Frankreichs Jugend auf der Straße: Wie sich die Wut in eine revolutionäre Kraft verwandeln kann

31.03.2023, Lesezeit 10 Min.
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Foto: O Phil des Contrastes

Die Mobilisierung gegen die Durchsetzung des Artikel 49.3 der französischen Verfassung und mit ihm die verhasste Rentenreform ergreift nun auch die Jugend. Tausende junge Französ:innen tragen nun ihren Zorn in Form von spontanen Massenmobilsierungen und Generalversammlungen auf die Straßen. Von Paris bis nach Montpellier schließt sich die Jugend der Bewegung an und ist gekommen um zu bleiben.

80 Hochschulen besetzt, mehrere hundert Oberstufen werden mobilisiert: Die Jugend ist auf der Straße

Am Donnerstag den 23. März konnte niemand die massive Beteiligung der Jugend an den Protesten ignorieren. Schon am Morgen waren 80 Universitäten und Schulen blockiert, sowie einige hunderte Oberstufen im ganzen Land. Zum Vergleich: Am 7. März waren nur 40 Bildungseinrichtungen blockiert, die Mobilisierung erfährt nun einen echten Sprung. Es findet daher eine gewaltige und wichtige Mobilisierung in allen Städten des Landes statt: Von Paris, über Tours, Angers, Caen, Grenoble, Toulouse, Albi, Nizza, Chambéry, Rennes, Lille bis Marseille. Überall brachten große Demonstrationen hunderte bis tausende Jugendliche auf die Straße.

Die Größe der Bewegung hat vergangene Woche erneut ihr Potenzial entfaltet, das weit über die Grenzen der Universitäten oder Schulen hinausgeht. Die Studierenden der juristischen Fakultät Panthéon-Assas in Paris haben ihr Institut besetzt und haben es aus dem Anlass zum “Roten Assas” umbenannt. Das erste Mal seit 53 Jahren. Wie beim “Assas” haben Studierende an anderen Universitäten sich wie nie zuvor mobilisiert, so zum Beispiel die Uni Lyon 3 oder die Kapitols-Universität in Toulouse. Die Studierenden der Ingenieursschulen haben sich in einem noch nie dagewesenen Ausmaß den Massenprotesten angeschlossen. Wie auch bei L’INSA in Toulouse, wo sich diese Woche mehr als 150 Personen zu einer Generalversammlung versammelt haben und einen Teil der Schule besetzen, aber auch bei ENTPE in Paris. Für die 22-jährige Cécile, die von der Huffington Post befragt wurde, „ist der 49.3 eine Vorgehensweise, die nicht mehr hingenommen wird, ebenso wie die Polizeigewalt“.

Der von zahlreichen Medien kommentierte Eintritt der Jugend in den Kampf markiert einen neuen Wendepunkt in der Situation. Für Stéphane Sirot, Historiker, Soziologe und Spezialist für soziale Bewegungen, geht die Mobilisierung der Jugend weit über die Rentenfrage hinaus: „Seit der Verabschiedung des 49.3 durch die Regierung, beschäftigt sie die Frage der Demokratie“, erklärt er.

Der Eintritt der Jugend auf die Bühne der Proteste verdunkelt ein ohnehin schon düsteres Bild für Macron, zumal sie sich explizit gegen seine Figur und den Autoritarismus der Fünften Republik, den er verkörpert, stellt. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Ifop ist Macrons Beliebtheitsgrad bei den 18- bis 25-Jährigen noch nie so niedrig gewesen. Die Mcfly- und Carlito-Videos (PR-Aktion auf Youtube mit Macron) und die PR-Aktionen reichen nicht mehr aus, um eine ganze Generation zum Schweigen zu bringen, die einen hohen Preis für die Austeritätspolitik der Regierung bezahlt hat: Senkung der Sozialhilfen, Abschaffung der 1-Euro-Mahlzeiten, katastrophales Management der Gesundheitskrise. Die Regierung hat vermehrt ihre Versprechen gebrochen, greift die Budgets der Kunst- und Architekturschulen, aber auch der Universitäten an und weigert sich, die Stipendien oder die Sozialhilfe zu erhöhen. Es ist die ganze aufgestaute Wut der Generation, die während der COVID-19 Pandemie „geopfert“ wurde, die sich heute auf der Straße ausdrückt. Bisher hatte diese Not morbide Ausdrucksformen gefunden. Der Ausdruck dieser Wut der Jugend durch Mobilisierung und kollektive Organisation ist bereits ein Sieg für die Tausenden von jungen Menschen.

