Frankreich: Strategisches Patt zwischen Macron und den Gelbwesten?
Das Ende der "Großen Debatte" offenbart Macron eine Reihe von Widersprüchen, nicht nur taktischer, sondern auch struktureller Natur. Die Gelben Westen ihrerseits haben es geschafft, sich im Laufe der Zeit zu strukturieren und die soziale Unterstützung aufrechtzuerhalten, ohne jedoch ihre Hauptforderung – Macrons Rücktritt – erreicht zu haben. Es handelt sich um ein strategisches Patt, das langfristig kaum aufrechterhalten zu sein wird.
Der Verlauf der „Großen Debatte“ [ein Manöver der Macron-Regierung, die darin bestand, Bürger*innenbefragungen anzustoßen] hatte es der französischen Exekutive ermöglicht, die Kontrolle über ihr Regierungshandeln und ihre Kommunikation wiederzuerlangen, nachdem der Monat Dezember für sie katastrophal verlaufen war. Damals wurde die Staatsmacht von der spontanen Aktion der Gelben Westen überrascht. Jetzt, wo die „Große Debatte“ bereits zu Ende gegangen ist, wird eine Reihe von nicht nur taktischen, sondern auch strukturellen Widersprüchen der Macron-Regierung sichtbar. Diese stellen ihre Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung angesichts neuer sozialer Proteste in Frage, während sie zugleich die Schwierigkeiten der Regierung offenbaren, wieder in die Offensive zu gehen, ohne angesichts des verfallenden Regimes der Fünften Republik zu große Risiken einzugehen.
Die Mobilisierungen der Gelben Westen haben es ihrerseits geschafft, sich im Laufe der Zeit zu strukturieren und die Unterstützung von mehr als 50% der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Dies schaffte sie unabhängig von der Protestkonjunktur, von der systematischen Verunglimpfung oder der gewaltsamen Repression, der sie ausgesetzt war. Sie schaffte es auch trotz der Tatsache, dass die Merkmale dieser sozialen Bewegung sie vorerst daran gehindert haben, sich auf andere Sektoren der Gesellschaft auszudehnen, um ihre Hauptforderung – den Rücktritt von Macron – konkretisieren zu können.
Es handelt sich um eine strategische Pattsituation, die im Laufe der Zeit kaum aufrechterhalten werden kann.
Das Zögern der Regierung: zwischen einer neuen Regungslosigkeit und dem Risiko einer schwereren Krise
Offensichtlich ist die Magie der „Großen Debatte“ vorbei oder, wie ein Analytiker behauptet, wir haben „die Grenzen der Gruppentherapie“ erreicht, wie man Meinungsumfragen bereits entnehmen kann: Nach dem Aufschwung der vergangenen drei Monate schrumpft die Beliebtheit der Exekutive wieder bei einem Teil der rechten Wähler*innenschaft, den sie zu verführen versucht hatte, um den Verlust des linksgerichteten Teils ihrer Wähler*innenschaft auszugleichen. Dieser rechte Sektor kritisiert ihre Unfähigkeit, die Ordnung aufrechtzuerhalten, nachdem die Repressionskräfte beim 20. Akt (Samstag, 30. März) wieder überwältigt wurden.
Während auf der Ebene der „Sicherheit“ die Mängel einen strukturellen Charakter haben, sind auch die Widersprüche der Macron-Regierung auf der politischen Ebene nicht geringer.
Die aufgeschobenen Entscheidungen von Macron, der in den kommenden Wochen anscheinend einige Maßnahmen zu ergreifen bereit ist, dürften seine Basis eher enttäuschen, statt sie zu befriedigen. Das könnte die Legitimitätskrise der jetzigen Regierung verschärfen , nachdem sie mit einem „demokratischen Zirkus“ die Krise der Gelben Westen abzumildern versuchte.
