Frankreich in der Ära Emmanuel Macrons

21.03.2018, Lesezeit 25 Min.
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Oberflächlich betrachtet wäre es zu früh, um von einer Ära zu sprechen. Doch im heutigen Frankreich sind solche politischen Einordnungen nicht an die Zeit, sondern an die Geschwindigkeit der politischen Entscheidungen gekoppelt, mit der Präsident Emmanuel Macron das Land umwälzt. Ein geradezu mörderisch-rasantes Tempo der Konterreformen, durch die nicht nur die sozialen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgelöscht werden sollen, sondern auch die sozialen Bewegungen des 21. Jahrhunderts gnadenlos bestraft werden sollen.

Wie die Tage vergehen: Als er im Sommer 2016 inmitten der Bewegung gegen das „Loi El Khomri“ seine Partei „En Marche“ ins Leben rief wurde er mit Eiern und Wasser beworfen. Damals galt er noch als Außenseiter, als Protegé des damaligen Präsidenten François Hollande. Doch Emmanuel Macron sah schon damals, dass er sich als Wirtschaftsminister auf einem sinkenden Schiff befand und dieses so schnell wie möglich verlassen musste. Vermutlich hätte niemand zu diesem Zeitpunkt gedacht, dass er nur ein Jahr später zum Präsidenten der französischen Republik gewählt werden würde.

Seitdem hat er ein Regime etabliert, das nicht nur den Ausnahmezustand in die Verfassung integriert hat, sondern auch eine Regierung, in der sich das Parlament und sogar das Kabinett durch ihn verkörpert sehen. „Jupiter“, wie er sich selbst auch verglich, ist tatsächlich ein Gott des CAC 40 (dem französischen Äquivalent zum DAX). In einer historischen Krise der Bourgeoisie und dem (vorläufigen?) Ende der Zwei-Parteien-Herrschaft vereinigte er die Bourgeoisie hinter sich – mit einem zutiefst arbeiter*innenfeindlichen Programm.

Macron definierte sich von Anfang in Abgrenzung zu seinem früheren Förderer François Hollande. Das musste er auch machen, ging doch mit Hollande auch seine Partei bei der Wahl im April 2017 unter. Gleichwohl setzte er an seinen zentralen Projekten an: der Arbeitsrechtsreform (Loi Travail XXL) und der verschärften Überwachung durch den Staat. Letzteres verankerte er im Herbst in die Verfassung und ließ zu, dass nun nahezu jede Person ohne größeren Anlass überwacht werden kann. Ersteres multiplizierte er mit einer Reform, welches nun auch Entlassungen außerhalb ökonomischer Gründe vorsehen kann. Und voilà, gerade diese Reform ist wie ein Stich im Herz der Arbeiter*innenklasse und begann wie schnelles Gift zu wirken wie die Massenentlassungen bei Carrefour, Pimkie und PSA zeigten.

Ein Bonapartismus Emmanuel Macrons?

Der Bonapartismus ist doch die wahre Religion der modernen Bourgeoisie (Friedrich Engels)

Ist in diesem Sinne auch die geplante Verfassungsreform zu verstehen, wonach das Parlament weniger Rechte bekommen soll? Es spricht einiges dafür, auch die erwähnte Etablierung des Ausnahmezustandes in die Verfassung. Allerdings resultiert seine Stärke immer noch aus der Schwäche der anderen Parteien, besonders des Front National und der Les Républicains. Die Verfassung der V. Republik begünstigt freilich bonapartistische Entwicklungen, gleichwohl war nach Charles De Gaulle niemand von ihnen ein „Bonaparte inmitten einer bonapartistischen Verfassung“. Macron tendiert aber in diese Richtung, eben wegen seiner Entschlossenheit, diese Reformen im Alleingang umzusetzen: Loi Travail XXL, Erhöhung des Sicherheitsapparates um 10.000 Einsatzkräfte, des Militärbudgets, Einführung des Plan Étudiant, Reform der SNCF. Er hat in zehn Monaten mehr durchgesetzt als Hollande und Sarkozy in zehn Jahren.

