Frankreich: Welche Perspektive gegen Macron und Barnier?

16.09.2024, Lesezeit 10 Min.
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Die Demonstrationen gegen die Ernennung Barniers zum Premierminister zeigten die Wut unter Teilen der Arbeiter:innen und der Jugend. Sie waren aber auch von einem Mangel an Perspektiven angesichts der Regimekrise und der Grenzen der parlamentarischen Strategie geprägt.

Am 7. September fand in ganz Frankreich eine Mobilisierung gegen Macrons antidemokratischen Machtmissbrauch statt, zu der La France Insoumise und die Jugendgewerkschaften Union Étudiante und Union Syndicale Lycéenne aufgerufen hatten. Über Hunderttausend Menschen mobilisierten laut dem Innenministerium im ganzen Land, während die Organisator:innen von 300.000 sprachen. Der Tag war durchdrungen von zahlreichen Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmer:innen insbesondere in links geprägten Großstädten – 3.000 in Nantes und Bordeaux, 5.000 in Rennes usw. –, dies obwohl es sich nach dem Sommer als schwache Mobilisierung angekündigt hatte. Der Tag zeigte somit einen kleinen Anstieg der Teilnehmerzahlen und wurde somit zum Ausdruck eines Teils der wütenden Wähler:innenschaft der „Neuen Volksfront“ (NFP).  

Fast zwei Monate nach den Parlamentswahlen konnte die Ernennung Barniers zum Premierminister die Regierungsreihen wieder auffüllen, aber auch den Inhalt der politischen Zusammensetzung leicht verändern. Zwar gab es zahlreiche Banner der France Insoumise, die das offizielle Motto der Demonstration „Lucie Castets in Matignon, sonst Absetzung Macrons“ (im Hôtel de Matignon liegt der Sitz der Primierminister) wiedergaben, jedoch führte der präsidiale Kraftakt zu einer Umlenkung der Wut auf den republikanischen Monarchen und die neue, von der extremen Rechten bejubelte Regierung, anstatt wie gewollt das Hauptaugenmerk auf die NFP-Kandidatur zu setzen.

Obwohl die Stimmung „familiär“ war, brachten viele junge Menschen, Beschäftigte aus dem Dienstleistungssektor und Rentner:innen gegenüber den anwesenden Journalisten ihre Wut deutlich zum Ausdruck. „Manu c’est fini, la démocratie c’est nous“  ( „Emmanuel, es ist vorbei, die Demokratie sind wir“) betonte ein Plakat in Auxerre, während die Krankenschwester Emma in Paris gegenüber RTL eine „Verweigerung der Demokratie“ anprangerte: „All die Menschen, die sich ausnahmsweise für diese Wahl mobilisiert haben, und von denen einige zum ersten Mal gewählt haben, wurden nicht respektiert“. Ein Gefühl der Ohnmacht, das Hortense in Paris aussprach und von Journalisten der Zeitung Le Monde geschildert wurde: „Wir haben uns engagiert, politisches Material erstellt. Wir haben den Eindruck, dass wir viel Energie verbraucht haben. Nur um zu sehen, wie die Rechte nach Matignon kommt“.

Für La France Insoumis, Lust auf mehr Wahlen?

Nach den Demonstrationen am Samstagabend war der Kampfgeist nicht besonders groß und die Unklarheit über das weitere Vorgehen allgegenwärtig. „Es ist schon eine Weile her, dass wir auf der Straße nicht mehr gehört wurden, jetzt werden wir an den Wahlurnen nicht mehr gehört“, stellte beispielsweise Alexandra, eine Projektleiterin, fest. Ähnlich äußert sich die Studentin Manon, für die „das Abgeben ihrer Stimme auf jeden Fall nichts bringen wird, solange Macron an der Macht ist“. Diese Einstellung spiegelt die Gefühle vieler NFP-Wähler:innen wider.

Während ein Teil der Bevölkerung angesichts des Schreckgespenstes von Bardella als Premierminister ihre Stimme abgegeben und sich die Nase zugehalten hat, unterstreicht das Wiedererstarken der extremen Rechten, die das Schicksal der Regierung in ihren Händen hält und ihre Politik maßgeblich beeinflussen will, die tiefen Grenzen einer Strategie der „Blockade“ durch die Wahlurnen. Nun antwortet die institutionelle Linke auf die Zweifel an der Wirksamkeit der Stimmabgabe im Kampf gegen Macron und die extreme Rechte sowie auf die Sorge, wie die politische Krise bewältigt werden kann, erneut mit dem Versprechen eines Wahlsiegs bei den nächsten Wahlen.

