Frankreich: Gelbe Westen überall, trotz der Polizeibelagerung

17.12.2018, Lesezeit 9 Min.
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An diesem Samstag fand #ActeV der #GiletJaunes ("Gelbe Westen") in Frankreich statt. In der fünften Woche in Folge gingen Tausende von Demonstrant*innen auf die Straße, während die Polizei große Teile der Stadt abriegelte. Wladek Flakin berichtet direkt aus Paris.

Am Samstag wurde das ewige Grau des Pariser Winters wieder von dem Neongelb der Warnwesten durchdrungen. Nur wenige Tage vor Weihnachten fehlten in vielen Luxusläden die normalerweise üppigen Schaufensterdekorationen – sie waren stattdessen mit Sperrholz und Graffiti verkleidet. Die Bereitschaftspolizei blockierte große Teile der Stadt, insbesondere um die Champs Elysee, wo die schwersten Kämpfe stattfanden. Trotz der Repression konnten Demonstrant*innen in gelben Westen überall auftauchen und den Verkehr blockieren. Der Gesang „Gilets Jaunes partout“ („Gelbe Westen überall“) erschien wie eine Realität.

Auch an diesem Samstag gab es wieder heftige Kämpfe auf der Champs Elysée, die die französische herrschende Klasse gerne als die schönste Allee der Welt bezeichnet. Die Polizei benutzte Gummigeschosse und Tränengas sowie Pferde, Panzer und Wasserwerfer, um Gruppen von Demonstrant*innen zu zerstreuen. Sie versuchten, jede Gruppe von mehr als 100 oder 200 Personen einzukesseln und drangsalierten sie mit Schlagstöcken und Pfefferspray.

Wie in der vergangenen Woche versammelten sich um 10 Uhr am Bahnhof von St. Lazare mehrere tausend Menschen, die von Arbeiter*innen, der radikalen Linken, antirassistischen und LGBTI*-Initiativen aufgerufen wurden. Aber diese Demonstration wurde sofort eingekesselt, und die Teilnehmer*innen mussten sich in kleine Gruppen aufteilen, um andere Teile der Stadt zu erreichen. Eine weitere Kundgebung fand auf dem Opernplatz statt. Hier waren mehrere tausend Gelbwesten stundenlang von Polizeifahrzeugen und Panzern umgeben.

Dies war #ActeV, der fünfte Samstag der Proteste, und es gab einen deutlichen Rückgang im Vergleich zu den letzten zwei Wochen. Am 1. und 8. Dezember hatte der französische Staat praktisch die Kontrolle über die zentralen Bezirke in Paris verloren. Wie letzte Woche gab es 89.000 Polizist*innen im ganzen Land, davon 8.000 in der Hauptstadt. Die französische Bourgeoisie hatte für diesen einen Tag ihren gesamten Repressionsapparat mobilisiert.

Rückgang in Paris, starke Mobilisierungen andernorts

In Städten wie Toulouse und Bordeaux waren die Mobilisierungen größer und entschlossener denn je. In beiden Städten versammelten sich trotz riesiger Polizeiaufgebote mit Panzern und Wasserwerfern, Blendgranaten und Tränengas tausende Menschen. Erneut wurden hunderte Menschen verletzt, und doch fand in Toulouse laut Medienberichten die größte Demonstration des Landes statt.

Die bürgerlichen Medien konzentrierten sich hingegen allein auf den Rückgang der Zahlen in Paris. Dies war eine Tatsache, und es gab sechs Faktoren, die dazu beitrugen:

1. Repression. Am Samstag letzter Woche wurden über 1.000 Menschen im ganzen Land verhaftet. Die harte Repression machte einige Menschen entschlossener – und verschreckte andere. Darüber hinaus wurden Hunderte von Menschen an Polizeikontrollstellen an den Mautstellen auf den Autobahnen angehalten und an der Einfahrt in die Hauptstadt gehindert.