Und das, obwohl er eine fragile soziale Basis hat, die auch ihre Probleme in der Etablierung des Landes hat: Bis heute kann bei „La République En Marche“ nicht von einer klassischen Partei gesprochen werden, da ihr die Infrastruktur und die Verankerung in den ländlichen Gebieten fehlt. Macron bekam deswegen auch seine Probleme, als er Nachwahlen zum untergeordneten Senat nicht gewinnen konnte und für seine Verfassungsreform im Gegensatz zur Nationalversammlung, wo er über eine stabile Mehrheit verfügt, keine Mehrheit hat. Die Aufhebung des Ausnahmezustandes zur Permanenz sowie die Tatsache, dass er seit Beginn seiner Regierung mit Dekreten regiert und so auch die SNCF-Reform durchsetzen will, veranlasste dazu, von einem „schwachen Bonapartismus“ zu sprechen.

War es noch bei Hollande ein großer Skandal, dass er das Loi El Khomri per Dekret über den Verfassungsartikel 49 Absatz III vorbei am Parlament durchsetzte, ist es bei Macron zur Gewohnheit geworden, dass er mit Dekreten regiert. Zwar regt sich Wut gegen diese antidemokratische Regierungsform, doch diese ist ohnmächtig und kann sich noch nicht in Mobilisierungen umsetzen.

Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass der Bonapartismus ein Ausdruck eines atypischen Regimes ist. Macron mag sich in den Augen der Bourgeoisie, die sich vereinte vor Angst einer neuen sozialen Bewegung wie im Frühjahr 2016, als „Retter der Gesellschaft“ darstellen, wie es Karl Marx in seinen Schriften über den Bonapartismus kennzeichnete, doch ihm geht jegliches „Gleichgewicht zwischen den Klassen“ völlig abhanden. Verhasst bei der Arbeiter*innenklasse und mit einer sozialen Basis versehen, die sich erst entwickeln muss, weil sie erst noch viele enttäuschte und abgekehrte Anhänger*innen der Konservativen und besonders der Sozialist*innen sammelt – sein kombiniertes Kabinett ist ein sehr guter Ausdruck dessen. Noch kann nicht von einem Zustand gesprochen werden, „in der die sich bekämpfenden Kräfte sich in katastrophenhafter Weise im Gleichgewicht halten“ (Antonio Gramsci). Davon zeugen sowohl die mehr oder weniger kampflose Niederlage des Loi Travail XXL im Herbst letzten Jahres, als auch die relative Ruhe, mit der Macron das Land umgestalten kann, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regt.

Macron müsste zumindest den Anschein erwecken, als würde er mit seinem „sozialen Dialog“ den Arbeiter*innen Zugeständnisse machen wollen. Doch während er in einem Moment den CGT-Vorsitzenden Phillippe Martinez empfängt, plaudert er im nächsten Moment aus, dass er den „Gewerkschaften nichts zu sagen“ habe. Während die Wut der Arbeiter*innen angesichts von rekordverdächtigen sechs Millionen Arbeitslosen im Land wächst und sie selbst vor laufender Kamera den Wirtschaftsminister Bruno Le Maire offen konfrontieren, sieht Macron keine Eile, wenigstens symbolisch auf die Arbeiter*innen zuzugehen: „Ich spüre nichts von einer Wut im Lande.“ Nein, Macron sieht nicht die Notwendigkeit im Stile einer bonapartistischen Regierung wie sie Lenin auch auf die Kerenski-Regierung vergleichend projizierte, „allen Klassen skrupellos Versprechungen zu machen, aber keine einzige [zu halten]“.