Auf seinem Blog versichert Manuel Bompard, Abgeordneter der France Insoumise: „Die Wahlstrategie der Insoumis ist erfolgreich“. Auf X beruhigt der neue LFI-Abgeordnete des Départements Seine-Saint-Denis Aly Diouara: „Wir haben nicht umsonst gewählt! Es bleibt nur noch, die Mobilisierung zu verstärken, um die Linke des Bruchs massiv an den Wahlurnen durchzusetzen“.

Jean-Luc Mélenchon hat seinerseits seit der Demonstration den Ton verschärft und urteilt, dass das französische Volk „in eine Revolution eingetreten“ sei… . Widersprüchlich? Nicht wirklich. Während er den Dialog mit der Wut über Macrons Machtübernahme sucht, stellt der Anführer der „Unbeugsamen“ weiterhin den Willen in den Mittelpunkt seiner Rede, den engen Rahmen der Institutionen zu respektieren. „Wir müssen die Form respektieren, die der Demokratie gegeben ist, denn sie ist der Kanal, durch den der Volkswille fließt. Ohne diese Form wären wir eine rohe, blinde Kraft, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu führen„, erklärte er und erinnerte daran, dass der Rückgriff auf Artikel 68, von dem aus die LFI Macron ‚absetzen“ will, den Rahmen der Verfassung vollständig respektiert… Hinter der verbalen Radikalität beabsichtigt Mélenchon, die tiefe und legitime Wut eines Teils der Arbeiter:innenklasse innerhalb der Grenzen des Regimes einzudämmen.

Wie geht es jetzt weiter? Um Macron zu entmachten, ist ein konsequenter Kampfplan dringend erforderlich.

Das Bestreben, Macron aus dem Weg zu räumen, ist legitim, aber indem die Insoumis als einzige Perspektive Bürgerproteste am Samstag, parlamentarische Manöver und die Vorbereitung der nächsten Wahlen vorschlagen, schließen sie die Wut in eine totale Sackgasse ein. Das haben die letzten Monate veranschaulicht, in denen die NFP dazu diente, die Parti Socialiste (PS) wiederzubeleben, die „republikanische Front“, um die makronistischen Abgeordneten in der Nationalversammlung zu retten, wobei das Ganze letztlich den Weg für eine rechte Regierung ebnete, die unter der Fuchtel der extremen Rechten stehen wird.

Wenn die Demonstrationen an diesem Samstag nicht der erhoffte Ansturm waren – Jean-Luc Mélenchon sprach sogar die Abwesenden an: „Warum seid ihr nicht da?“ -, dann liegt das daran, dass weder die Kandidatur von Lucie Castets zur Pemierministerin noch das Amtsenthebungsverfahren derzeit als Ausweg für die missachteten Bestrebungen der Arbeiter:innenklasse und der Jugend erscheinen, während die Hoffnung, eine linke Regierung durchzusetzen, weitgehend gesunken ist. In diesem Rahmen beginnt ein Teil der NFP-Wähler:innen, die Lehren aus dieser Erfahrung ziehen zu wollen.

Die wichtigste ist: Um Macron und die extreme Rechte zurückzudrängen, müssen die richtigen Methoden angewandt werden. Nicht die der „parlamentarischen Guerilla“, die völlig machtlos ist, sondern die des Klassenkampfes, von den Arbeits- und Studienplätzen aus, um eine Massenbewegung aufzubauen, die in der Lage ist, ein echtes Kräfteverhältnis durchzusetzen. Während die Ernennung Barniers neue Großoffensiven verspricht, wird seine Regierung dennoch fragil sein und kann geschlagen werden, aber dazu müssen wir mit den von der NFP genährten institutionellen Illusionen Schluss machen.