Wie die Zeitungen behaupten, ist sein enger Kreis unruhig: „Manchmal zögert der Präsident. Um den Aufstand zu unterdrücken, der sein Mandat erschüttert, träumt er von einer ‚überraschenden Maßnahme‘. Indem er die Spannung aufrechterhält und die ‚große Debatte‘ endlos verlängert, bereitet er seinen engsten Vertrauten am Ende Sorgen: ‚Wenn er enttäuscht, ist er ein toter Mann. Und er wird enttäuschen….‘, zittert einer. ‚Ich sehe keinen Ausweg daraus‘, sagt ein anderer, verzweifelt. Mit den sonnigen Tagen werden die Gelben Westen zurückkehren und an den Kreisverkehren grillen“.
In Wirklichkeit ist es so, dass jene Faktoren, die Macron und sein „weder linkes noch rechtes“ politisches Konstrukt voranbringen konnten, inzwischen an unüberwindliche Grenzen stoßen. Wenn die Macronsche Offensive eine Weile lang eine Reihe von Gegenreformen (Beschäftigung, Hochschule mit dem Parcoursup, Eisenbahn) ohne große Verluste durchsetzen konnte, so war dies der Toleranz eines guten Teils der Bevölkerung zu verdanken, dem seine Regierung als Ausdruck einer „neuen Politik“ erschien, sowie dem Vakuum, das durch den Zerfall der alten politischen Koalitionen entstand, und der soliden Unterstützung oder zumindest dem komplizenhaften Schweigen der Gewerkschaftsführungen. Die Krise der Gelben Westen hat seine „triumphale Bewegung“ stark in Frage gestellt.
Die endlose Krise, die durch den Fall Benalla ausgelöst wurde – der Sicherheitschef des Präsidenten, der sich als Polizist ausgab und während der Demonstration am 1. Mai 2018 in Paris zwei Demonstranten angriff – befleckte Macrons reine Weste. Zudem haben die politischen Oppositionen neue Impulse erhalten, obwohl sie nicht organisch neu zusammengesetzt wurden, wie die Schwierigkeiten beider Seiten angesichts der kommenden Europawahlen zeigen. Ein Beweis dafür ist die Rolle des Senats als Gegengewicht zur Benalla-Affäre oder die beispiellose „heilige Einheit“ zwischen Sozialist*innen, Kommunist*innen und Gaullist*innen für ein Referendum gegen die Privatisierung des Pariser Flughafens einzuleiten, die von Macron angestrebt wird: zwei Themen, die die Exekutive auf dem falschen Fuß erwischt haben, die in ihrem bonapartistischen Willen – jetzt in der Krise – gewohnt ist, ohne politische Opposition und vor allem ohne soziale Opposition zu regieren.
Das einzige Element, das sich unglaublicherweise über alle Phasen hinweg aufrecht erhalten hat, ist die Kontinuität der verräterischen Sozialpartnerschaft der Gewerkschaftsführungen – und das trotz der offenen Verschmähungen der Exekutive –, wie sich in der jüngsten Krise der Verhandlungen über die Reform der Arbeitslosenversicherung oder in ihrem andauernden Dialog über die Rentenreform zeigt. Diese offene Politik der Klassenversöhnung seitens der Gewerkschaftsführungen ist die Kehrseite ihrer kriminellen Politik in Bezug auf den Aufstand der Gelben Westen. Trotz der Tatsache, dass letztere eine Forderung nach einer Verbesserung der Kaufkraft, einschließlich einer Erhöhung des Mindestlohns, erhoben haben, hielten die Gewerkschaftsführungen an ihrem ohrenbetäubenden Schweigen fest und unternahmen angesichts der beispiellosen polizeilichen Repression mit Hunderten von Gefangenen oder Verstümmelten nicht die geringsten Maßnahmen.
In diesem Zusammenhang, der sich von der ersten Periode seines Mandats völlig unterscheidet, werden Macrons Entscheidungen immer umstrittener werden. Einigem Rat des „linken Flügels“ seiner politischen Formation La République en Marche (LREM, „Die Republik in Bewegung“) folgend, versucht er, die sozialen und territorialen Spannungen und Brüche zu verringern (gleichzeitig versucht er einen Teil der sozialdemokratischen Wähler*innenschaft, die ihn in der ersten oder zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen unterstützt haben, zurück zu gewinnen), indem er den Anschein einer „sozialen Wende“ erschafft. Zugleich kann ihn den Geist der Regungslosigkeit und „Hollandisierung“ (in Bezug auf das schallende Ende der Präsidentschaft des ehemaligen Präsidenten Hollande) den Rest seiner Amtszeit verfolgen.
