Für das Recht auf Selbstbestimmung: Gegen die koloniale Unterdrückung Neukaledoniens

24.05.2024, Lesezeit 8 Min.
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Fahne des Kanak-Volkes. Foto: Touristing / Flickr.com

Der Plan der französischen Regierung, in der Kolonie Neukaledonien das Wahlrecht zu ändern, löste eine heftige Revolte aus. Gegen die koloniale Unterdrückung Frankreichs unterstützt unsere französische Schwesterorganisation Révolution Permanente (RP) den Kampf für die Unabhängigkeit. Wir spiegeln hier ihre Erklärung.

Nachdem die französische Regierung von Emmanuel Macron und Gabriel Attal entschieden hat, das Wahlrecht zu ändern, erlebt die Inselgruppe im Pazifik eine starke Mobilisierung des Kanak-Volkes und Melanesier. Macron weicht damit von den Vereinbarungen ab, die seit den 1980er Jahren zwischen Paris und der Unabhängigkeitsbewegungen in Kanaky (Neukaledonien) getroffenen wurden.

Seit letzter Woche gibt es eine Revolte eines Teils der Jugend der Insel. Die Reaktion des Staates und der neukaledonischen Milizen führt zu einer Situation, die manche als bürgerkriegsähnlich bezeichnen. Die Schuld liegt bei der französischen Regierung, ihren lokalen Verbindungsleuten und der neukaledonischen Bourgeoisie. Sie weigern sich, ein echtes Recht auf Selbstbestimmung für die Inselgruppe in Betracht zu ziehen. Diese liegt 17.500 Kilometer von Paris entfernt und ist seit 1853 eine französische Kolonie.

Ab den 1970er Jahren kämpften Befürworter:innen der Unabhängigkeit um die Inselgruppe. Seit 2018 gab es bereits drei Referenden über ihre Zukunft. Das letzte wurde während der Covid-Krise von Macron organisiert, gegen den Willen der Unabhängigkeitskräfte, die es boykottierten, was zu einer Wahlbeteiligung von nur 44 Prozent führte. Mit der Änderung des Wahlrechts will Paris die Zugehörigkeit des Archipels und seinen kolonialen Status sichern. Dies soll erreicht werden, indem die Wählerschaft auf Personen ausgeweitet wird, die nicht auf dem Archipel geboren sind.

Marcon verhängt den Notstand

Angesichts dieses antidemokratischen Aktes riefen die politischen und gewerkschaftlichen Strömungen der Unabhängigkeitsbewegung zu Mobilisierungen auf. Ab dem 13. Mai nahmen die Demonstrationen und Blockaden zu, besonders auf Aufruf der Koordinierungsinstanz CCAT, die von der Unabhängigkeitsbewegung FLNKS angeregt wurde. Die Intensität der Proteste stieg, nachdem das Parlament in Paris dafür stimmte, die Wahlbedingungen aufzuweichen.

Tausende mobilisierte Jugendliche und Arbeiter:innen, weitgehend unterstützt von der indigenen Bevölkerung, stießen auf Polizei- und Gendarmeriekräfte sowie Milizen von neukaledonischen Siedler:innen und Großstädter:innen, die die Repressionskräfte entweder gewähren ließen oder sogar unterstützten. Die Bilanz war für die kanakische Bevölkerung schwer: mindestens drei getötete Demonstrant:innen, Hunderte Verletzte, fast 200 Festnahmen und mindestens fünf CCAT-Führer unter Hausarrest.

Am 15. Mai verkündete Macron den Notstand, was der Regierung ermöglichte, einen Ausnahmezustand zu verhängen. Paris ordnete die Stationierung militärischer Verstärkungen an den Häfen und am Flughafen von Nouméa an. Spezialeinsatzkräfte wie CRS 8, GIGN und RAID wurden von Paris aus entsandt, um die Bewegung niederzuschlagen.

In Frankreich berichten die wichtigsten Medien über die „Hilferufe“ der loyalistischen Kräfte und des Kommissars der Republik vor Ort, der ein Nachfolger des ehemaligen Kolonialgouverneurs ist. Die Medien geben dem Diskurs der Kolonialherren Raum, stellen ihre Milizen als Bollwerke gegen das Chaos dar und stigmatisieren die kanakischen „Aufständischen“ sowie die CCAT. Dieser Diskurs stimmt mit dem des französischen Staates überein. Gleichzeitig werden soziale Netzwerke wie TikTok in einer noch nie dagewesenen Weise zensiert, um die Verbreitung von Informationen über die Situation zu verhindern. Alles wird orchestriert, damit die Bevölkerung die koloniale und rassistische Unterdrückung einer Mobilisierung mitträgt, die sich gegen diese koloniale Ordnung richtet.

Die französischen Medien zeigen in Endlosschleife Bilder der „Schäden“ in den wichtigsten Industrie- und Handelszonen des Südens, die durch die Mobilisierung entstanden sind. Sie verschweigen dabei die enormen Einkommensunterschiede zwischen Kanak-Volk, Neukaledonier:innen und Großstädter:innen, die hohe Arbeitslosenquote, die besonders die kanakakische Bevölkerung betrifft, sowie die Ungleichheit beim Zugang zu Bildung, Ausbildung und Gesundheit. Ebenso verschwiegen werden die Auswirkungen der großen Bergbauprojekte auf das Leben der Gemeinden und die unglaubliche Konzentration des Reichtums in den Händen weniger großer Siedlerfamilien. All dies sind Zeichen für die Beständigkeit eines kolonialen Modells, das seit anderthalb Jahrhunderten auf Landraub, Ausbeutung der natürlichen Reichtümer, Unterdrückung und Rassismus beruht.

