Für 1,5 Cent pro gesehener Stunde

11.10.2021, Lesezeit 9 Min.
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Twitch-Leak Foto: Manuel Albrecht-Becker

Im Oktober wurden geleakte Daten der zum Amazon-Konzern gehörigen Streamingplattform Twitch veröffentlicht. Ein Teil dieser Daten gibt Einblick in die Einkünfte der Streamer:innen. Sei zeigen nicht nur eine große Ungleichheit, sondern lassen auch Rückschlüsse ziehen, wie das Leben der neuen "Popstars im Plattformkapitalismus" aussieht. Wir haben uns durch die Zahlen gewühlt.

Twitch ist ein Videoportal für Livestreams, das seit 2011 vor allem gern genutzt wird um Computerspiele zu streamen. Viele Millionen, hauptsächlich junge Erwachsene, Jugendliche und Kinder, sehen sich Liveübertragungen davon an, wie mehr oder weniger bekannte Streamer:innen Computerspiele spielen und kommentieren. Ebenso populär sind Streams in denen die Akteure auf YouTube Videos “reagieren”. Gemeinsam mit den Zuschauer:innen werden Videos geschaut und an bestimmten Stellen kommentiert. Ihre Stars erfüllen – obwohl es auch gravierende Unterschiede gibt – etwa die kulturelle Funktion der Fernsehstars um die 2000er Jahre. Man beschäftigt sich täglich mit ihnen, versteht sie durch ihre Äußerungen immer besser, lernt etwas von dem, was sie erzählen, freut und ärgert sich mit ihnen. Nicht selten fühlen sich Zuschauer:innen mit ihren Lieblingsstreamer:innen emotional verbunden. Bei denjenigen, die aus ihrem Schlafzimmer senden und viel aus ihrem eigenen Leben erzählen, kommt das natürlich am häufigsten vor.

Für Kinder und Jugendliche, die der Generation angehören, die derzeit oder demnächst in die Schule geht, gehören Streamer:innen zu den wichtigsten Bezugsfiguren, ein Rang, den sie den Film-, Fernseh- und Popstars längst streitig machen. Also gehört Streamer:in zu den beliebtesten Berufswünschen unter Kindern und Jugendlichen. Und warum auch nicht? Man braucht kein Studium und keine Ausbildung für diese Tätigkeit, nicht einmal gute Schulnoten. Es gibt kein Bewerbungsverfahren, auch Beziehungen sind nicht nötig. Seine Hobbys kann man zum Beruf machen und selbstbestimmt kann gesteuert werden, was man sendet, wann und wieviel. Verlockend ist für viele auch der Fakt, dass sich schon einige Streamer:innen aus bescheidenen Verhältnissen in den letzten Jahren einen gewissen Reichtum anhäufen konnten.

Ein Blick auf den Gipfel

Das Geschäftsmodell von Twitch funktioniert über Werbung und Abonnements. Streams werden von Werbespots eingeleitet und zuweilen auch unterbrochen. Erfolgreiche Streamingkonten, die regelmäßig senden, dürfen außerdem eine Partnerschaft mit der Plattform abschließen. Solche Partnerschaftskonten können von ihren registrierten Fans in drei Stufen für 3,99€, 7,99 Euro oder 19,99 Euro pro Monat abonniert werden. Twitch gibt die Hälfte dieser Beträge an die Streamer:innen weiter und beteiligt sie an den Werbeeinnahmen. Für das Unternehmen ist das ein lukratives Geschäft. Aber wer tausende solcher Abonnent:innen hat, verdient daran auch nicht schlecht. Doch wie viele der etwa neun Millionen Streamer:innen bekommen diese Gelegenheit eigentlich?

