Fünf Fakten, um die Krise im Spanischen Staat zu verstehen
Diego Lotito und Santiago Lupe erklären in fünf Punkten das Labyrinth der Krise des spanischen Regimes.
Die vergangenen Wochen endeten mit einem erneuten Kapitel der langanhaltenden Krise des politischen Regimes des Spanischen Staates. Am Dienstag, den 12. Februar, begann der politisch motivierte Gerichtsprozess gegen die Anführer*innen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Ein Prozess, der durch die systematische Verletzung der Verteidigungsrechte der Angeklagten gekennzeichnet ist. Die Vorwürfe von „Rebellion“ und „Aufruhr“ implizieren Freiheitsstrafen von bis zu 25 Jahren, welche allein auf Aussagen eines Offiziers der Guardia Civil basieren, einem bekannten Rechtsextremen, der Demonstrationen, Tweets und Reden zu schweren Straftaten macht.
Die Regierung von Pedro Sánchez handelt als Anklägerin mittels eigener Anwält*innen. Sie tut dies gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft – deren Staatsanwält*innen von der PSOE und PP selbst gewählt wurden – und einer „Volksanklage“, vertreten durch die rechtsextreme Partei Vox. Alles in allem ein Beweis dafür, dass der einzig akzeptable Weg für alle Akteur*innen des Regimes, die katalanische Frage zu lösen, darin besteht, sie mittels repressiven Maßnahmen zu zerschlagen.
Die territoriale Krise ist nach wie vor das dynamischste Element der Krise des spanischen Regimes von 1978, aber auch eine andere grundlegende Komponente des Regimes gerät immer mehr in die Krise: Das parlamentarische Regime wird immer fragiler und beweist seine Unfähigkeit, eine ausreichende Mehrheit für eine stabile Regierung zu erreichen.
Einen Tag nach Prozessbeginn gegen den katalanischen „procés“ [den Prozess zur Schaffung einer Republik, A.d.Ü.] erlitt die PSOE im Parlament eine heftige Niederlage. Die Stimmen der katalanischen Unabhängigkeitsorganisationen haben die Haushaltspläne der Regierung zum Scheitern gebracht. Noch im Juni vergangenen Jahres hatten sie zusammen mit den Stimmen von Unidos Podemos den Misstrauensantrag unterstützt, mit dem Pedro Sánchez Mariano Rajoy aus dem Amt vertrieben hatte.
Die Antwort auf das Scheitern der Haushaltsabstimmung war der Aufruf zu vorgezogenen Wahlen am 28. April, kaum zehn Monate nach der Regierungsbildung. Die Prognosen deuten auf ein atomisiertes Parlament hin. Es gibt die Möglichkeit einer Regierung der Rechten und der extremen Rechten – die vor Kurzem in Andalusien eine Regierung aus PP und Ciudadanos (unterstützt von Vox) hervorbrachte –, während die PSOE nur schwachen Rückhalt hat und Podemos tief in der Krise steckt. Vor diesem Hintergrund verschärft sich die Krise des spanischen Regimes unaufhaltsam. Hier fassen wir fünf Punkte zusammen, um uns in diesem Labyrinth nicht zu verlieren.
1. Organische Krise
Der Spanische Staat befindet sich seit 2011 in einer organischen Krise. Das heißt eine wirtschaftliche, politische und soziale Krise, angesichts derer die üblichen Lösungsmechanismen der Bourgeoisie nicht mehr greifen. Das aus dem Übergangsprozess zur Demokratie von 1978 entstandene politische Regime war für die iberische Bourgeoisie ein erfolgreiches Unternehmen. Es ermöglichte ihr, die Krise der Franco-Diktatur unter Mitwirkung der Führungen der Arbeiter*innenklasse zu überwinden, die Auswirkungen der Krise der 70er Jahre auf die Arbeiter*innenklasse abzuwälzen, einen Ausweg aus der nationalen Frage mittels Autonomiestatuten zu finden und, vor allem, seit Ende der 90er Jahre unvergleichliche Ausmaße von Wachstumsraten, Integration in die EU und imperialistischer Expansion zu erreichen.
