Friedhof ohne Frieden: Al-Shifa-Krankenhaus in Schutt und Asche

05.04.2024, Lesezeit 8 Min.
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Foto: Baki von Klasse Gegen Klasse

Fast sechs Monate nach dem Beginn des genozidalen Angriffskrieg Israels in Gaza greift die israelische Armee weiterhin systemrelevante Infrastruktur an. In den letzten zwei Wochen hat sie das Al-Shifa-Krankenhaus dem Erdboden gleichgemacht. Und das war nicht alles, was allein in den letzten zwei Wochen passiert ist.

Dutzende Leichen unter Trümmern, auf Krankenbetten, in den Gängen: Das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza ist nur noch ein Friedhof. Mehr als zwei Wochen lang hat die israelische Armee das Krankenhaus beschossen, bombardiert und gestürmt. Patient:innen, Ärzt:innen, Beschäftigte und Zivilist:innen wurden ermordet, massakriert und missbraucht. Augenzeug:innen und Überlebende erzählen von Folter und Vergewaltigungen. Die Video- und Bildaufnahmen zeigen die Ausmaße der Angriffe: Alle Gebäude und Straßen rund um das Krankenhaus, sowie das Krankenhaus selbst, liegen in Schutt und Asche. Aktuelle Zahlen von palästinensischen Behörden belaufen sich auf 400 Tote, mehrere Tausend Verletzte.

Die israelische Armee behauptet, dass sie keine Zivilist:innen getötet habe – was nichts Neues ist. Jeder Angriff, jede Bombe und jede:r Tote ist für sie gerechtfertigt. Mit Deutschland und den USA im Rücken kann die israelische Regierung auch behaupten, was sie will – die Waffen und Bomben werden trotzdem geliefert. Über 1.600 Tonnen Bomben wurde erst vor paar Tagen von der Biden-Regierung genehmigt, während dieser sich gleichzeitig in den Medien als Moralapostel darstellt und so tut, als würden die toten Zivilist:innen beim Mehlmassaker oder im Al-Shifa-Krankenhaus eine rote Linie überschreiten. Dabei ist die rote Linie schon seit fast 76 Jahren überschritten, mit der völkerrechtswidrigen Gründung Israels, die die anhaltende Vertreibung und ethnische Säuberung (Nakba) der palästinensischen Bevölkerung zur Folge hatte.

Was nun im Al-Shifa-Krankenhaus passiert ist, macht deutlich, was in den letzten sechs Monaten, genauer seit dem 7. Oktober, anhaltend passiert. Von 36 Krankenhäusern war das Al-Shifa eines der letzten zehn gerade noch irgendwie funktionierenden Krankenhäuser. Alle anderen wurden bereits so lange bombardiert, bis sie überhaupt nicht mehr funktionstüchtig waren. Monatelange Stromausfälle mussten mit Notstromgeräten überbrückt werden, etliche Patient:innen und Gesundheitsarbeiter:innen wurden bereits getötet. Über 50.000 schwangere Personen mussten unter Bombenbeschuss und zwischen Trümmern gebären oder abtreiben.

Die Angriffe auf die gesamte Infrastruktur gingen auch über die Krankenhäuser hinaus. Schulen und Universitäten gibt es keine mehr im gesamten Gazastreifen. Sie wurden mitunter zuerst vernichtet. Zehntausende Wohnhäuser wurde dem Erdboden gleichgemacht, über zwei Millionen Palästinenser:innen sind allein seit dem 7. Oktober auf der Flucht, das ist nahezu die gesamte Bevölkerung in Gaza. Doch selbst ihr Fluchtweg wurde zu einer Todesfalle: Israels Regierung versprach Fluchtkorridore, stattdessen beschoss und bombardierte sie aber Flüchtende auf dem Weg nach Rafah und sogar mehrfach Rafah selbst.

Länder wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und die USA, die sich klar solidarisch mit Israel zeigten, es weiterhin mit Waffen und Geldern beliefern, ziehen in der Öffentlichkeit plötzlich langsam zurück: Plötzlich zeigen sie sich humanitär. Es brauche dringend humanitäre Hilfe in Rafah, Israel dürfe nicht das Völkerrecht verletzen. 30.000 Tote haben für solche Aussagen über fünf Monate nicht ausgereicht. Nein, es brauchte ein bestimmtes Blutbad. Eins, bei dem Zivilist:innen nach Hilfslieferungen rangen, die von Flugzeugen abgeworfen wurden und dabei von israelischen Soldat:innen erschossen wurden. Erst das hat einen Schalter bei Biden, Scholz und Baerbock umgedreht – doch nur moralisch in der Öffentlichkeit. Wurden Waffenlieferungen gestoppt? Nein. Wurden Sanktionen erhoben? Nein. Gab es irgendwelche Konsequenzen für Israel? Wohl kaum. Stattdessen gibt es noch mehr Waffen und noch mehr Bomben für Israel. Denn auch wenn man mal dem verlängerten Arm des eigenen Imperialismus eine Standpauke hält, darf man nicht vergessen, dass sie der stabilste Partner im Mittleren Osten für die eigenen kapitalistischen Interessen sind, ob nun für Deutschland oder die USA.

Dass Israel die Moralpredigten herzlich wenig interessieren, zeigte sich erst diese Woche wieder: Ein Hilfskonvoi der unabhängigen World Central Kitchen (WCK) wurde systematisch drei Mal hintereinander bombardiert – sieben Mitarbeiter:innen wurden bei dem Angriff ermordet. Der WCK-Chef José Andrés sagte, die WCK-Helfer:innen seien gezielt attackiert worden, WCK-Embleme waren für die israelische Armee weithin sichtbar. Auch sonst wurde die Arbeit von Hilfsorganisationen immer wieder verunmöglicht, Hunderte Tonnen Hilfsgüter konnte WCK nicht abliefern, die Grenzen nach Gaza sind weiterhin größtenteils dicht. Israel provoziert wissentlich und willentlich immer wieder eine humanitäre Katastrophe und nutzt Hunger und Elend als Kriegswaffe.

