„Friedhofsstimmung“ bei Goodyear Fulda: Die skandalösen Hintergründe des Stellenabbaus

07.06.2023, Lesezeit 6 Min.
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Foto: Fabio Pagani (Shutterstock)

Im osthessischen Fulda sollen beim Reifenhersteller 550 von 1150 Angestellten ihre Arbeit verlieren. Doch welche Hintergründe hat die Massenentlassung und wie können die Kolleg:innen sich wehren?

„Erst 450 Stellen abbauen, jetzt 550 Mitarbeiter entlassen – das ist ein Sterben auf Raten“, kritisiert Vizechef des Betriebsrats Klaus Korger. Zwischen 2019 und 2024 werden also genau 1.000 Menschen ihre Arbeit beim Reifenhersteller verlieren. Die ursprüngliche Belegschaft von über 1.600 Beschäftigten wird extrem zusammengeschrumpft. Bereits 2019 wurden 450 Stellen in Fulda und 600 Stellen in Hanau gestrichen. Im Gegenzug versprach Goodyear, rund 113 Millionen Euro zu investieren. Der Betriebsrat nahm die Pläne damals an und beteiligte sich an der Umsetzung. Klaus Korger rechtfertigte sich gegenüber der Fuldaer Zeitung: „Das Modernierungsprogramm lief bis Juni 2022. Der Arbeitsplatzabbau wurde uns damals damit schmackhaft gemacht, dass die verbleibenden Arbeitsplätze fit für die Zukunft gemacht würden. Wir waren überzeugt, dass keine weiteren Personalmaßnahmen mehr anstehen. Dieses Versprechen hat Goodyear nicht gehalten.“

Deindustrialisierung zur Profitmaximierung

Goodyear gibt an, dass für die Maßnahmen vornehmlich die wirtschaftliche Situation mit einer hohen Inflation und einer insgesamt geringeren Fahrleistung, sowie auch große Mengen an Neureifenimporten von außerhalb Europas verantwortlich sei. Doch wie sehr stimmt das überhaupt? Rund 46,3 Millionen Reifen wurden 2022 in Deutschland verkauft, ein Rückgang von etwa zwei Millionen Reifen. Doch es gibt auch andere Faktoren. Durch den Ukraine-Krieg sind große Konkurrenten deutlich härter getroffen. Nokian Tyres hat im Zuge des Krieges von Russland seinen Standort in St. Petersburg verloren, der vorrangig für den Markt in Europa produzierte und nun große Schwierigkeiten überhaupt Reifen herzustellen.

Firmensprecher Stenzel rechtfertigte den Stellenabbau kürzlich gegenüber der Fuldaer Zeitung: „Nötig wurde das, weil der Bedarf an Reifen in der Welt sinkt. Wir müssen Kapazitäten abbauen – und zwar dort, wo die Produktion besonders teuer ist.“ Vor dem ersten Stellenabbau 2019 wurde verkündet, dass das Werk in Slowenien vergrößert wird. Es wurden die gleichen Maschinen aufgebaut wie bei der „Werkserneuerung“ in Fulda. 94 Millionen Euro wurden in Slowenien investiert und in Fulda etwas über 30 Millionen. Mit den neuen Maschinen war es zwar technisch möglich, die gleichen Premium-Reifen wie in Deutschland herzustellen, das dringend benötigte Know-How, die großen Reifen herzustellen, jedoch fehlte. Diese Entwicklung könnte das Werk in Slowenien nun aufgeholt haben und somit die Management-Pläne der Deindustrialisierung der deutschen und französischen Standorte beschleunigt haben. Ihre langfristige Ausrichtung ist es, die Produktion in sogenannte Billiglohnländer zu verlegen, um die Profite zu maximieren.