Aber dieses „spanische Wunder“ endete mit der Krise von 2008, von welcher der spanische Kapitalismus einer der Hauptgeschädigten war. Obwohl sich die Unternehmensgewinne und das BIP ein Jahrzehnt später wieder auf das Niveau von vor der Krise erholt haben, liegen alle sozialen Indikatoren noch sehr weit zurück: angefangen bei der Arbeitslosigkeit, die bei 15% liegt, über Löhne, die bis zu einem Drittel der Kaufkraft verloren haben – insbesondere in den unteren Sektoren -, bis hin zur Ausdehnung prekärer Arbeitsplätze und weiterer Krisenmomente wie Energiepreisen oder Haus- und Mietpreisen.
Die materielle Basis, die den 78er-Konsens „schmierte“, hat sich trotz der jüngsten Wachstumszahlen nicht erholt, während sich die politische Krise weiter verschärft hat. Die Repräsentationskrise, die das Parteiensystem seit dem 15. Mai 2011 durchrüttelte, aktualisiert sich mit der Atomisierung der Rechten und dem Scheitern der PSOE und dem Neoreformismus von Podemos wieder.
In der letzten Periode haben sich zentrale Institutionen wie die Justiz und das Königshaus mit dieser Krise angesteckt. Während 2011 der Ausruf „Sie repräsentieren uns nicht!“ noch die Wahrnehmung zum Ausdruck brachte, einer Demokratie für die Reichen unterworfen zu sein, wird heute auch die Judikative dazu gezählt. Die Justiz hat nach Belieben Urteile zugunsten korrupter Politiker*innen und Geschäftsleute sowie anderer skandalöser Handlungen erlassen, Vergewaltiger mit Seidenhandschuhen behandelt und die Opfer kriminalisiert. Darüber hinaus ist sie im katalanischen „procés“ zum Hauptinstrument der Eskalation von Repression und Verfolgung geworden, sowohl gegen die Unabhängigkeitsbewegung als auch gegen Journalist*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen im ganzen Staat.
Die Monarchie ist als letzte Akteurin dazu gekommen. Die Abdankung von Juan Carlos I. zugunsten seines Sohnes Felipe VI. ermöglichte ihr eine gewisse Ruhe, die durch die Weigerung von Podemos, die Debatte über die „Staatsform“ in seine Agenda aufzunehmen, begünstigt wurde. Das Engagement des Königs für die Repression in Katalonien und die jüngsten Skandale, die den emeritierten König erschüttern, haben die Monarchie jedoch wieder stärker diskreditiert. Dies ist vor allem bei den jüngeren Generationen zu beobachten, wie die Bewegung der Volksabstimmungen über die Monarchie zeigt, die sich auf mehr als 60% der Universitäten ausgedehnt hat und an der bereits mehr als 70.000 Studierende teilgenommen haben.
In einem zerfallenden Regime sind die Rezepte für seine „Wiederbelebung“ vielfältig. Dabei hat jeder sein eigenes Rezept und stets steht die eigene Rettung an erster Stelle. Dies, gemeinsam mit den bestehenden Hindernissen zur Verallgemeinerung und Vertiefung von Erfahrungen der Unabhängigkeit der Arbeiter*innen, erklärt das „katastrophale Patt“, der sich seit acht langen Jahren hinzieht.
2. Die nationale Frage
Eine noch völlig offene Reibungslinie ist die katalanische Frage. Die 2011 eröffnete Krise hatte in Katalonien einen besonderen Ausdruck, wo eine massive Bewegung für das Recht auf Selbstbestimmung wieder auflebte. Seit 2012 hat die Unabhängigkeitsbewegung massive Demonstrationen von Hunderttausenden Teilnehmer*innen veranstaltet, eine symbolische Abstimmung im Jahr 2014, an der fast zwei Millionen Menschen teilnahmen, durchgeführt, und nach verschiedenen Umfragen spricht sich 80% der katalanischen Bevölkerung für das Recht auf eigene Entscheidung aus.