Gerade das befürchten die erbittertsten Schreiberlinge der Bosse, wie der Redakteur von Les Echos, Jean-Francis Pecresse, der der Ansicht ist, dass „der Liberalismus eine Geisel der Großen Debatte ist“. Mit einem gewissen Quantum politisches Deliriums behauptet er: „Aber wohin ist der Liberalismus hingegangen? Er wird wahrscheinlich durch eine Hintertür, die der Steuersenkung, aus der großen Debatte herauskommen. Wunsch oder Beschluss, der Minister für öffentliche Finanzen, Gérald Darmanin, bestätigte dies vergangenen Sonntag. Im Übrigen dürfen wir jedoch leider nicht erwarten, dass die Beschwerden der Franzosen in der Großen Debatte ab Montag zu einem Streben nach mehr Freiheit für Arbeitgeber, Produzenten oder Händleren, weniger Garantien für Arbeitnehmer, weniger Sozialleistungen oder weniger öffentlichen Dienstleistungen führen werden. Das ist kein kleines Paradoxon: Aufgrund welch erstaunlichen Phänomens endet eine soziale Bewegung, die aus einer Forderung nach Liberalismus geboren wurde, in einer Forderung nach Sozialismus?“, um abschließend zu beklagen, dass „der gesunde anfängliche Zorn so gut von der radikalen Linken abgelenkt wurde, dass es Emmanuel Macron jetzt schwer fallen wird, in dieser großen Debatte nicht einen Teil seiner liberalen Ambitionen aufzugeben“. Ohne auch nur im Geringsten seine reaktionäre Paranoia zu teilen, die den Sozialismus und die radikale Linke überall sieht, ist klar: Er fürchtet, dass die Exekutive „ihren liberalen Ehrgeiz“ verlieren wird.
Wenn Macron, getrieben von den rechten Sektoren seines Kabinetts – vom Ministerpräsidenten bis zu den Verantwortlichen des Finanzministeriums – sowie von den konzentriertesten Teilen des Großkapitals, seine Reformen fortsetzt und radikalisiert, läuft er Gefahr, dass die aktuelle Unzufriedenheit in eine historische Krise der Fünften Republik mündet. Das wird bereits jetzt in Bezug auf die Spannungen innerhalb des Kabinetts wahrgenommen, sowohl in Steuerfragen als auch grundsätzlich bei der sensiblen und sozial brisanten Rentenreform.
Wie Stéphane Dupont von der gleichen Tageszeitung zum letzten Punkt kommentiert: „Diese neue Kakophonie, nach der im Rahmen der großen Debatte eingeleiteten Steuer-Kakophonie, verursacht größeres Unbehagen. Die Franzosen fragen sich zunehmend, was auf sie zukommen wird. Emmanuel Macron versprach während seiner Kampagne, das gesetzliche Rentenalter von 62 Jahren nicht zu überschreiten. Und diese Verpflichtung wurde im vergangenen Herbst vom Hohen Kommissar für die Reform der Altersversorgung, Jean-Paul Delevoye, offiziell bekräftigt. Aber heute wird es in Frage gestellt. Und wenn es auf höchster Ebene bestätigt werden sollte, welche Glaubwürdigkeit hätte es dann von nun an? Viele Franzosen sind überzeugt, dass ihre Rechte auf die eine oder andere Weise eingeschränkt werden. Ein Klima des Misstrauens, das die zukünftige Rentenreform zwangsläufig belasten wird“.
Es ist auch nicht auszuschließen, dass Macron versuchen wird, sein veraltetes politisches Gleichgewicht (das berühmte „alles zur gleichen Zeit“ des Macronismus) aufrechtzuerhalten, um seine ohnehin schon enge soziale Basis nicht zu verlieren, wodurch er aber weder die einen noch die anderen zufrieden stellen kann. Damit erhöhen sich die zentrifugalen Tendenzen seiner Macht und gleichzeitig die Risiken einer größeren politischen und grundlegend sozialen Opposition.