„In der Belegschaft herrscht Friedhofsstimmung“

Eine besonders scheußliche Rolle spielte dabei der Betriebsrat von Goodyear Fulda. Während er jetzt mit einer völlig demoralisierten Belegschaft dasteht, die über keine Kampferfahrung verfügt, muss er sich eingestehen, dass es seine Schuld ist. Schon 2019 hatte die IG BCE nicht mal einen Warnstreik gegen die Entlassungen durchgeführt, sondern sich restlos den Bossen angepasst. Sie hatten damals mit dem Arbeitgeber kooperiert, obwohl die Politik der Chefetage offensichtlich verlogen war. Unter den Kolleg:innen waren die Probleme schon länger bekannt. Langjährigen Mitarbeiter:innen wurden Abfindungen gezahlt und das Unternehmen wollte auf junge Mitarbeiter:innen setzen. Auszubildende wurden allerdings nur für sechs Monate übernommen (laut einer Betriebsvereinbarung das Mindeste) und gute Mitarbeiter:innen wurden durch führungsunfähige Vorgesetzte vergrault bis sie kündigten. Dass diese Politik dazu führte, dass die Leiharbeitersfirma Adecco nach dem Stellenabbau Mitarbeiter:innen für einen „lokalen Reifenhersteller“ suchte, sei dahingestellt.

Letztendlich steht die Belegschaft in einer schier ausweglosen Situation, in der jeder zweite Job akut bedroht ist. Doch es ist nicht so, als wäre die Lage endgültig hoffnungslos. Während die Reifen pro Stück billiger in den Personalkosten werden und bei den einfachen Arbeiter:innen auf jeden Cent Gehalt geschaut werden soll, verdienen die Bosse weiterhin Unsummen. Richard J. Kramer, CEO von Goodyear, hat trotz Stellenabbau und Kürzungspolitik 10.317.238 US Dollar an Gehalt bekommen. Dass er diese Unsumme für seine Firmenpolitik „verdient“ hat, können sicherlich nur die Großaktionäre bejahen, die Kolleg:innen sicherlich nicht. Diese Summen bekommt er, weil er die Profitmaximierung im Interesse der Großaktionäre vorantreibt. Dafür ist er bereit, die Beschäftigten nicht nur möglichst schlecht zu bezahlen, sondern auch die ganze Produktion in Länder mit niedrigeren Löhnen zu verlagern.

Die Schuld dafür liegt nicht bei den Kolleg:innen in Slowenien. Sie verdienen einen Arbeitsplatz genauso wie wir. Sie werden von den Bossen dafür benutzt, in Fulda besser bezahlte Stellen abzubauen und Arbeiter:innen hier in prekäre Leiharbeit zu treiben. Es wird sich für die Bosse immer mehr rentieren, auf Orte mit schlechteren Arbeitsbedingungen und Löhnen auszuweichen und deswegen werden sie das immer wieder versuchen. Wir können nicht nur an unseren Standort denken, sondern müssen dafür stehen, dass sich die Arbeitsbedingungen und Löhne in Slowenien und ähnlichen Ländern verbessern. Nicht nur aus Solidarität, sondern auch damit unsere Löhne nicht gedrückt und unsere Arbeitsbedingungen nicht so leicht verschlechtert werden können.

Wenn Klaus Korger, Vizechef des Betriebsrats behauptet: „In der Belegschaft herrscht Friedhofsstimmung“, dann müssen wir antworten, dass wir damit nicht die Jobs der Kolleg:innen und die Fabrik in Fulda meinen dürfen. Das einzige, was auf den Friedhof gehört, ist die arbeiter:innenfeindliche Politik der Bosse. Die berechtigte Wut der Kolleg:innen muss jetzt gegen die gerichtet werden, die sich maßlos die eigenen Taschen vollschaufeln. Es braucht sofort eine Vernetzung und Organisierung der Beschäftigten, um einen unbefristeten Streik zu organisieren. Alle Beschäftigten, die sich am Streik beteiligen (wollen), müssen demokratisch darüber abstimmen, was ihre Forderungen sind und wie sie sie umsetzen. Auf den Betriebsrat ist nicht länger Verlass, das zeigt die vergangene Politik leider allzu deutlich. Forderungen im Streik sollten der gesicherte Erhalt des Werkes und aller Arbeitsplätze sein. Sollten die Bosse von Goodyear nicht einknicken und die Produktion weiterhin ins Ausland verlagern wollen, dann muss auch eine Verstaatlichung des Werkes unter Kontrolle der Beschäftigten auf der Tagesordnung stehen.

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