Eine solche Perspektive setzt jedoch voraus, dass gleichzeitig die Bilanzen des letzten Klassenkampfzyklus in Frankreich gezogen werden. Insbesondere die Niederlage im Kampf gegen die Rentenreform von 2023 erklärt das weit verbreitete Gefühl, dass „Streiken nicht mehr funktioniert„. Doch wenn eine der stärksten branchenübergreifenden Bewegungen der letzten Jahrzehnte Macron nicht in die Knie zwingen konnte, dann liegt das in erster Linie daran, dass die Strategie der isolierten Streiktage der Gewerkschaftsführungen und die Ablehnung des verlängerbaren Streiks sie gegen die Wand gefahren hat. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem das Gewerkschaftsverband CGT vorschlägt, am 1. Oktober mit einem neuen, routinemäßigen Datum, das von dem geringsten Kampfplan abgekoppelt ist, in den Herbst zu gehen, muss dieser „Druck“-Logik eine andere Strategie entgegengesetzt werden.

Welches Programm angesichts der Krise?

Um Macron zurückzudrängen, einen radikalisierten Präsidenten, der gezeigt hat, dass er zu jedem antidemokratischen Kraftakt bereit ist, braucht es eine selbstorganisierte Bewegung der gesamten Arbeitswelt, der Jugend und der verarmten Sektoren, die keine Illusionen in den Dialog mit Macron hegt und ein Programm hat, mit dem sie die Situation bewältigen kann. Ein politischer Generalstreik von der Art, wie er aus dem Kampf um die Renten hätte hervorgehen können, wenn die Gewerkschaftsführungen und die politischen Kräfte, die sich auf die „Linke des Bruchs“ berufen, sich dies zum Ziel gesetzt hätten.

Eine solche Bewegung müsste soziale Forderungen – die Profite der Kapitalist:innen für Lohnerhöhungen zu nutzen, die Rente ab 60 durchzusetzen oder die Arbeitszeit bei gleichem Lohn zu kürzen und angemessen zu verteilen – mit demokratischen Forderungen verknüpfen. Im Juli zeigte eine Ifop-Umfrage für die Zeitung Politis, dass 63% der Bevölkerung ein Ende der Fünften Republik und einen Regimewechsel anstreben, wobei diese Zahl in der Arbeiter:innenklasse auf 73% steigt. Angesichts der aktuellen Krise, die mit der Ernennung von Michel Barnier noch lange nicht beendet ist, hat diese Stimmung in Verbindung mit dem Hass auf Macron und die bürgerliche Antidemokratie ein erhebliches Potenzial, das sich bereits in der Gelbwestenbewegung stark ausgedrückt hatte.

Angesichts dieser Situation weigert sich die politische und gewerkschaftliche Linke, jegliche Forderungen zu formulieren, die eine Infragestellung des Regimes ausdrücken würden. Seit zwei Monaten schlägt die LFI faktisch vor, Macron durch einen anderen linken Monarchen zu ersetzen oder eine „Kohabitation“ durchzusetzen, wobei sie sich hütet, ihr ebenso verschwommenes wie beschränktes Projekt einer „Sechsten Republik“ ernsthaft zu verteidigen. Die CGT ihrerseits weicht der Frage schlichtweg aus. Gegen diese Logik wird der Aufbau einer Massenbewegung gegen Barnier und Macron über die Verteidigung eines radikaldemokratischen Programms laufen, das von der Forderung nach dem Rücktritt Macrons, aber auch nach der Abschaffung der Präsidentschaft der Republik oder des Senats ausgeht. Es muss Schluss sein mit diesen autoritären Institutionen, deren derzeitige Fragilität eine historische Chance darstellt.

Allerdings reicht es nicht aus, all dies zu fordern. Angesichts derer, die uns neue Versionen der dritten und vierten Republik verkaufen wollen, die mit einer völlig eingeschränkten Demokratie vereinbar sind, müssen wir etwas fordern, das darüber hinausgeht: eine einzige Versammlung, in der die Legislative und die Exekutive zusammengefasst sind, und deren gewählte Vertreter:innen für zwei Jahre gewählt werden, mit dem Durchschnittslohn bezahlt werden und jederzeit abgesetzt werden können. Eine solche Forderung würde nicht ausreichen, um die Diktatur der „Arbeitgeber“ zu beenden, aber sie wäre dennoch eine wichtige Brücke für den Aufbau einer politischen Arbeiter:innenbewegung, die die Machtfrage stellt und deren Mobilisierung und Selbstorganisation, um dieses Programm zu erzwingen und Fortschritte in Richtung der Perspektive einer Revolution ermöglichen würde.

Dieser Artikel erschien im Original am 9. September auf Révolution Permanente.

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