2. Terrorismus. Die Regierung nutzte den Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Straßburg, um die Gelben Westen zu drängen, ihre Demonstration abzusagen. Der moderateste Flügel der Bewegung beugte sich dem Druck. Aber die Anführer*innen anderer Sektoren lehnten diesen zynischen Trick ab: Die Versammlung auf dem Opernplatz begann mit einer Schweigeminute für die Opfer von Straßburg, aber auch für die bei Protesten getöteten Gelbwesten.

3. Erschöpfung. Nach fünf Wochen halb-aufständischer Demonstrationen, parallel zu den Straßenblockaden rund um die Uhr an Kreisverkehren im ganzen Land, leiden viele Demonstrant*innen unter körperlicher Erschöpfung. Viele haben Urlaub von ihrer Arbeit genommen, wodurch sich ihre ohnehin schon prekäre finanzielle Situation verschlimmert hat.

4. Zugeständnisse. Am vergangenen Montag hielt Präsident Emmanuel Macron eine Rede, in der er kleinere Zugeständnisse wie eine staatliche Beihilfe für einige Personen, die den Mindestlohn erhalten, vorschlug. Diese Maßnahmen fanden fast überall Verachtung – aber der Verzicht auf die Erhöhung der Kraftstoffsteuer, die der ursprüngliche Anstoß der Bewegung war, reichte aus, damit einige Demonstrant*innen rechtfertigen konnten, zuhause zu bleiben.

5. Verrat. Gelbwesten haben versucht, Teile der Wirtschaft zu lähmen. Der nächste Schritt wäre, die Methoden der Arbeiter*innenbewegung anzuwenden und für einen Generalstreik zu kämpfen. Doch die Gewerkschaftsbürokratien haben dies verhindert und statt eines Generalstreiks zur Verbindung mit den Gelben Westen einen zahnlosen „Aktionstag“ aufgerufen, der alle enttäuschte.

6. Wetter. Auch wenn revolutionäre Situationen schon bei viel schlechterem Wetter gereift sind, muss die Tatsache, dass die Temperatur am Samstag fast zehn Grad niedriger war als in der Vorwoche – direkt um den Gefrierpunkt herum, mit leichtem Regen den ganzen Nachmittag und Abend über – ebenfalls eine Wirkung gehabt haben.

Referendum

Bedeutet das, dass die Bewegung rückläufig ist? Wird Macron die Initiative zurückerlangen? Der „Président du Patron“ (der Präsident der Kapitalist*innen) wird fast überall verachtet. Das hochgradig zentralisierte Präsidialsystem der Französischen Republik bietet für eine solche Situation nur wenige Alternativen – und Macrons Mandat läuft noch fast vier Jahre. Doch welche soziale Kraft wird ihn stürzen können?

Trotz ihrer Entschlossenheit können die Gelben Westen nicht gewinnen, ohne ihre Bewegung auszudehnen. Für uns als revolutionäre Marxist*innen bedeutet dies, soziale Forderungen mit einem radikal-demokratischen Programm zu verbinden, um die Gesamtheit der Fünften Republik der französischen Bourgeoisie in Frage zu stellen. Das einzige Mittel, dies zu erreichen, ist die Organisation von Aktionskomitees, die für einen Generalstreik kämpfen.

Trotz Macrons anhaltender Schwäche könnte die Gelbwesten-Bewegung Opfer ihrer eigenen Verwirrung werden. Ein Slogan, der am Samstag überall sichtbar war – auf Westen und Schildern geschrieben und in Interviews erklärt – war das „RIC“ oder „Referendum auf Initiative von Bürger*innen“. Dies ist ein Vorschlag, der von einem Aktivisten mit Verbindungen zur extremen Rechten entwickelt wurde, um nationale Referenden in die französische Verfassung aufzunehmen.

Volksabstimmungen sind eine beliebte Methode von Autokrat*innen und Faschist*innen. Sie erzeugen eine Illusion von Demokratie und verwandeln die arbeitende Bevölkerung von einer zusammenhängenden sozialen Gruppe in eine Masse atomisierter „Bürger*innen“. Allein in einer Wahlkabine oder vor einem Computer sitzend, werden sie zum Futter für rechte Demagog*innen. Eine große Zahl von Gelbwesten glaubt, dass Volksabstimmungen, indem sie den Willen der Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck bringen, das diskreditierte, korrupte politische Regime beenden könnten. Aber selbst wenn ein Referendum stattfinden sollte, das den Interessen der Kapitalist*innen zuwiderlief, wer würde es dann umsetzen? Macron vielleicht?