Die historischen Parteien der katalanischen Bourgeoisie – Convergencia und ERC – beschlossen, eine führende Rolle in der Bewegung für die Unabhängigkeit einzunehmen. Einerseits mit der Absicht, eine Neuverhandlung des Autonomiepaktes zu erzwingen – der 2010 vom Verfassungsgericht beschnitten wurde und von den zentralisierenden Absichten des Zweiparteiensystems bedroht ist. Andererseits um zu verhindern, dass die Bewegung einen eigenständigen Kurs einschlägt, dabei mit den seit der 15M-Bewegung erhobenen sozialen Forderungen zusammenfließt und die Gefahr entsteht, die eigene Führung überholt zu sehen.
Trotz der Verzögerungstaktik der bürgerlichen Führung wurde schließlich am 1. Oktober 2017 ein Referendum zur Selbstbestimmung durchgeführt, welches durch die massive Mobilisierung von Hunderttausenden, die die Wahlkollegien besetzten und verteidigten, gewährleistet wurde. Zwei Tage später erfolgte ein 24-stündiger Generalstreik mit historischer Größe und Mobilisierungen, die in Barcelona bis zu 700.000 Teilnehmer*innen versammelten.
Der „katalanische Herbst“ war der größte Affront gegen den Spanischen Staat, das Regime von 1978 und die Krone seit der „Transición“, der Übergangsperiode zur Demokratie. Das Regime sprach sich offen für die polizeiliche Unterdrückung des Referendums und die vorläufige Aufhebung der katalanischen Autonomie aus. Die bürgerlichen katalanischen Führungen verhinderten jedoch, dass die Mobilisierung und die Elemente von Selbstorganisation wirklich den Mehrheitswillen, der sich am 1. Oktober 2017 ausgedrückt hatten, sich mit der Bildung einer unabhängigen Republik entfalten konnten.
Nachdem sie sie symbolisch verkündet hatten, entschieden sie sich für den Rückzug und ein großer Teil ihrer Vertreter*innen, angefangen mit dem Präsidenten der Generalitat, Carles Puigdemont, ging ins Exil.
Auf diese Kapitulation folgte die Anwendung des Artikels 155 der spanischen Verfassung, der den Eingriff des Zentralstaates und die Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung ermöglichte. Inzwischen stehen deshalb mehr als 1.000 Menschen vor Gericht, wobei der skandalöseste Fall – der Prozess gegen die nicht ins Exil geflohenen Mitglieder der katalanischen Regierung, die Präsidentin des katalanischen Parlaments und die Anführer*innen der souveränen Einrichtungen – in diesen Tagen durchgeführt wird.
Diese Krise war ein zentraler Gradmesser für Podemos, das zu jeder Zeit in einer erstaunlichen Äquidistanz zwischen der demokratischen Bewegung und der Repression des Staates stand. Dem Referendum vom 1. Oktober 2017 setze Podemos ein unmögliches Referendum entgegen, das mit dem Staat abgesprochen sein sollte – mit dem gleichen Staat, der mehr als 6.000 Polizisten entsandte, um mittels Knüppeln die Wahllokale zu schließen. Und trotz der formellen Opposition zu dieser Repression und zur Anwendung des Artikels 155 weigerte sich Podemos im Rest des Staates, dagegen überhaupt zu mobilisieren. In diesen Tagen behält die Partei die Linie der Loyalität gegenüber der Justiz bei und weigert sich, an den Demonstrationen zur Ablehnung des politischen Prozesses gegen die Anführer*innen der Unabhängigkeitsbewegung teilzunehmen.