Der massive Eintritt der Jugendlichen in die Mobilisierung lässt sich auch durch ein allgemeines Gefühl erklären, dass „es Zeit ist, so weit zu gehen“, denn auch wenn der 49.3 ein autoritärer Durchmarsch ist, so ist er doch auch ein Zeichen für eine Regierung, die schwächer denn je ist. Während der Streik in den Raffinerien, im Energiesektor oder auch im Transportwesen aufrechterhalten und erneuert werden kann, erscheint die Aussicht auf einen Sieg gegen die Regierung für Tausende von Jugendlichen plausibel. Diese Entschlossenheit zum Sieg zeigte sich in den spontanen Demonstrationen, die in Paris, Montpellier, Lyon oder auch Bordeaux entstanden, aber auch in den Generalversammlungen, Blockaden und Universitätsbesetzungen, die in den letzten Tagen immer häufiger wurden.

„Macron démission“: Die Jugend lehnt das Macron-Regime und seine brutale Unterdrückung ab

Seit dem undemokratischen Angriff der Regierung hat die Mobilisierung gegen die Rentenreform eine große Wende genommen. Als Zeichen einer erschütterten Regierung wurde mit dem 49.3 noch mehr Öl ins Feuer gegossen. Nun entbrennt ein Kampf gegen das gesamte Projekt Macrons durch die Arbeiter:innenklasse und die Jugend, der sich in den Straßen zeigt.

Die Größe der aktuellen Mobilisierung und die Einrichtungen, die sich auf bisher nie dagewesene Weise mobilisieren, legen den Grundstein dafür, dass das Ausmaß der Proteste der letzten Studierendenbewegung im Jahr 2018 übertroffen wird. Dies sind Elemente, die eine Bewegung ankündigen könnten, deren Ausmaß mit dem Kampf gegen den CPE (Contrat Première Embauche) im Jahr 2006 vergleichbar ist. Ein wichtiger Unterschied zur damaligen Bewegung liegt in der heute weitgehend verbreiteten antikapitalistischen Gesinnung, während die Mobilisierung von 2006 von einem eher bescheidenen antiliberalen Denken geprägt war.

Vor dem Hintergrund einer breiten Infragestellung der Legitimität Macrons in der Bevölkerung und der politischen Institutionen insgesamt, dürfte es der Regierung schwer fallen, die Bestrebungen der Jugend in institutionelle Bahnen zu lenken, und sie hat derzeit keinen anderen Weg als den der brutalen Repression. Seit der Ankündigung des 49.3 wurden Tausende Demonstrant:innen, darunter viele Jugendliche verhaftet und in Gewahrsam genommen. Auch bei Blockaden von Universitäten wie in Straßburg und Lille oder an Gymnasien wird die Polizei massiv repressiv eingesetzt.

Aus Angst vor einer Verbindung zwischen der Wut der Jugendlichen und der Arbeiter:innenbewegung versucht die Regierung, die Studierendenmobilisierung im Keim zu ersticken. Abel, ein Dozent in Paris 8, meint: „Sie versuchen, diese Spontanität der Jugend zu zerstören, um zu verhindern, dass sie sich ausbreitet, und dass die Arbeiter sie aufgreifen und daraus Mut schöpfen.“ In diesem Sinne ist auch die brutale Unterdrückung der Demonstration zu verstehen, die von der Pariser Inter-facs (fakultätsübergreifende Versammlung von Studierenden” von der Universität Tolbiac aus organisiert wurde, um die streikenden Müllarbeiter:innen an ihrem Streikposten zu unterstützen, bei der fünf Student:innen festgenommen wurden.

Zu Macrons Nachteil, radikalisiert die Polizeigewalt die Demonstrierenden zunehmend weiter, denn sie sehen den direkten Zusammenhang zwischen dem autoritären 49.3 und der Repression, zumal auch innerhalb der Universitäten die Präsidien versuchen, die Mobilisierung daran zu hindern, sich zu strukturieren, indem sie administrative Schließungen und den Übergang ins Fernstudium erzwingen.

Um die Bewegung erfolgreich zu stärken und sich gegen die Repressionen der Polizei und der Universitätspräsidien zu wehren, ist Selbstorganisierung unsere wichtigste Taktik. Sie kann Hunderte von Student:innen vor Polizeistationen und auf Streikposten mobilisieren und so die staatliche Repression in die Schranken weisen, wie es am vergangenen Freitag bei der Raffinerie in der Normandie der Fall war.

Für den Aufbau und die Koordinierung einer massiven Student:innenbewegung, um Macrons Politik ein Ende zu setzen

Heute ist klar, dass die Jugend eine große Rolle bei der radikaleren und spontanen Art der Mobilisierungen spielt. Aber über die mobilisierten Jugendlichen hinaus sind es Tausende von Arbeiter:innen, die sich bei der Ankündigung des 49.3 für eine radikalere Art des Protests entschieden haben. Wilder Streik in Châtillon, spontane Demonstrationen, Stopp des Versands in die Normandie: Die Grundlagen für eine politische Bewegung gegen Macron, die Fünfte Republik und das gesamte System, das er verkörpert, sind gelegt.