Es darf trotz seiner sozialen Fragilität auch nicht vergessen werden, dass Macron immer noch mehr absolute Stimmen (über 20 Millionen im zweiten Wahldurchgang) als Hollande bzw. Sarkozy vor ihm bekam. Nur Jacques Chirac bekam jemals mehr absolute Stimmen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen als er 2002 nahezu von allen gegen Jean-Marine Le Pen unterstützt wurde. Das macht es ihm einfacher, seine soziale Basis zu erweitern und seine Kader aus den alten Parteien zu rekrutieren. Heutzutage sind es die gehobenen Mittelschichten, die seine Basis ausmachen und vor allem unter (jungen) Unternehmer*innen, aber auch in der Jugend zu finden sind. Es wäre falsch, von der Organisierung der „Zivilgesellschaft” bei „En Marche” zu sprechen, auch wenn in der Nationalversammlung viele neue Gesichter sitzen. Nichtsdestotrotz bietet diese Struktur für die oberen Kleinbürger*innen eine willkommene Gelegenheit, um sich und ihre Interessen wiederzufinden. Dementsprechend kann er in Zukunft auch als derjenige in Geschichte eingehen, der die Parteien des Bipartisme in seiner eigenen Plattform vereinigte – freilich nur nach eigener strenger Selektion wie die Ablehnung des verhassten ehemaligen Premierministers Manuel Valls zeigte.

Vielmehr ist Macron beziehungsweise das durch ihn verkörperte Selbstbewusstsein der Bourgeoisie par excellence ein Ausdruck einer Hegemonie, wenn nicht gar vorläufigen Unterwerfung der Arbeiter*innen unter das bürgerliche Regime – doch das ging freilich nicht ohne die gütige Hilfe der Gewerkschaftsführungen. Diese sind bisher seine Stütze, doch auch sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die Arbeiter*innen so schwach wie noch nie organisieren (nur zu etwa 6 Prozent, in der Privatwirtschaft sogar um die Hälfte weniger).

Die erstickte Studierendenbewegung?

Die Vollversammlungen erinnern an das Frühjahr 2016, aber die harte Repression des Staates in Verbund mit den Universitätsleitungen sorgten bisher für eine vorsichtige Dynamik unter der Jugend. Der Plan Étudiant ist dabei der Versuch, der kämpferischen Tradition der Studierendenbewegungen ein Ende zu setzen und die Avantgarde der sozialen Bewegungen zu brechen. Er beinhaltet, die Auswahl („Sélection“) der künftigen Studierenden über einem NC-ähnlichen Schlüssel („parcourship“) zu gestalten. Das bedeutet nicht nur, dass die Universitäten in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft geteilt werden, sondern auch, dass die Studierenden weniger Freiheit bei der Auswahl ihres Studienganges haben werden. Nicht nur selbst, sondern auch was das Angebot an Studiengängen angeht, da Fachbereiche zusammengelegt werden sollen.

Es verwundert daher nicht, dass unter den Studierenden und Schüler*innen eine große Wut herrscht, die sich auch durchaus in Aktionen ausdrücken. Anfang Februar gab es eine große Demonstration mit über 10.000 Jugendlichen und gerade diese Mobilisierung war ein Ausdruck der Vollsammlungen, an denen sich im ganzen Land Hunderte von Studierenden beteiligten. Doch abgesehen von Toulouse-Le Mirail, wo es einen kombinierten Angriff im Sinne einer Universitätszusammenlegung gibt und wo es Mitte März eine Vollversammlung mit über 3.000 (!) Studierenden und Universitätsbeschäftigten gab, sind die Mobilisierungen nicht weiter gekommen. Die Beteiligung der Studierenden für den Aktionstag am 22. März wird daher noch großes Potenzial aufweisen.

Neben anderen Gründen kommt für die Hemmung einer großen Studierendenbewegung der repressive Staatsapparat Macrons zum Tragen. Es scheint mittlerweile fast schon zum Alltag zu gehören, dass die Polizei in die Universität eindringt und kämpferische Studierende und das Universitätsgebäude besetzende Geflüchtete mit Schlagstöcken herausschmeißt — so geschehen in Paris, in Dijon oder auch in der Provinz Bourgogne.

Auch in Toulouse wurde infolge einer Verlängerung der Universitätsblockade durch die Studierenden und Arbeiter*innen eine Art Zwangsverwaltung eingeführt, in der alle Gremien durch die Bildungsministerin Frédérique Vidal aufgelöst und der Einsatz der Polizei auf dem Campus angekündigt wurde.