Die Kontinuität der Gelben Westen und die Schwierigkeiten ihrer sozialen Ausdehnung
Der Aufstand der Gelben Westen mit weitreichenden Mobilisierungen Samstag für Samstag, dauert nun fünf Monate an und ist die längste soziale Bewegung in der jüngsten Geschichte Frankreichs geworden. Das bedeutet, dass Macron – trotz seiner Manöver, wie im Dezember kleine Zugeständnisse zu machen (obwohl sie eine Demütigung für die gegenwärtige Regierung waren), zusammen mit einer entschlossenen Politik der Repression, um den Gegner zu ermüden – sein Ziel nicht erreicht hat.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sowohl die Massivität als auch die Spontaneität der Proteste der Gelben Westen zurückgegangen sind, ohne jedoch den Widerstand zu brechen. Die Bewegung, die dazu verurteilt ist, auf sich selbst zurückzuziehen, hat es nicht geschafft, sich auf andere soziale Sektoren auszudehnen, insbesondere auf die Jugend der Banlieues und grundlegend auf die Arbeiter*innenklasse der großen Betriebe. Jene Diskurse, die sowohl von der institutionellen Linken als auch von der reformistischen Bürokratie ausgingen und den Protest der Gelben Westen als die Verkörperung einer rechten und potenziell faschistischen Mobilisierung würden, spielten eine offensichtliche Rolle dabei, dass die „Ansteckung“ vermieden wurde. Dass die Furcht vor einer Ansteckung bestand, zeigt Macrons Forderung an die großen Bosse und CEOs, einen Jahresabschlussbonus zu zahlen, der sich insbesondere an Arbeiter*innen in Großunternehmen richtete. Aber dieses Risiko wurde, wie bereits gesagt, durch die kriminelle Rolle der Gewerkschaftsführungen gebannt, die den am stärksten verarmten Sektoren des Proletariats, die an der Spitze der Proteste stehen, den Rücken kehrten.
Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass die besondere Art und Weise, in der die Bewegung sich als „Volk“ strukturiert hat – obwohl sie duchaus auch gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen oder rassifizierte Personen in ihre Reihen aufgenommen hat –, ein gewichtiger Faktor der Begrenzung war. Denn diese Eingliederung der Arbeiter*innen geschieht durch die Auflösung ihres sozialen und politischen Hintergrunds in das klassenübergreifende Konglomerat des „Volkes“. Das heißt, es entsteht keine neue Artikulation, die potenziell hegemonialer sein könnte, weder durch eine Erweiterung ihrer Forderungen (z.B. gegen den staatlichen Rassismus) noch in Bezug auf die Kampfmethoden der Arbeiter*innenbewegung. Diese Eigenschaft stellt einen der Anziehungspunkte der Bewegung dar, ist aber gleichzeitig eine der Schranken ihrer Ausdehnung. Zwischen diesen inneren Schwierigkeiten für die Ausdehnung der Bewegung und der Weigerung der Regierung, sich einer ernsthaften Verhandlung zu stellen, die einen neuen sozialen Pakt mit den unteren Schichten des Proletariats ermöglichen würde, befinden sich die Gelben Westen nun in einer strategischen Sackgasse, trotz der Mobilisierungen jeden Samstag (mit ihren Höhen und Tiefen).