In Katalonien wird dieser politische Raum durch „Catalunya en Comú“ und die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, vertreten. Die Pro-Unabhängigkeits-Linke wird durch die CUP („Kandidatenliste der Volkseinheit“) vertreten, die während dieser Zeit eine Politik der Unterordnung unter die bürgerliche Führung hatte, was sie 2017 daran hinderte, angesichts der vorhersagten und vorhersehbaren Kapitulation der katalanischen Regierung, eine unabhängige Alternative auf der Grundlage der Mobilisierung der Arbeiter*innen und verarmten Massen aufzubauen.
In den letzten Monaten hat dies in den verschiedenen Sektoren der CUP eine Reflexion über die in diesen Jahren verfolgte Politik und über eine stärkere Trennung von der „procés“-Führung aufgetan, jedoch ohne bisher mit der Logik der „nationalen Einheit“ gebrochen zu haben. In der kommenden Periode steht die für die Unabhängigkeit eintretende Linke vor der Herausforderung, die Lehren aus dem „katalanischen Herbst“ zu ziehen, dessen grundlegende Schlussfolgerung darin besteht, dass der Prozess unter bürgerlicher Führung nur in einer Sackgasse enden kann. Nur durch eine auf Klassenkampf basierende Politik, unabhängig von den Parteien der katalanischen Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie, ist es möglich, den Kampf um Selbstbestimmung wieder aufzunehmen.
Die katalanische demokratische Bewegung befindet sich heute in einer Sackgasse. Aber dies sollte nicht mit dem Verschwinden der tiefen demokratischen Bestrebungen verwechselt werden, auf die sie sich seit sieben Jahren gestützt hat. Die katalanische Führung will sich mit dem Staat versöhnen können und einen vereinbarten Ausweg suchen. Aber dieser von der Regierung Sanchez eingeschlagene Weg ist angesichts der Weigerung des Regimes und seiner verschiedenen Flügel, irgendwelche Zugeständnisse zu machen – nicht einmal in der Frage der politischen Gefangenen – gerade gescheitert.
Die Krise ist noch offen. Auch die Möglichkeit, dass die Bewegung wieder zum Leben erweckt, und dabei sogar auf andere Formen von mehr „Widerstand“ greift – vor allem, wenn sich die Linie der Hardliner des Regimes durchsetzt, die eine langfristige Aussetzung der Autonomie befürwortet, um Katalonien „zurückzuerobern“. Ein Angriff nicht nur auf die elementaren demokratischen Rechte, sondern auch auf das katalanische Schulsystem, auf ihre Sprache und ihre Selbstverwaltungsinstitutionen.
3. Krise der „extremen Mitte“ und der Aufstieg der extremen Rechten
Der Spanische Staat wurde, wie die meisten europäischen Regierungen, in den letzten Jahrzehnten abwechselnd von Konservativen und Sozialliberalen als Teil eines Blocks mit der gleichen neoliberalen Agenda regiert. Tariq Ali nannte das die „extreme Mitte“.
Der Ausbruch der kapitalistischen Krise im Jahr 2008, die Anwendung harter antipopulärer Kürzungen und der Ausbruch der Empörten-Bewegung führten zur Krise des spanischen Zweiparteiensystems, das von der sozialdemokratischen PSOE und der konservativen Partido Popular (Volkspartei – (ehemals Alianza Popular)) seit dem Ende der „Transición“ mit Unterstützung der baskischen und katalanischen konservativen Nationalisten mitverwaltet wurde.
Die Entstehung von Podemos (aus dem linken Populismus heraus) und Ciudadanos (von der liberalen Rechten) eröffnete eine neue politische Konstellation: ein Mehrparteiensystem, das in den letzten fünf Jahren schwache Regierungen auf der Grundlage instabiler politischer Koalitionen hervorbrachte.