Auch bei den Demonstrationen gehört harte Polizeirepression zum Alltag. Das Regime hat es nicht vergessen, dass die Bewegung 2016 am Anfang von der Jugend getragen wurde, die dem kürzlich verhängten Ausnahmezustand trotzte und mit ihren mutigen Aktionen zur Initialzündung der Bewegung wurde. Dass die Jugend als Avantgarde der sozialen Bewegung fungiert, ist kein untypisches Phänomen in Frankreich. Die Rolle der neuen Reform ist, eben diese Rolle zu brechen und die Studierenden als Rekrut*innen für die Unternehmen zu begreifen. Die Massenuniversitäten sollen verschwinden, das nahezu kostenlose Studium, einer Errungenschaft früherer Bewegungen, wieder zum Privilegium gemacht werden.

Die Bourgeoisie hat ein langes Gedächtnis. Denn ähnliches strebte sie schon 1986 an und wollte damit eben erreichen, dass die Studierenden nicht mehr integraler Teil des Protestes sein können. Es ist vor diesem Hintergrund daher kein Zufall, dass nach den Studierenden (die Reform wurde schon verabschiedet) nun auch der andere große Sektor in Angriff genommen wird, wo sich in den letzten Jahren eine antikapitalistische Avantgarde gebildet hatte.

Der kommende Krieg um die SNCF

Analog zu diesem Angriff ist auch der mehr als 120 Seiten starke „Rapport Spinetta“ zu verstehen, der die staatliche Eisenbahngesellschaft SNCF reformieren will. Dem beamtenähnlichen Statut der Cheminots (Eisenbahn*innen) soll so ein Ende gesetzt, die SNCF der Privatisierung geöffnet werden (erste Interessenten haben sich bereits getroffen). Mehr als das: Die Zentralisierung des Landes soll weiter vorangetrieben und 9.000 km an Streckenkilometern gestrichen werden, weil es sich nicht mehr rentiere. Dazu gehören auch 56 Linien und 190 Bahnhöfe. Das ist auch ein Angriff auf den Öffentlichen Dienst, dem die SNCF angehört und der festlegt, dass es sich hierbei nicht um Profitsektoren handelt. Die Reform ist wie eine spezialisierte Weiterführung des Loi Travail XXL gegen die SNCF, wobei erwähnt werden muss, dass schon die Reform im Herbst letzten Jahres einen Angriff auf das Renteneintrittsalter bei der SNCF darstellte.

Gleichwohl versucht die Regierung mit einer beispiellosen Schmutzkampagne gegen die Arbeiter*innen, diese zu isolieren und als die „Privilegierten“ darzustellen. Blanker bürgerlicher Wahnsinn, gerade diejenigen als „privilegiert“ darzustellen, die selbst bei schwerstem Wetter draußen arbeiten und unter dem menschenverachtenden Schichtsystem schuften müssen, die nachweislich die Gesundheit beeinträchtigen. Anfang März starb sogar ein Arbeiter bei der Arbeit in Paris. Dabei wird auch seitens der Medien mit BFMTV nicht vor Lügen zurückgeschreckt, die dreisteste vielleicht die, dass die Cheminots für ihre Streiks bezahlt werden, was in Frankreich absolut nicht der Fall ist. Treffend sagte dazu Vincent Duse, Arbeiter bei PSA Mulhouse und bei der Gewerkschaft CGT: „Die einzigen Privilegierten in Frankreich sind heute die Bosse und ihre Lakaien, deren perfekte Inkarnation Spinetta ist.“

Die SNCF hat heute rund 50 Milliarden Euro Schulden und nicht das Salär von Guillaume Pepy (Geschäftsführer der SNCF), der 450.000 Euro jährlich abkassiert, ist das Problem dabei, sondern die angeblich privilegierte Stellung der Eisenbahnarbeiter*innen, indem darauf hingewiesen wird, dass sie Freifahrten bekommen können und unter gewissen Umständen früher in Rente gehen können …