Im Rahmen dieser Stabilisierung in der gegenwärtigen Form der Bewegung lassen einige – wenn auch anfängliche – Elemente auch die Entstehung einer anderen Dynamik möglich scheinen. Zum ersten Mal seit Beginn ihres Kampfes hat sich der „Geist der Gelben Westen“ auf einer bedeutenden Skala auf einen neuen sozialen Bereich ausgedehnt: Lehrer*innen, insbesondere in Kindergärten und Grundschulen. Wie ein Redakteur in Les Echos in einem Artikel mit dem Titel „Blanquer und seine Gelben Westen“ (in Anspielung auf den Bildungsminister, der bis vor Kurzem als reformistischer “Bulldozer” der Regierung gehandhabt wurde, und der die Gewerkschaft in der Defensive gedrängt hatte) sagt: Angesichts einer als geringfügige Reform angesehene Maßnahme stößt Blanquer auf Widerstand, „ein wenig wie Macron mit den Gelben Westen. Jean-Michel Blanquer sieht sich einer Bewegung gegenüber, die sehr schwer zu erfassen ist, weil sie teilweise spontan, facettenreich, voller Gerüchte und falscher Informationen ist und von der radikalen Linken instrumentalisiert wird. Wenn Gewerkschaften anwesend sind, sind sie nicht immer verantwortlich. Sie waren ihm [Blanquer] gegenüber feindlich gesinnt, seit er sein Amt angetreten hat, aber damals hatte der Minister noch die Unterstützung von den Eltern. Das war in den letzten Wochen nicht gerade der Fall.“
Ist dies ein Zeichen dafür, dass die Gesamtheit der Lehrer*innen, unterstützt von ihren Eltern, in einen verallgemeinerten Kampf eintreten, und gleichzeitig ein Zeichen für eine mögliche Verallgemeinerung dieses Aufstandsgeistes auf andere Sektoren der organisierten Arbeiter*innenbewegung? Obwohl die Mobilisierung der Lehrer*innen zunimmt und die Regierung mit Drohungen und versöhnlerischen Gesten spielt, um die Bewegung zu ersticken, bevor sie sich entfaltet, hat diese noch nicht das Ausmaß erreicht, um eine solche Hypothese bestätigen zu können.
Andererseits hat die letzte „Versammlung der Versammlungen“ der Gelben Westen ein neues Ausmaß gegenüber der ersten Initiative in der Stadt Commercy erreicht. Die letzte Versammlung, die vom 5. bis 7. April in Saint Nazaire stattfand, versammelte mehr als 200 Delegationen aus ganz Frankreich. Dies zeigt einen kleinen Sprung in der Strukturierung der Bewegung sowie einen alternativen Pol, der offen gegen die selbsternannten Führer*innen der Bewegung gerichtet ist.
Diese Initiativen, die „soziale Konfrontation, Politisierung und Demokratisierung“ verbinden, kollidieren mit den beiden „Hindernissen“, auf die Isabelle Garo im letzten Kapitel „Für eine Vermittlungsstrategie“ ihres interessanten Buches Kommunismus und Strategie hinweist: „So vermittelt die Begeisterung für die direkte Demokratie in mancher Hinsicht die Illusion eines potenziell wiedervereinigten Volkes, das in der Lage ist, soziale Fragen durch Mehrheit und Referenden zu lösen und den grundlegenden Klassenkonflikt des Kapitalismus zu umgehen. Aber gleichzeitig zeugt sie von der Suche nach zeitgenössischen Formen der Selbstverwaltung, die kollektiven Entscheidungen und Debatten den Weg ebnen und das Prinzip der Volkssouveränität ernst nehmen. Sie richten sich gegen Maßnahmen, die trotz einer mehrheitlichen Ablehnung im Rahmen von Wahlprozessen aufgezwungen werden, die durch die erpresserische Logik des ‚kleineren Übels‘ und duch massive Enthaltungen verzerrt werden“.
Die heutigen Mobilisierungen stehen vor der strategischen Notwendigkeit, „das Problem der radikalen sozialen Transformation neu zu erforschen und die revolutionäre Kultur zu erneuern, indem sie sowohl den Fetisch des spontanen Aufstands als auch den ‚parlamentarischen Kretinismus‘ und die republikanische Götzenverehrung vermeiden, spiegelbildliche Versionen der Weigerung, die politische und soziale Konstruktion einer Klassenkampfbeziehung als Voraussetzung für die Erfindung einer effektiven Alternative zum Kapitalismus zu betrachten“.
Die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) sollte die Führung bei der Lösung dieser strategischen Notwendigkeit übernehmen. Das steht jedoch im Widerspruch zu ihrem ursprünglichen Projekt, das auf breiten Parteien basiert, d.h. einem Parteienprojekt mit programmatisch und strategisch mehrdeutigem Charakter. Diese theoretisch-politische Schwäche gegenüber der gegenwärtigen Bewegung drückte sich in einer Orientierung aus, die zwischen der Unterstützung der Gelben Westen und dem unterdrückten Wunsch, zu den stärker institutionalisierten Mobilisierungen der Linken und/oder der alten antineoliberalen Sozialbewegungen der letzten Jahrzehnte zurückzukehren, schwankt und den trotz all ihrer Widersprüche subversiven und revolutionären Charakter des gegenwärtigen Aufstands kleinredet. Die NPA muss die Lehren aus der gegenwärtigen Bewegung ziehen, welche die dringende Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären Arbeiter*innenpartei deutlich macht, einem unverzichtbaren Instrument im Kampf für die Hegemonie der Arbeiter*innen über die Klassenallianz, welche die Forderung der Gelben Westen in ihrem stärksten Moment – „Macron muss zurücktreten“ – in einem revolutionären Sinne zu Ende führen kann.