Das spanische Zweiparteiensystem schien sich nach dem Misstrauensvotum, das Pedro Sánchez mit Unterstützung von Podemos und unabhängigen Formationen an die Regierung brachte, zu erholen. Die politische Landschaft ermöglichte keine Rückkehr zu einer Zwei-Parteien-System, es gab aber zwei klar definierte Blöcke: Mitte-Rechts und Mitte-Links. Die Unterordnung der Partei von Pablo Iglesias unter ein Programm lauwarmer Reformen gemeinsam mit der PSOE macht ihre eigene Existenz zunehmend überflüssiger. Der Schmusekurs von PP und Ciudadanos wurde jedoch durch den Durchbruch der extremen rechten Formation Vox erschüttert – ein Element, das der Dynamik des Wiederaufbaus der Mitte Grenzen gesetzt hat und neue Tendenzen zur Polarisierung fördert.
Vox, eine radikalisierte Version der Ideologie der postfranquistischen Rechten, ist eine Begleiterscheinung des Endes der Hegemonie der PP und der spanischen Nationalismuswelle, die der monarchische Block angesichts des katalanischen „procés“ entfesselt hat. Seine Entstehung hat ein neues Kapitel in der Krise der „extremen Mitte“ aufgeschlagen – ein Phänomen, das weit davon entfernt konjunkturell zu sein, sondern organisch und global ist. Deshalb findet es Anschluss an die von Trump, Salvini, Orban, Bolsonaro und Le Pen angestoßene internationale Dynamik.
Vox stellt den rechtsextremen Ausweg für die organische Krise des spanischen Regimes dar. Sie verschiebt das politische Spektrum nach rechts und erscheint als potenzielles Vehikel, um das „katastrophale Patt“ aufzulösen, das bisher keinen Ausweg aus der Krise des Regimes erlaubt hat: weder die „progressive Regeneration“ der PSOE und Podemos, noch die unterbrochene „reaktionäre Restauration“ des 155er-Blocks gegen Katalonien.
Die Charakteristika dieser Alternative könnten jedoch kaum hetzerischer sein: die Autonomiestatute abzuschaffen, die Pro-Unabhängigkeitsparteien zu verbieten, die neoliberalen Strukturreformen radikal zu vertiefen oder das Werben mit einem offen machistischen und LGBT-feindlichen Programm in einem Land mit einer der wichtigsten Frauenbewegungen der Welt. Das verdeutlicht, dass dieses Projekt noch unfähiger ist, eine geordnete und friedliche Lösung aus der aktuellen Krise zu geben.
In diesem Zusammenhang ist der Ausgang der nächsten Wahlen am 28. April noch ungewiss. Auf der einen Seite stärkt der soziale Druck, für das „kleinere Übel“ zu stimmen, Pedro Sánchez. Das ist eine Logik, die bereits im linken Spektrum als zentrales Argument Fuß fasst, um „die Rechte zu stoppen“. Strategisch sehnt sich die PSOE nach der Rückkehr der „extremen Mitte“, seiner natürlichen Umgebung in den letzten 30 Jahren, um sich der Unterstützung von Podemos und der Stimmen der katalanischen Unabhängigkeitsparteien zu entledigen. Auf der anderen Seite wird Ciudadanos versuchen, sich als erste rechte Kraft zu etablieren. Wenn dies ihr nicht gelingen sollte, ist es nicht gesagt, dass Albert Rivera bereit wäre, sein Projekt durch eine Anbindung an die PP oder Vox zu liquidieren. Nicht aus ideologischen Überzeugungen, sondern aus reinem Pragmatismus.
Während die Wahrscheinlichkeit einer rechtsgerichteten Drei-Parteien-Koalitionsregierung steigt, festigen sich die Tendenzen zur politischen Polarisierung als grundlegendes politisches Merkmal der Situation. Eine Dynamik, die dem Establishment große Sorgen bereitet, von den „faktischen Gewalten“ des spanischen Kapitalismus bis hin zur Europäischen Union und der Monarchie selbst. Was sie fürchten, ist, dass die politische Polarisierung von oben die Radikalisierung von unten entfacht.