Zentrale Aktionen sind mit dem Öffentlichen Dienst und den Studierenden am 22. März geplant, Streiks werden am 3. April folgen, wobei die CFDT das Zünglein an der Waage ist. Die SUD Rail wünscht sich bereits „einen harten und unbeugsamen Streik, der unbefristet ist“, während die CGT erst für eine „Periode von 24 Stunden streiken“ will, das heißt die der jederzeitigen Option weiterzumachen oder nicht. Wie erwartet, reagiert die CFDT am zögerlichsten, doch selbst der Generalsekretär der CFDT-Cheminots, Didier Auber, musste die „Sterilität der Verhandlungen“ eingestehen und zugeben: „Wir bewegen uns ernsthaft auf eine Mobilisierung hin. Es wird kein korporativer Streik werden, sondern zur Verteidigung der Eisenbahn.“ Positiv ist, dass die Gewerkschaften zur Mobilisierung des Öffentlichen Dienstes am 22. März aufgerufen haben. Dieser 22. März — genau 50 Jahre nach der Entstehung der Bewegung des 22. März — wird sehr wichtig werden, da eine große Beteiligung aller vertretenen Sektoren das Signal für eine neue soziale Bewegung geben kann. Für die Eisenbahner*innen wird erwartet, dass etwa jede*r Fünfte von ihnen an der Demonstration teilnehmen wird — etwa 25.000 von ihnen also.

In diesem Zusammenhang ist es besonders bemerkenswert, dass die Arbeiter*innen des Reinigungssubunternehmen ONET am 22. März an der Seite der Cheminots in den Streik treten werden. Obwohl sie an den Bahnhöfen der SNCF arbeiten, haben sie nicht das Statut der Cheminots. Und trotzdem haben sie ihre ausdrückliche Solidarität mit ihren Kolleg*innen betont und stellen sowieso mit ihrem Sieg im Dezember sowie mit der Art ihres Sieges ein Vorbild für die Cheminots dar. Mensch braucht keine prophetischen Gaben zu besitzen, um vorherzusehen, dass die Cheminots gewinnen werden, wenn sie die gleichen Methoden wie die ONET-Arbeiter*innen anwenden werden: Unbegrenzter Streik, Vollversammlungen, Demonstrationen, Drang nach politischer Unterstützung aus der Prominenz und der Politik etc.

Und doch teilen nicht alle diese Methoden des Sieges. Nicht alle besitzen die gleiche kämpferische Vorstellungskraft, mit der die 84 ONET-Arbeiter*innen nach 45 Tagen unbegrenzten Streiks und der Aufrechterhaltung eines ununterbrochenen Streikpostens gegen einen nationalen Konzern gewannen …

Philippe Martinez, Vorsitzender der CGT, fragte um ein Zusammentreffen mit dem Premierminister Edouard Phillippe, wo Phillippe seine „Methoden nicht zu ändern beabsichtigt“. Und das, obwohl die Regierung „offen für Diskussionen mit dem sozialen Partner ist“. Martinez: „Wenn es zu einem Konflikt kommt, dann ist es die totale Verantwortung der Regierung, die ihre Positionen nicht revidieren möchte.“ Weiter: „Die Regierung hat sich für eine Konfrontation entschieden.“ Aber ja doch! Schon vor einem Monat hatte sie diesen Weg gewählt und mit der Veröffentlichung des Rapport Spinetta eine wahrhaftige Kriegserklärung ausgesprochen – zur gleichen Zeit reagieren die Gewerkschaften zögerlich, erst am 15. März fanden die bei der SNCF aktiven Gewerkschaften (CGT-Cheminot, Unsa, SUD Rail, CFDT-Cheminot) zusammen, um einen Mobilisierungsplan zu entwerfen.

