte im ganzen Land“. In Landkreisen mit einer Inzidenz von über 1.000 muss laut Söder „alles geschlossen werden.“

Damit meint er allerdings keineswegs die wichtigsten Sektoren der Mehrwertproduktion. Wie auch in früheren Lockdowns wird das Freizeitverhalten massiv eingeschränkt: Sport, Gastronomie, Kulturveranstaltungen sind dann verboten. Aber die Arbeit geht ganz normal weiter: Kitas, Schulen, Handel und Fabriken bleiben offen. In den Büros gibt es zwar die Homeoffice-Pflicht, aber nur dort, wo die Betriebsabläufe es zulassen. Ob die Arbeit tatsächlich im Büro stattfinden muss, bleibt letztlich eine Abwägung der Unternehmen.

Die Zeche für den Lockdown sollen erneut die Lohnabhängigen zahlen. Die Gehälter werden weiterhin durch Kurzarbeit nach unten gedrückt, während die Regierung die „Fixkostenhilfen für Unternehmen und Selbstständige“ um drei Monate bis Ende März 2022 verlängert hat. In der Pflege gibt es weder nennenswerte Lohnerhöhungen, noch eine festgeschrieben Corona-Bonus. Kein Wunder also, dass so viele Pflegekräfte aufgeben.

Forscher:innen der Uni Potsdam haben berechnet, dass es bis Ende Dezember 400.000 Neuinfektionen täglich geben könnte, wenn sich die Impfquote nicht verändere und Kontakte nicht eingeschränkt würden. Beides will die Regierung nun angehen, aber äußerst zögerlich. Wie schon in früheren Wellen hatte sie keinerlei Konzept, um ein solches Infektionsgeschehen gar nicht erst zuzulassen. Test- und Impfzentren wurden im Spätsommer geschlossen. Seit Jahresbeginn ist die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten um 4.000 zurückgegangen, weil überlastete Pflegekräfte gekündigt haben. In Sachsen wurde gerade das Arbeitszeitgesetz gelockert, damit sie noch mehr über ihr Limit gehen müssen.

Weiterhin sind 15 Millionen Erwachsene in Deutschland ungeimpft. Medien und Politik geben zumeist ihnen die Schuld an den rasant steigenden Corona-Zahlen. Doch einen Plan, wie sich die Impfquote tatsächlich steigern lässt, haben sie nicht. Die Politik setzt auf Druck: Ungeimpfte sollen zunehmend vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Wenn es tatsächlich zur Impfpflicht kommt, drohen Kündigungen. Mit den neuen Regeln ist es für Ungeimpfte verpflichtend, sich von medizinischem Personal testen zu lassen, um die Öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen und zur Arbeit zu gehen. Aber nachdem die Regierung die Tests noch vor wenigen Wochen kostenpflichtig machte, ist das Angebot deutlich eingeschränkt und muss erst wieder aufgebaut werden. Selbst wer sich jetzt überzeugen lässt zu impfen, muss  erstmal wieder auf lange Wartelisten. In Berlin dauert es 1,5 Monate bis zum Impftermin. Die Folge: Ungeimpfte dürften etwa im Nahverkehr mit Polizei und Securities konfrontiert werden.

Der bürgerliche Staat setzt auf Repression, aber Angebote liefert er kaum. Auch für die Impfungen setzt sie weiterhin darauf, dass die Menschen schon von sich aus zu den Ärzt:innen und Impfzentren gehen. Stattdessen wäre es nötig, Ungeimpften per Post Impftermine anzubieten, oder auch mobile Impfteams von Tür zu Tür schicken und auf allen öffentlichen Plätzen, an Bahnhöfen und Supermärkten Tests und Impfungen zu ermöglichen, um dadurch die Impfquote und auch die Zahl der Booster-Impfungen schnellstmöglich zu steigern.

Zum wiederholten Male gerät der Regierung die Pandemie außer Kontrolle. Sie lässt den wirtschaftlichen Betrieb weiter laufen und schiebt die Verantwortung für die unzureichende Impfquote auf individuelles Verhalten. Wieder wird das Privatleben massiv eingeschränkt, während für die Gewinne der Unternehmen der tägliche Betrieb weiterläuft. Weiterhin stehen dutzende Menschen in den Werkhallen nebeneinander oder fahren dicht gedrängt zur Arbeit, um Güter zu produzieren, die nicht unmittelbar notwendig sind.

Aktuell laufen die Verhandlungen für den Tarifvertrag der Länder, unter den auch viele Krankenhäuser fallen, sowie weitere zentrale Bereiche der öffentlichen Daseinsversorgung. Höchste Zeit, dass die Pandemiepolitik der Regierung und die nötige Antwort der Arbeiter:innen auch in die Tarifkampagne Einzug hält.

Anstatt auf Repressionsdrohungen wie Entlassungen zu setzen und sich damit auf die Seite der Bosse zu schlagen, ist es notwendig, dass sich die Beschäftigten und Lernenden an den Arbeitsplätzen, Schulen und Unis zusammentun, um selbst ausreichende Hygienemaßnahmen durchzusetzen und zu kontrollieren – und wenn nötig auch, mithilfe der Gewerkschaften, Schließungen zu erzwingen.

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