4. Ende des Zyklus des Neoreformismus
Der Bruch zwischen den beiden wichtigsten Anführern, Pablo Iglesias und Iñigo Errejón, war die letzte Episode des Endes des Zyklus des Neoreformismus. Errejóns politisches Engagement für sein eigenes Projekt zusammen mit der Bürgermeisterin von Madrid, Manuela Carmena, ist vielleicht der aufrichtigste Ausdruck dessen, was Podemos geworden ist: ein Rammbock zur Stärkung einer neuen Mitte-Links-Gruppierung durch eine strategische Allianz mit der PSOE, weit entfernt von jeder Infragestellung des Regimes als solche, während es sich intern aufgrund der Apparatskämpfe zersetzt. Aber hätte es anders kommen können?
Der kometenhafte Aufstieg von Podemos im Jahr 2014 war letztendlich Ergebnis der Ablenkung und der anschließenden Blockade des nach 2008 begonnenen Aufwärtsprozesses des Klassenkampfes. Podemos gab sich als Nachfolger und politische Überwindung der 15M-Bewegung aus. Überwindung des Mobilisierungsmoments, als „Illusion des Sozialen“ vorherrschte – im Endeffekt die autonomistische Idee, dass man die Welt „verändern“ könnte, ohne in die politische Arena einzugreifen. Dieser vermeintliche Fortschritt wurde jedoch durch die Erzeugung einer neuen Illusion, der „Illusion des Politischen“ ersetzt, nach der es möglich wäre, im Rahmen des kapitalistischen Systems und der liberalen Demokratie aus der Krise herauszubrechen.
Mit einem Diskurs über die „Wiederherstellung der Demokratie“, während zugleich die „Dogmen der alten Linken“ und die „Gewissheiten über die Welt der Arbeit, der Parteien und der Gewerkschaften“ abgelegt wurden, kanalisierte Podemos auf Wahlebene die soziale Unzufriedenheit gegenüber den Institutionen. Aber wie bei Syriza wurde Podemos nicht zur politischen Überwindung des vorherigen Mobilisierungsprozesses, wie es bei der Radikalisierung der fortschrittlichsten Aspekte der Fall gewesen wäre (angefangen bei der Anfechtung des gesamten Regimes), sondern sie wurde seine Negation.
Die politisch-ideologischen Grundlagen des neuen „Weder rechts noch links“-Projekts basierten auf der Überzeugung, dass eine revolutionäre Überwindung des gegenwärtigen Regimes unmöglich sei. Die „Podemos-Hypothese“ entstand aus einer eklektischen Mischung aus Errejóns Lektüre von Laclau gepaart mit der eurokommunistischen Nostalgie von Iglesias. Sie zielten darauf ab, eine Organisation zu schaffen, die „die politische Mitte besetzen“ und die „verlorenen Werte“ der Sozialdemokratie wiederherstellen sollte. Das Politische wurde so zu einem von den sozialen Produktionsbeziehungen absolut unabhängigen Bereich, womit jede Zentralität der Klasse geleugnet wurde, um einem neuen politischen Subjekt Platz zu machen: die „Leute“, dessen einzige aktive Rolle darin bestehen würde, bei Wahlen einen Stimmzettel abzugeben.
Im Gegensatz zu den alten reformistischen Parteien der Vergangenheit erbte der Neoreformismus all ihre Mängel (Verherrlichung der Anführer*innen, Bürokratismus, Versöhnung mit den kapitalistischen Mächten, reiner Parlamentarismus) und keine ihrer „Tugenden“, wie z.B. organische Beziehungen zur Arbeiter*innenklasse, die durch Absprachen mit den Gewerkschaftsbürokratien ersetzt wurde.