Das Ergebnis ist sehr zurückhaltend: Am 3. April wird es mit den Streiks losgehen, allerdings wird es nicht mehr als zwei Streiktage am Stück geben. Konkret wird immer an zwei von fünf Tagen gestreikt werden. Diese vorsichtige und antidemokratische Regelung, die über den Köpfen der SNCF-Beschäftigten getroffen wurde, wird es bis zum 28. Juni geben, was es umso schwieriger macht, dass die Streikbewegung sich spontan radikalisiert. Für die erste Schlacht in diesem Krieg ist dies ein desaströser Anfang: Alle 36 Streiktage sind nun in den bürgerlichen Zeitungen sichtbar und von vornherein bekannt. Kein Wunder, dass die Gegner*innen des Streikes bereits bestens gerüstet sind: Valérie Pécresse, konservative Vorsitzende der Pariser Region Ile-de-France kündigte bereits an, dass sie einen Notdienst bereitstellen und gar Fahrgelegenheiten organisieren werden. Fürwahr, besser konnten die Gewerkschaftsbürokratien diesen Streiks nicht torpedieren!

Dabei sind Streiks im Eisenbahnsektor wie prädestiniert, um einen großen wirtschaftlichen Schaden anzurichten – noch dazu sind einige Bereiche der Fahrer*innen der SNCF mit teilweise 80 bis 90 Prozent in der Gewerkschaft organisiert! Hinzukommend die Tatsache, dass 4,6 Millionen Personen jeden Tag die SNCF nutzen. Hätten die Gewerkschaften vorab den unbegrenzten Streik ausgerufen, die Reform wäre wohl in zwei bis drei Wochen in sich zusammengebrochen. Anasse Kazib, SNCF-Arbeiter und Delegierter der Gewerkschaft SUD Rail: „Und dafür haben sie einen Monat gebraucht?! Das ist ekelerregend! […] Seit einem Monat reden wir bei der SNCF über den Rapport Spinetta. Seit einem Monat warten wir darauf, in den unbegrenzten Streik gegen diese einzutreten, weil es ein historischer Angriff ist. Es ist die letzte große Schlacht bei der Eisenbahn.“

Zumal der Eisenbahnsektor einer ist, der auf historische Erfolge in der Geschichte der französischen Arbeiter*innenbewegung zählen kann. Abgesehen vom berühmten Mai 68, als sie ein integraler Teil der gigantischen Streikbewegung mit über zehn Millionen Arbeiter*innen waren, konnten sie auch 1986 und besonders 1995 als Teil von sozialen Bewegung dazu beitragen, dass ’86 die Universitätsreform zurückgenommen wurde und ’95 die Renten- und Sozialversicherungsreform.

Das Erbe unserer Klasse: Der Sieg 1995

Am Ende konnte das Statistikamt der Regierung über sechs Millionen Streiktage verzeichnen. Wir haben oben nicht zufällig eine Frist von nur zwei bis drei Wochen für die Regierung genannt, hätten die SNCF-Arbeiter*innen sofort mit dem unbegrenzten Streik angefangen. Der „Plan Juppé“ (benannt nach dem damaligen Premierminister Alain Juppé) sah nämlich auch für die SNCF-Beschäftigten das Ende des Renteneintrittsalters frühestens ab dem 55. Lebensjahr und die Streichung von tausenden Stellen vor. Es verwundert daher nicht, dass der Plan Spinetta immer wieder Reminiszenzen an ’95 hervorruft: Dieser Streik, der Anfang Dezember begann führte binnen zwei Wochen zum Kollaps des gesamten Verkehrssystems. Frankreich schien war in diesen zwei Wochen dermaßen paralysiert, dass viele auf andere Fahrmöglichkeiten angewiesen waren oder gar nicht zur Arbeit erscheinen konnten. Nicht nur die SNCF, sondern auch die Beschäftigen des Öffentlichen Personennahverkehr im Raum Paris beteiligten sich an dem historischen und größten Streik seit Mai 68 und sorgten dafür, dass der Plan Juppé am 15. Dezember von der Regierung zurückgenommen wurde.