Der Twitchleak, in dem 128 Gigabyte Daten veröffentlicht wurden, gehört zu den größten Datenlecks der Wirtschaftsgeschichte. Er umfasst unter anderem die Programmcodes der Server- und Clientsoftware mitsamt nachvollziehbaren Entwicklungsschritten bis in die frühen Tage der Plattform, Kontodaten (keine Passwörter) von Millionen Nutzer:innen, interne Sicherheitstools sowie ein weiterer Programmcode zu einer bislang unveröffentlichten Softwareplattform, die mit Steam konkurrieren soll. Auch zirkuliert eine Liste der 10.000 Streamer:innen mit den größten Auszahlungen des Unternehmens über die letzten zwei Jahre. In ihr stehen die Auszahlungen durch Twitch in Dollar vor Steuern. Betroffene haben die Korrektheit dieser Angaben bereits bestätigt. Darüber hinaus liegen die Größenordnungen in plausiblen Verhältnissen zu bekannten Zahlen. Außerdem präzisiert die Liste einige schon bekannte Tatsachen. Den Spitzenplatz der Liste belegt dabei gar kein Computerspielstream, sondern die Rollenspiel-Webserie „Critical Role“. 9,6 Millionen Dollar gingen in zwei Jahren an die professionelle Produktionsfirma, die hinter dem Kanal steht. Für den frauenfeindlichen Rassisten MontanaBlack88 alias Marcel Thomas Andreas Eris wurden in zwei Jahren 2,4 Millionen Dollar ausgegeben. Mehrmals war Eris für seine Äußerungen kurzzeitig von Twitch gesperrt worden, aber wie wir sehen, lohnt es sich für die Plattform nicht, konsequent gegen Rassismus und Sexismus vorzugehen. Also ist er als erstplatzierter deutscher Streamer auf Platz 17 aller Spitzenverdiener:innen auf Twitch.

Noch vor „Monte“ liegt Hasan Doğan Piker, der vielen als sozialistischer Streamer HasanAbi bekannt ist. Mit 2,8 Millionen Dollar in zwei Jahren kommt er auf Platz 13 der Liste. Der in Deutschland beliebte Kanal GRONKH steht auf Platz 42 mit 1,5 Millionen Dollar in zwei Jahren – drei Ränge hinter pokimane, der erstplatzierten Frau. Der über die jugendliche Internetfilterblase hinaus bekannt gewordene Rezo steht dagegen nur auf Platz 4.343 und bekam 51.305 Dollar in zwei Jahren abgerechnet. Das muss ihn nicht weiter stören, weil er ebenso wie Erik „Gronkh“ Range seine Einnahmen hauptsächlich als Youtube-Partner macht. Doch bemerkenswert ist das für etwas anderes: Seine Platzierung befindet sich noch in der vorderen Hälfte der oberen Zehntausend unter den Twitchkanälen, aber 51.305 Dollar in zwei Jahren entsprechen etwa 1.850 Euro pro Monat – brutto. Ging diese Liste nicht mit Einnahmen im Bereich von Multimillionen los?

Der tiefe Abgrund hinter der Fassade

Tatsächlich belegt die geleakte Liste, dass nur den obersten 4.862 Streamingkonten im Monatsdurchschnitt mehr als 1.664 Euro brutto gezahlt wird. Das wäre derzeit der deutsche Mindestlohn für einen Vollzeitjob. Im Monat über 100 Stunden zu streamen ist für verpartnerte Streamer:innen üblich. Dazu muss „unsichtbare“ Arbeit an der eigenen Onlinepräsenz, beim technischen Aufbau und mehr geleistet werden, sodass viele eine helfende Person oder ein Team hinter sich haben, weil eine Vollzeitarbeit für einen erfolgreichen Kanal nicht ausreicht. Noch unter den 10.000 meistverdienenden Streamer:innen stehen aber mehrere, die umgerechnet nicht einmal auf 900 Euro brutto pro Monat hoffen dürfen. Wenige davon sind so bekannt, dass sie das wie Gronkh oder Rezo als Nebenjob ansehen könnten.

Insgesamt hat Twitch in 2 Jahren etwa 1 Milliarde Dollar für seine Streamer:innen ausgegeben. In derselben Zeit wurden etwa 36 Milliarden Stunden Streams auf Twitch geschaut. Das heißt, der durchschnittliche Twitchstream bringt ungefähr 3 Cent pro gesehener Stunde, 1,5 Cent für Twitch, 1,5 Cent für den Kanal. Weltbekannte Shows wie „Critical Role“ bekommen wesentlich mehr als diesen Durchschnitt und können über zusätzliche Werbeverträge und weitere Partnerschaften ihr ohnehin reichliches Einkommen weiter aufbessern. Aber welche Firma schaltet schon Werbung bei jemandem mit einer Handvoll Abonnenten?