Das übermäßige Wachstum der Partei nach ihrem außergewöhnlichen Aufstieg bei den Wahlen, die kapitalistische Verwaltung der so genannten „Kommunen des Wandels“, die interne Bürokratisierung zur Mobilisierung einer Wahlmaschinerie, die an ihrer ursprünglichen Strategie scheiterte – also kurz gesagt, ihre politische Assimilation als Teil des Regimes –, ebneten den Weg für die ersten nennenswerten Krisen. Heute drohen diese Krisen das gesamte Gebäude niederzureißen.
Wenn es ein grundlegendes Merkmal von Podemos seit seiner Entstehung gab, dann war es sein übermäßiger Optimismus in Bezug auf die Möglichkeiten der Demokratisierung der Institutionen des kapitalistischen Staates, der direkt proportional zu seinem Pessimismus in Bezug auf das transformierende und revolutionäre Potenzial der Arbeiter*innenklasse und des Klassenkampfes stand.
Fünf Jahre nach seiner Entstehung hat sich Podemos – zusammen mit seinem Verbündeten von Izquierda Unida (Vereinigte Linke) – als neue linke „Kaste“ in das Regime integriert, deren Strategie darauf reduziert ist, gemeinsam mit der PSOE, der sie nun eine unwahrscheinliche Koalitionsregierung vorschlagen, das Regime von ’78 zu regenerieren.
Der Niedergang des von Podemos eingeleiteten Zyklus‘ schreitet auf die wahrscheinlichste Weise voran, die seine Strategie voraussagte. Die Versuche, „an die Regierung zu gelangen“, ohne das Regime durch Klassenkampf zu konfrontieren, sind immer an einer der wichtigsten Formen des Überlebens des Kapitalismus gescheitert: der Assimilation „von oben“ der Herausforderungen, die „von unten“ kommen, um schließlich den Weg für die Rechten zu ebnen. Diese ist eine der großen Lektionen des 20. Jahrhunderts und die wichtigste Lektion am Ende des neoreformistischen Zyklus.
Auf der Grundlage dieser Erfahrung, die für die Linke, die behauptet, antikapitalistisch und revolutionär zu sein, sehr kostspielig war (insbesondere für diejenigen, die sich dem Projekt unterworfen haben und noch keine Lehren gezogen haben), entsteht der dringende Bedarf einer neuen politischen Hypothese.
5. Tendenzen zu Extremen, Klassenkampf und revolutionäre Hypothese
Wenn organische Krisen stattfinden, schrieb Antonio Gramsci, öffnen sie das Feld für „gewaltsame Lösungen“. Die Krise des spanischen Regimes steht dieser Perspektive gefährlich nahe. Der Weg zu einer neuen Hegemonie der Rechten (und der extremen Rechten) ist jedoch nicht ohne Widersprüche gepflastert. Denn die Krise ersetzt nicht das Handeln der Parteien, noch weniger beseitigt sie den Klassenkampf. Zwei Elemente, die zudem nicht im Vakuum, sondern in einem bestimmten Kontext agieren, der immer mehr zu Extremen tendiert.
Die nationale Frage ist noch lange nicht gelöst und kann noch eine Kehrtwende machen. Die Monarchie wird von immer breiteren Bevölkerungsschichten abgelehnt. Und vor allem hält die soziale Krise an, es verschärfen sich die Arbeitslosigkeit, die Überausbeutung und die Verelendung riesiger Teile der Lohnabhängigen, der mangelnde Zugang zu grundlegenden Gütern wie Wohnung oder Lebensmittel, die obszöne soziale Ungleichheit.
Die tiefen Spannungen, die sich in dieser Situation eingenistet haben, sind die Grundlage für den Durchbruch von „antisystemischen“ sozialen und politischen Tendenzen. Jedoch nicht nur aus der extremen Rechten und populistischen Rechten kommt der Durchbruch. Er kommt aus in Form von „gelben Westen“ in Frankreich, von Generalstreiks in Belgien, von Streiks im öffentlichen Dienst in Portugal, von progressiven Massenphänomenen wie der Frauenbewegung. Tendenzen, die bereits im Spanischen Staat zum Ausdruck kommen – wie der Aufruf zu einem 24-stündigen Generalstreik am 8. März –, und sich früher als später voll entfalten werden.