In diesem Zusammenhang könnten die Spontanität und Radikalität einer Studierendenbewegung eine Rolle spielen, um die “Intersyndicale” unter Druck zu setzen, die ihre Strategie des institutionellen Drucks beibehält, indem sie nun mit einer Klage vor dem Verfassungsrat oder dem Referendum der geteilten Initiative wedelt und auf der Organisation isolierter Streiktage beharrt. Eine Strategie der Niederlage, die auch von Louis Boyard vertreten wird, der gegenüber BFMTV erklärte, dass es einen „Ausweg aus der Krise durch die Wahlurnen“ geben müsse. Schlimmer noch, der Generalsekretär der CFDT, Laurent Berger, zeigt sich nun bereit, die Forderung nach Rücknahme der Reform zu liquidieren und die Bewegung zu verraten, indem er der Regierung vorschlägt, „eine Pause einzulegen“, um „einen Kompromiss“ zu finden.

Um all diese Sackgassen zu überwinden, die in keiner Weise den Ambitionen der streikenden Sektoren und der Jugendlichen auf der Straße entsprechen, die Macron und seine Reform aus dem Weg räumen wollen, muss die Studierendenbewegung mit den Strategien der Niederlage brechen und darauf hinarbeiten, an der Seite der Arbeiter:innen in den strategischen Sektoren die Streiks auszuweiten. Denn auch wenn die Radikalität auf den Straßen allein nicht ausreicht, um den Sieg herbeizuführen, ist ihre Verbindung mit der Ausweitung des Streiks auf die gesamte Wirtschaft über die bereits mobilisierten Sektoren hinaus, eine zentrale Aufgabe der Bewegung, die erreicht werden kann, sofern eine Massenbewegung der Studierenden aufgebaut wird, die an der Seite der Arbeiter:innen kämpft. In diesem Sinne ist die Verteidigung der laufenden verlängerbaren Streiks gegen die Repression, wie es die Jugendlichen in Paris getan haben, indem sie die Müllarbeiter:innen vor den TIRUs im Arbeitskampf unterstützten, ein Beispiel für Solidarität, das auf alle unterdrückten Sektoren auszuweiten, entscheidend ist.

Um der Studierendenbewegung zu ermöglichen, in dieser Situation eine Rolle zu spielen, ist es notwendig, die nächste nationale Studierendenkoordination (Versammlung), die am Wochenende des 1. April in Paris stattfinden wird, aufzubauen und zu erweitern. Alle mobilisierten Jugendlichen im ganzen Land müssen ein demokratisches Organ schaffen, um die Mobilisierungen zu diskutieren und zu koordinieren, ohne auf die Vorgaben der Intersyndicale zu warten. Der Aufbau dieser Koordination von unten, in jeder mobilisierten Vollversammlung und Universität des Landes, ist eine zentrale Herausforderung für die Bewegung. In einer Zeit, in der die Intersyndicale versucht, die Mobilisierung auszulöschen und einen Kompromiss mit der Regierung anstrebt, muss die Jugend darauf hinarbeiten, die Bewegung an der Seite der Arbeitnehmer:innen zu verschärfen. Im Jahr 2016 war es dem Aufruf der nationalen Studierendenkoordination zu verdanken, dass die Intersyndicale teilweise gezwungen war, zur Mobilisierung am 9. März 2016 aufzurufen. Der Aufbau einer solchen nationalen Koordination, die alle mobilisierten Schüler:innen und Student:innen an den Schulen und Universitäten vertritt, kann eine Schlüsselrolle beim Aufbau einer erfolgreichen Strategie ohne Kompromisse mit der Regierung spielen.

Während die Präsidien die Unis schließen, um zu verhindern, dass sich die Organisation der Studierenden strukturiert, müssen die Vollversammlungen weiter aufgebaut werden, um die Hochschulen zu offenen Orten zu machen, die im Dienste der Mobilisierung stehen. Dies ist ein erster Schritt, um für eine andere Art von Universitäten zu kämpfen, die für alle und jeden offen sind und in denen die Wissenschaft der Bevölkerung und nicht den kapitalistischen Profiten dient.

Denn in diesem Kampf, der mittlerweile über die Rentenreform hinausgeht, ist es möglich, die Rente mit 60 Jahren bei vollem Lohnsatz, die Anpassung der Löhne an die Inflation oder auch die Einführung eines von den Arbeitgeber:innen finanzierten Studierendeneinkommens zu erreichen. Angesichts der zutiefst undemokratischen Handlungen der Fünften Republik ist es auch notwendig, die Abschaffung des Senats und der Nationalversammlung zu erkämpfen, um den Aufbau einer einzigen, ständig abwählbaren Versammlung der Arbeiter:innen voranzutreiben.

Es geht darum, all diese Forderungen durchzusetzen, indem wir uns für den Aufbau einer massiven Studierendenbewegung an der Seite der Arbeiter:innen einsetzen. Kämpfen wir gemeinsam für einen roten April, um gegen die Zukunft des Elends und der ökologischen Krise zu kämpfen, für die Macron und seine Polizei stehen!

Dieser Artikel erschien zuerst bei unserer französischen Schwesterorganisation Révolution Permanente.

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