Kein Ende des Genozids in Sicht


Wenn man in der jetzigen Lage schon vom absoluten Endstadium des Genozids ausgeht, täuscht man sich. Denn was heute das Al-Shifa-Krankenhaus war, könnte morgen das Al-Aqsa-Krankenhaus werden. Israel ist darauf fokussiert, nicht nur die Wohnhäuser der Zivilist:innen anzugreifen und unbewohnbar zu machen, sondern die gesamte Infrastruktur so zu zerstören, dass ein Überleben der bisher Überlebenden schier unmöglich wird. Es gibt jetzt schon die größte Hungersnot seit jeher in Gaza, täglich sterben Hunderte Menschen am Hungertod – die meisten von ihnen Babys und Kinder, die noch in der Blüte ihres Wachstums, ihres Lebens standen.

Zu diesem Vernichtungsplan gehören auch die Aussagen und Pläne der Regierung, dass als Nächstes Rafah einer Bodenoffensive unterzogen werden soll. „Bodenoffensive“ ist ein schön geschmückter, verharmlosender Begriff für „Wir werden sie alle, jede:n Einzelne:n von ihnen töten.“ Über eine Millionen Flüchtende leben gerade in Rafah. In heruntergekommenen Zelten, zusammengepfercht, ohne genug Nahrung und Wasser, ohne medizinische Hilfe, ohne alles. Die Grenze zu Ägypten ist weiterhin geschlossen, ebenso von der Westbank nach Jordanien.

Vermutungen, kritische Einschätzungen und Vorwarnungen von etlichen Expert:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen und Überlebenden bewahrheiten sich von Tag zu Tag immer deutlicher. Israels Regierung will keinen Friedensprozess, keine Geiselbefreiung, keine Kompromisse – Israels Regierung will Israel größer und mächtiger machen. Vom Fluss bis zum Meer soll es ein einziges Israel ohne palästinensisches Leben geben. Und jedes weitere Massaker, mit dem sie das vorherige in den Schatten stellen, bringt dieses Ziel deutlicher zum Vorschein.

Internationale Solidarität


Doch während Regierungen immer noch Israel unterstützen, bildet sich enormer Widerstand, den man teilweise tot geglaubt hat. Die jordanische Zivilbevölkerung steht zu Hunderttausenden auf den Straßen und an den Grenzen zur Westbank. Sie protestieren gegen ihre eigene Regierung, die auf der Seite des zionistischen Regimes ist. Gleichzeitig entwickeln sich Proteste in Ägypten zu Massenaktionen, obwohl die ägyptische Regierung über die letzten Jahre hinweg ein kompromissloses Repressionssystem gegen jeglichen Protest aufgebaut hat. Seit mehr als einem Jahrzehnt haben sich nicht mehr so viele Menschen zu Protesten versammelt wie in den letzten Tagen – angeführt von Jugendlichen, die sich gegen ihre Regierung und deren Komplizenschaft am Genozid kritisieren.

In Deutschland bleibt die pro-palästinensische Bewegung weiterhin groß, gerade an den Universitäten, doch die Repression gegen sie nimmt immer mehr zu. Aktuell soll in Berlin ein altes Hochschulgesetz wieder eingeführt werden, was die Exmatrikulation von Studierenden für politische Ansichten und Aktionen ermöglicht – was zurzeit vor allem die Palästinabewegung an den Universitäten und ihre Komitees betreffen würde. Stimmen von zionistischer Presse, Regierungs- und Landesparteimitgliedern befürworten die Wiedereinführung – und von einigen Studierenden an den Unis. Die Jugendgruppen der Regierungs- und Parlamentsparteien wie SPD, CDU und Grüne haben sich alle für die Wiedereinführung ausgesprochen. Kritik kommt dagegen aber beispielsweise von der GEW, die sich klar dagegen stellt. Damit stellt sie ein gutes Beispiel voran, wie Gewerkschaften sich zu politischen Themen äußern und positionieren sollten. Man muss nicht einmal pro-palästinensisch sein, um das Exmatrikulationsgesetz katastrophal zu finden. Es ist ein massiver Ein- und deutlicher Angriff auf das Bildungsrecht jedes einzelnen Menschen.

„Al-Shifa“ ist arabisch für Heilung – ein Name also, der die Wichtigkeit von Krankenhäusern so klar verdeutlicht, wie es nur geht. Krankenhäuser sind die Säulen der Sicherheit, des Schutzes und des Überlebens einer Gesellschaft. Wer diese Säulen einreißt, sucht keinen Frieden, keinen Schutz für das eigene Volk, kein Recht und keine Ordnung – sie sucht Tod, Elend und die komplette Vernichtung einer gesamten Gesellschaft.

Nieder mit dem Apartheidsregime und ihrem Siedlerkolonialismus, der allein seit dem 7. Oktober über 30.000 Menschen das Leben gekostet hat – und seit 76 Jahren Hunderttausenden Menschen das Leben kostete. Nieder mit der israelischen Armee und ihren Unterstützer:innen, die sie mit Waffen und Bomben beliefern, um ihre eigenen imperialistischen Interessen im Mittleren Osten zu sichern. Und auch nieder mit der deutschen Militarisierung und ihrer Repression, die uns an den Unis mit Gewalt aus den Hörsälen räumt, uns auf Demonstrationen krankenhausreif schlägt und uns nun auch noch das Recht auf freie Bildung nehmen will.

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