Ob nun eine „dreihälsige Rechtsregierung“ – wie die spanische Justizministerin es nannte – kommt, oder ein seniler Versuch, das „ extreme Zentrum“ zwischen PSOE und Ciudadanos zu regenerieren, oder gar die unwahrscheinliche Hypothese einer neuen „fortschrittlichen“ Regierung der PSOE und Unidos Podemos sich durchsetzt: In all diesen Fällen können wir sehen, wie wir es auch mit Macron in Frankreich sehen, dass sie nur vorübergehende Erfolge sein werden.
Angesichts dieses Szenarios eröffnet das Scheitern des Neoreformismus einen Raum für die Entwicklung einer alternativen politischen Hypothese: der Aufbau einer radikal antikapitalistischen und revolutionären Linken:
- – die mit den demokratischen Bestrebungen der Massen dialogisiert, aber nicht vor den Versuchen der Regeneration des Regimes von 1978 kapituliert, und sich stattdessen dem Kampf für freie und souveräne verfassungsgebende Prozesse verpflichtet, die es ermöglichen, alle anstehenden demokratischen Forderungen – wie das Recht auf Selbstbestimmung oder das Ende der Monarchie – zu erfüllen, und die gleichzeitig für ein umfassendes Programm kämpft, um die Kapitalist*innen für die Krise bezahlen zu lassen.
- – eine Linke, die sich von den fortschrittlichsten Ereignisse des Klassenkampfes inspirieren lässt, die die Selbstorganisation und Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse und der verarmten Massen mitgestaltet und die Gewerkschaftsbürokratie bekämpft. Sie sollte keine Bedenken haben, radikale und antikapitalistische Auswege zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit (wie die Verteilung der Arbeitszeiten ohne Lohnkürzung) oder des Wohnungsbaus (wie die Enteignung aller leerstehenden Wohnungen in Banken- und Spekulantenbesitz) vorzuschlagen.
- eine radikale Linke, die „ohne Komplexe“ sagt, dass die Überwindung der organischen Krise des spanischen Regimes nur durch „Enteignung der Enteigner*innen“ zugunsten der Arbeiter*innenklasse, der Frauen, der Jugend und der verarmten Massen gelöst werden kann. Das heißt, das monarchische Regime zu beenden und für eine wirklich demokratische, proletarische und sozialistische Perspektive zu kämpfen: eine freie Föderation der Iberischen Sozialistischen Republiken, die auf neuen selbstorganisierten Organen der Arbeiter*innen und der Massen basiert, als Teil des Kampfes für ein Europa der Arbeiter*innen.
Viele argumentieren, dass es nicht realistisch sei, für diese Ziele zu kämpfen. Doch was nicht realistisch ist, ist zu denken, dass es möglich ist, den Kapitalismus zu humanisieren. Dies ist die große Debatte, die von der gesamten Linken angegangen werden sollte, die behauptet, antikapitalistisch zu sein – offen für alle Sektoren von Jugendlichen, Frauen und Arbeiter*innen, die sowohl mit dem Neoreformismus von Podemos als auch in Katalonien mit der bürgerlichen Führung des „procés“ Erfahrungen gemacht haben. Der Aufbau einer radikal antikapitalistischen und klassenkämpferischen Linken, unabhängig von allen Parteien des kapitalistischen Regimes, ist eine Aufgabe, die über die Wahlen hinausgeht. Es ist die wichtigste strategische Aufgabe im Augenblick.
Eine Version dieses Artikels erschien zuerst auf Spanisch bei Contrapunto, der neuen Wochenendausgabe von IzquierdaDiario.es