Von Frankreich aus müssen sich die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und der Jugend mit den Mobilisierungen der kanakischen Bevölkerung vor Ort solidarisieren, die Kolonialpolitik von Paris, den von Macron eingeführten Ausnahmezustand, die Unterdrückung der Mobilisierung und die damit verbundenen Morde, Verletzten und Festgenommenen anprangern. Es gilt, die Rücknahme der Wahlreform zu fordern und das Recht auf Selbstbestimmung in Kanaky zu verteidigen.

Der Indopazifik: Eine strategische Region für den französischen Imperialismus

Der französische Imperialismus hat in den letzten Jahren in seinem francafrikanischen Vorfeld eine Reihe von Rückschlägen erlitten. In Frankreich hat sich die Arbeiter:innenbewegung massiv gegen die pro-unternehmerische Politik der aufeinanderfolgenden Regierungen gewehrt, ohne diese jedoch zurückdrängen zu können. Erst letzten Sommer, nach der großen Rentenbewegung, hat sich die Jugend in den Arbeiter:innenvierteln gegen die Polizeigewalt und rassistische Gewalt erhoben. Die französische Bourgeoisie, die im Pazifik ihre Positionen gegenüber ihren Partner:innen oder Konkurrent:innen verteidigt, kann eine wesentliche Änderung der kolonialen Ordnung in Kanaky nicht zulassen, eine Inselgruppe, die zudem über bedeutende Naturreichtümer verfügt,

Der Indopazifik gewinnt an Bedeutung, dies macht Kanaky zu einem strategischen Schlüsselgebiet für Frankreich. 1,4 Millionen Quadratkilometer der Ausschließlichen Wirtschaftszone konzentrieren sich im Seegebiet von Kanaky, das zusammen mit Australien die größte Seegrenze Frankreichs weltweit darstellt. Frankreich verfügt außerdem über ständige militärische Truppen (1450 Soldat:innenen in der FANC) und zahlreiche Verteidigungsabkommen in der Region. Die von Emmanuel Macron verteidigte angebliche „strategische Autonomie“ hat konkret zur Folge, dass die Unterdrückung des Kanak-Volkes zunimmt, ohne die Frankreich nicht in der Lage wäre, seine internationalen Interessen zu verteidigen und eine Schlüsselrolle in der Konfrontation mit China zu beanspruchen. Dies erklärt die von Macron angestrebte Reform des Wahlrechts und die Gewalt der derzeitigen Repression.

Natürlich unterstützen die französischen Rechten und die extremen Rechten die Regierung und fordern sie sogar auf, die Repressionen zu verstärken. Auf der „Linken“ ruft Raphaël Glucksmann zur „Wiederherstellung der republikanischen Ordnung“ auf. Andere, die etwas weniger reaktionär sind, begnügen sich mit leeren Aufrufen zu Ruhe und Frieden und vergessen dabei völlig, dass eine Rückkehr zum Status quo in Neukaledonien bedeuten würde, einen ungerechten Frieden zugunsten von Paris und seinen lokalen Verbindungsleuten gegen die Interessen des Kanak-Volkes, der Arbeiter:innenklasse und der Jugend des Archipels durchzusetzen.

Angesichts der Unterdrückung der Mobilisierung und der Kriminalisierung der radikalen politischen Strömungen der Unabhängigkeitsbewegung sendet unsere französische Schwesterorganisation Révolution Permanente ihre volle Unterstützung an das Kanak-Volk, die Unterdrückten und die Demonstrant:innen, deren Recht auf Selbstverteidigung und Widerstand gegen eine koloniale Ordnung und die neukaledonischen Milizen unbestreitbar ist. Révolution Permanente steht in Frankreich allen Initiativen zur Verfügung, die sich aktiv mit dem laufenden Kampf in Neukaledonien solidarisieren. Wir sind davon überzeugt, dass der Kampf gegen den Kolonialismus in Kanaky untrennbar mit dem revolutionären Kampf verbunden ist, den wir gegen das Kapital und seine Regierung in Frankreich führen.

Jeder Sieg der Regierung gegen das Kanak-Volk würde einen Sieg von Macron gegen die Arbeiter:innenschaft und die Jugend in Frankreich bedeuten. Umgekehrt, wenn es der Mobilisierung in Kanaky gelingt, Macron und die neukaledonische Bourgeoisie zurückzudrängen, wäre das ein Sieg für unsere nächsten Auseinandersetzungen hier gegen diese Regierung und die Kapitalist:innen. Es wäre auch ein Sieg für alle derzeit kolonisierten Völker auf der ganzen Welt.

In diesem Sinne können die Organisationen der Arbeiter:innen- und Jugendbewegung, die Organisationen der politischen und gewerkschaftlichen Linken, die gegen den aktuellen Völkermord in Palästina mobilisierte Jugend eine neue koloniale Operation, die diesmal direkt vom französischen Imperialismus durchgeführt wird, nicht tolerieren. Alle zusammen müssen wir zur sofortigen Beendigung der kolonialen, polizeilichen und militärischen Repression und der Kriminalisierung der Kanak-Bewegung aufrufen und die Aufhebung des Ausnahmezustands sowie die Achtung des elementaren Selbstbestimmungsrechts von Kanaky fordern, was die Rücknahme jeglicher Reform des Wahlrechts voraussetzt.

Nieder mit Frankreichs kolonialer Unterdrückung in Neukaledonien!

Gegen den Ausnahmezustand, den Einsatz der Armee und die neukaledonischen Milizen!

Für das Recht auf Selbstbestimmung!

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