Die Rückkehr der sozialen Frage
Die Koordinaten der aktuellen Situation weisen im Moment auf eine Art strategisches Patt hin. Man könnte versucht sein, zur Definition der aktuellen Situation der Konfrontation zwischen Macron und der sozialen Bewegung die Kategorie des „hegemonialen Patt“ zu verwenden, die damals vom argentinischen gramscianischen Marxisten Juan Carlos Portantiero (1) verwendet wurde. Das heißt, eine Situation, in der der schwache Bonapartismus Macrons enorme Schwierigkeiten dabei hat, eine Gesellschaft durchzusetzen, die auf wachsenden strukturellen Ungleichheiten basiert und Opfer fordert, die zugleich nicht von irgendwelchen Versprechungen begleitet werden, wie es noch im Fall des Thatcherismus gegenüber der Mittelschicht war. Andererseits haben die Gelben Westen – obwohl sie die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Situation gerückt habenen und zweifellos die wichtigste Opposition gegen Macron sind – ebenso große Schwierigkeiten, eine effektive Alternative zum neoliberalen Kapitalismus darzustellen, den Macron bis zum Ende verkörpert.
Die Tendenzen zur Vertiefung der organischen Krise des französischen Kapitalismus, die sich nach 2008 vertieft haben und von denen Macron und die Gelben Westen zwei eloquente Beispiele sind (eines für die Zerstörung des alten politischen Systems, das andere für die historische Krise der Gewerkschaftsführungen angesichts der aktuellen neoliberalen Offensive), machen es jedoch unwahrscheinlich, dass diese Situation lange anhalten kann.
Wenn die Exekutive nicht beschließt, ihre Reformambitionen zurückzuschrauben und so auf soziale Befriedigung abzuzielen, wie von einem verängstigten Teil der herrschenden Klasse empfohlen, ist es kurzfristig am wahrscheinlichsten, dass die – möglicherweise radikalisierte – Kontinuität der gegenwärtigen Angriffe dazu führen wird, dass die Gelben Westen einer der ersten Ausdrucksformen einer wachsenden sozialen Opposition sind.
Fußnote
(1) In einem klassischen Text von 1973 („Herrschende Klassen und poliische Krise in Argentinien heute“) bekräftigte er, dass es Momente gibt, in denen „Kompromisslösungen vorherrschen, in denen ‚Zwischenkräfte‘, die nicht konsequent und langfristig die Interessen einer der sich gegenüberstehenden Klassen des ’strukturellen Knotens‘ vertreten, auf der politischen Bühne als Hauptalternativen erscheinen (….)“, und er betonte, dass „unter diesen Bedingungen eine Definition der heutigen Situation auf der politisch-sozialen Ebene als ‚Patt‘ sinnvoll wäre: ‚Jede der Gruppen hat genug Energie, um gegen die von den anderen ausgearbeiteten Projekte ein Veto einzulegen, aber keine schafft es, die notwendigen Kräfte zu bündeln, um das Land nach Belieben zu führen’“. Aber diese suggestive Definition wurde von Portantiero benutzt, um einen Konflikt innerhalb der Bourgeoisie zu definieren, und hier endet die ganze Relevanz der Verwendung dieser Definition im gegenwärtigen Moment, wo trotz der Schwierigkeiten von Macron die Fünfte Republik und der bürgerliche Staat, wie wir bereits in diesen Tagen sehen konnten, die bürgerliche Regierungsfähigkeit aufrechterhalten.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 13. April 2019 bei Révolution Permanente auf Französisch und bei La Izquierda Diario auf Spanisch.