Der schöne Schein der großen Stars trügt also: Für die meisten der 10.000 Bestverdiener  auf Twitch ist es harte und schlecht bezahlte Arbeit. Von Urlaub, Krankenversicherung und Rente fangen wir besser gar nicht erst an. Die Lebensrealität der neun Millionen, die noch hinter den Top 10.000 streamen, läuft also noch ferner vom lustigen Leben der bekanntesten Promis, als das im Film- und Fernsehgeschäft der Fall ist.

Muss man demnach Spaß am Streamen haben, damit es sich rechnet? Den Traumberuf Influencer:in eher als bezahltes Hobby ansehen? Ist im Onlinestreaming einfach nicht genug zu holen, um Millionen Menschen damit zu ernähren? Plattformarbeit also einmal mehr eher eine Art Community, die man für Freude und nicht für Geld weiterbringt?

Für wen streamen die Streams?

Wenn von den Abogebühren nur die Hälfte an die Streamer:innen geht und sie auch von Twitchs Werbeeinnahmen nur einen Teil erhalten, haben die 36 Milliarden Stunden in zwei Jahren mindestens eine Milliarde Dollar für Twitch eingebracht, die nicht an die Streamer:innen gehen. Das ist noch kein Reingewinn, sicherlich gibt es noch weitere Personalkosten, Mieten und andere Ausgaben. Eine Milliarde Dollar kosten diese Dinge jedoch nicht. Dieses Verhältnis zwischen Einnahmen des Unternehmens, Auszahlungen an die größten Streamer:innen und Auszahlungen an alle anderen dürfte sich nicht allzu stark von dem bei anderen Streamingplattformen unterscheiden. Doch nicht nur läuft das Geschäft: Wie der Leak ja auch zeigt, verfügt Twitch über die Ressourcen, obendrein einen Steam-Konkurrenten zu entwickeln. Wie sollen wohl die Projekte bezahlt werden, die mal ihre Computerspiele darauf anbieten wollen?

Jedenfalls müssen wir verstehen, dass Twitch Eigentum des Konzerns Amazon ist und Amazon Jeff Bezos gehört, dem zweitreichsten Menschen in der Geschichte der Welt. Wir haben es beim Streaminggeschäft mit einem weiteren Auswuchs des Plattformkapitalismus zu tun, in dem nicht einmal sichere Arbeitsverträge, geschweige denn der Wert der geleisteten Arbeit denen angeboten werden, auf deren Schultern das ganze Unternehmen lastet. Twitch lässt nicht eine Horde prekärer Jugendlicher für sich streamen, obwohl es ihnen ein gutes Leben finanzieren könnte, sondern ist einer der wirtschaftlichsten Internetdienste, weil es seine Kreativen unerbittlich auspresst. Amazon betreibt Twitch nicht auf diese Weise, obwohl es auch mit fairen Arbeitsbedingungen laufen würde, sondern greift gerade deshalb den größten Teil des produzierten Werts ab, weil sich die Streamingplattform so am meisten lohnt. Jeff Bezos ist nicht der zweitreichste Mensch der Welt, obwohl, sondern gerade weil so viele seinetwegen in Armut leben.

Einmal mehr zeigt der Twitchleak, dass die Versprechungen eines besseren Lebens durch die technologische Entwicklung nicht erfüllt werden können. Wie fortgeschritten die Technologie auch ist: Für Arbeit wird soviel bezahlt, wie erkämpft wird, und alles andere schöpfen diejenigen ab, denen der Laden gehört, solange der Kapitalismus noch besteht. Tarifverträge für die Belegschaften in der Film- und Fernsehbranche, die ganze Existenz von Eröffnungs- und Schlusscredits in Vor- und Abspännen sind das Resultat von Arbeitskämpfen. Die Lehre aus der Topliste im Twitchleak muss also sein, dass wir den Wert unserer Arbeit wahrnehmen, dass wir über unsere Arbeits- und Lebensbedingungen sprechen und dass wir uns gegen die Kapitalist*innen organisieren müssen, um unsere Ausbeutung zu stoppen.

 

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