Es ist nicht nur eine Anekdote, sich an die Streiks von 1995 zu erinnern. Vielmehr fungiert der Streik von vor 23 Jahren als Vorbild, wie eine soziale Bewegung einen Angriff der Regierung zurückschlagen kann. Dementsprechend äußerte sich auch Didier Le Reste, früherer Chef der CGT-Cheminot: „Alle Zutaten sind gegeben für eine Mobilisierung wie 1995.“

Gleichwohl sollte die damalige Streikbewegung nicht mystifiziert werden, da bei weitem nicht alle Potentiale ausgeschöpft wurden. Das Budget über die Sozialversicherung wurde trotzdem noch im Parlament abgestimmt. Noch im selben Jahr, am 30. Dezember 1995, wurde ein Gesetz erlassen, was der Regierung erlaubte, die künftige Sozialversicherung per Dekret zur regeln (zumindest über diesen Punkt ist das Macron-Regime heute hinaus).

Zwar wurde auch selbst auf dem nationalen Kongress der CGT über den Generalstreik diskutiert, allerdings wurde kein einheitlicher Plan für die Organisierung dessen getan (auch weil die CFDT die Streikfront bald verließ). Ein Merkmal, das sich bei vielen Streikbewegungen wie auch 2010 gegen die Rentenreform Sarkozys herauskristallisierte: Die Streiks verbreiten sich zwar wie ein Lauffeuer durch die verschiedenen Sektoren im ganzen Land, erscheinen allerdings durch den relativ niedrigen Organisierungsgrad sowie der Zersplitterung der Gewerkschaften eher als eine arithmetische Ansammlung von Streiks denn als ein organisierter Kampfplan.

Der faule Kompromiss heute ist wiederum ein lächerliches Spiegelbild dessen. Wie anders ist es zu erklären, dass zwei Tage gestreikt, dann wiederum drei Tage gearbeitet wird? Zumindest in der Rhetorik scheinen sich die Beteiligten einig zu sein, wenn mensch sich ihre Aussagen vergegenwärtigt: „Wir sind bereit für eine der wichtigsten sozialen Bewegungen in der Geschichte der SNCF“, so Laurent Brun, heutiger Vorsitzender der CGT-Cheminot. „Ich werde nicht der Vorsitzende der CGT-Cheminot sein, unter dem das Statut der Arbeiter*innen geändert wurde!“ Auch die SUD Rail forderte in einem Kommuniqué dazu auf, zu Beginn des Streikes Vollversammlungen zu machen, um über den künftigen Charakter des Streikes zu beraten.

Die Außenpolitik: Die Rückkehr Frankreichs

Die Macron-Regierung ist fest entschlossen, die Rückkehr Frankreichs als ebenbürtiger Partner Deutschlands voranzutreiben und trat dementsprechend selbstbewusst auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz auf. Just zu dem Zeitpunkt, als der Merkelismus in einer politischen Krise steckte. Macron nutzte geschickt die sechsmonatige Stagnation in der deutschen Regierungsbildung, um sich als pro-europäischer Reformer in den Mittelpunkt zu rücken, sozusagen als der letzte neoliberale Europäer, der den zentrifugalen Kräften in der EU (besonders jenen reaktionären Regierungen in Osteuropa) die Stirn bieten konnte und mittels einer Reform im Finanzressort die EU modernisieren will.

Die Überlegungen, die sogar bis dahin gingen, einen gemeinsame europäischen Finanzminister zu haben, stießen unter der alten Großen Koalition mit dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf Ablehnung, wurde doch darin immer wieder das deutsche Schreckgespenst der Vergemeinschaftung der Staatsschulden heraufbeschworen. Macron weiß sehr wohl, dass er eine derart weitreichende Reform nicht erwirken wird. Nichtsdestotrotz kommt ihm entgegen, dass die hegemoniale Rolle Deutschlands in der EU angesichts des Trumpismus und des Brexits vor einer neuen Herausforderung steht, die der deutsche Staat vorerst nicht alleine wird lösen können.