Ein radikal-demokratisches Programm geht davon aus, dass die Fünfte Republik und die quasi-monarchische Institution des Präsidenten überwunden werden muss, und erhebt die Forderung einer einzigen repräsentativen Versammlung, die von allen Einwohner*innen des Landes über 16 Jahren unabhängig von ihrer Nationalität gewählt wird. Diese Versammlung würde alle grundlegenden Fragen diskutieren und entscheiden, unabhängig von allen früheren Verfassungen, unabhängig von den nicht gewählten Richter*innen und Staatsfunktionär*innen. Eine solche Art von radikaler Demokratie in der Tradition der Pariser Kommune von 1871 würde alle öffentlichen Posten (nicht nur Abgeordnete) von Wahlen (und jederzeitiger Abwahl) abhängig machen. Die Inhaber*innen der Posten würden keinerlei Privilegien genießen und nur das Durchschnittsgehalt von Arbeiter*innen erhalten. Diese Art von radikaler Demokratie ist das, was benötigt wird, um die Forderungen der Gelben Westen zu erfüllen – und nicht ein Referendum, das der jetzigen Verfassung hinzugefügt würde.

Eine solche Versammlung würde nicht nur über politische, sondern auch wirtschaftliche Fragen reden. Wir als Marxist*innen würden für eine demokratisch organisierte Planwirtschaft eintreten, die auf gewählten Rätestrukturen in den Fabriken, Betrieben, Universitäten, Schulen und Wohnvierteln basiert. Solange wir für diese Perspektive noch keine Mehrheit haben, unterstützen wir das radikal-demokratische Programm, um die Erfahrungen der Massen mit der Fünften Republik und ihren Institutionen zu beschleunigen.

Revolution liegt in der Luft

Wenn man Frankreich von außen betrachtet, ist es leicht zu glauben, dass dies nur eine der endlosen sozialen Bewegungen ist, die das Land zwei- bis dreimal im Jahr zu erschüttern scheinen. Streiken die Franzosen*Französinnen nicht einfach gerne? Am Samstag war die Zahl der Demonstrant*innen auf den Straßen geringer als in der Vorwoche, und die Arbeiter*innenbewegung hat ihre Stärke nicht unter Beweis gestellt.

Doch nicht nur die Gelben Westen, auch die Meinungsführer*innen der Bourgeoisie sprechen ständig von der Gefahr der Revolution. Die Französische Republik kann mit Unterdrückung an der Macht bleiben, aber diese Praxis zerstört ihre Legitimität gegenüber weiten Teilen der Bevölkerung. Seit den 1970er Jahren hat es in keinem der zentralen imperialistischen Länder revolutionäre Erfahrungen gegeben. Jetzt kehrt die Revolution in die Vorstellungskraft der arbeitenden Menschen zurück.

Vor allem die Studierenden Frankreichs sind in den letzten zwei Wochen auf die Straße gegangen – 50.000 waren am vergangenen Dienstag im ganzen Land im Streik. Ihre Bewegung begann mit Forderungen gegen ein neues Auswahlsystem an den Universitäten, wird aber heute weitgehend von der heftigen Repression befeuert, unter der sie gelitten hat. Eine neue Generation kommt mit wenigen Illusionen in der Republik der Bourgeoisie ins Erwachsenenalter. Das bedeutet, dass – selbst wenn Macron diese Krise überstehen kann und die Bewegung der Gelben Weste zurückgehen sollte – es noch größere Konflikte am Horizont gibt. Jetzt ist es an der Zeit, eine revolutionäre sozialistische Linke aufzubauen, die Arbeiter*innen und Jugendliche vereint – in Frankreich und auf der ganzen Welt.

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