Es scheint, als gebe es zwischen Merkel und Macron nun mehr Gemeinsamkeiten als vor sechs Monaten und erst recht nach Macrons forschem Amtsantritt, wo er die EU stark kritisierte – und auch jetzt immer noch von einer „Neugründung der EU“ spricht. Besonders in der Asylpolitik ist es durchaus möglich, dass beide einen Block gegen die osteuropäischen Staaten bilden, damit diese mehr Geflüchtete aufnehmen müssen. Dies ist entgegen der bürgerlichen Propaganda kein Akt der Humanität, sondern ein Abwälzen der Verantwortung derjenigen beiden Staaten, die nicht nur im Nahen Osten kriegerisch aktiv, sondern eifrige Duellanten um den dritten Platz der größten Rüstungsexporte sind. Ob oder wie die Reformen Macrons letztendlich einen Eingang in die Realität finden werden, hängt immer noch davon ab, welche Zugeständnisse eine neue Merkel-Regierung ihm machen wird.

Neben der EU bestimmt das Handeln in den ehemaligen und heutigen Kolonien die Außenpolitik. Während im letzteren Fall speziell in Guyane seit Monaten eine explosive Situation herrscht, was sich in einen Generalstreik ausdrückt, kann in den ehemaligen Kolonien nicht davon gesprochen werden, dass Macron die über den französischen Imperialismus wütende Jugend gewinnen konnte. Wenn auch noch ungenügend, so ist doch die Jugend die Avantgarde im antiimperialistischen Protest gegen Macron: Enttäuscht von den lokalen nationalen Bourgeoisien sind sie sich der immer noch kriegerischen Rolle des französischen Imperialismus in ihren Ländern bewusst. Nicht umsonst fragte eine malische Studentin Macron in Ougadougou: „Wie viele malische Studierende gibt es in Frankreich im Vergleich zu den französischen Soldat*innen im Mali?“

Eine gewisse Paradoxie herrscht in der Syrien-Frage, wo Macron im Dezember als erster ankündigte, mit Assad reden zu wollen oder zu müssen und Monate später bei einem erneuten Giftgasangriff mit einem Vergeltungsangriff drohte. Allerdings ist Frankreich auch unter Macron noch weit davon entfernt, in einem Krieg wie in Syrien alleine irgendwelche Angriffe ausführen zu können. Es drückt vielmehr aus, dass Macron einen Versuch unternimmt, den französischen Einfluss in den ehemaligen Kolonien wieder zu erhöhen: Unvergessen, wie er seine libanesische Marionette Saad Hariri im Dezember wieder dazu brachte, als Ministerpräsident nach Beirut zurückzukehren.

Unvergessen seine schamlosen Auftritte in den ehemaligen Kolonien wie Algerien oder Mali, wo er die dortige Bevölkerung abschätzig beleidigte und besonders im Falle Algeriens dafür plädierte, die gestrige koloniale und heutige imperialistische Unterdrückung und Ausbeutung zu vergessen, dass er selbst „nicht aus einer Generation [komme], welche den Algerienkrieg kennt“.

Letzten Endes wird die Außenpolitik im Falle Macrons von der Innenpolitik bestimmt werden. Wenn er es tatsächlich schaffen sollte, die Reform der SNCF und der Verfassung durchzusetzen, dann ist schwer vorstellbar, inwiefern er im eigenen Lande noch organisiertherausgefordert werden sollte. Sicherlich ist unter der migrantischen Jugend ein Ausbruch wie 2005 jederzeit möglich, doch es wird immer schwerer sein, als organisierte Arbeiter*innenklasse auf künftige Reformen zu antworten.

Zu Beginn des Kampfes gegen das Loi Travail XXL schrieben wir, dass die französische Arbeiter*innenklasse am Scheideweg sei. Sie ist in einer Richtung ähnlich der englischen Arbeiter*innenklasse zu Beginn des Thatcherismus eingeschlagen mit der kampflosen Niederlage. Wenn nun diese Niederlage vertieft wird, dann wird sie genauso wie die englische Arbeiter*innenklasse atomisiert werden und ihre Stellung als Avantgarde der europäischen Arbeiter*innenklasse verlieren – es wäre eine Katastrophe für das weltweite Proletariat.

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