Frankreich: „Eine breite Front gegen Polizeigewalt aufbauen“
Der Trauermarsch für Nahel hat die letzten Nächte mehrere tausend Leute versammelt. Es war eine Demonstration der Gefühle und der Wut, die seit zwei Tagen zum Ausdruck kommen. Eine Entrüstung, die über einzelne Viertel hinausgeht und die Frage nach einer gesamtgesellschaftlichen Antwort aufwirft.
Wir veröffentlichen eine Übersetzung der Bilanz unseres Genossen Anasse Kazib, Eisenbahner, Aktivist und Teil unserer französischen Schwesterzeitung und -organisation Révolution Permanente.
Die Revolten, die am Dienstag ausgebrochen sind, haben große Ähnlichkeiten mit denen im Jahr 2005. Seit dem Tod von Zyed und Bouna haben wir keine zweitägigen Revolten in mehr als fünfzig Städten mehr gesehen. Die jetzige Situation markiert offensichtlich einen Sprung in der Radikalität nach dem x-ten Toten in den städtischen Vierteln, wie es auch die Aktionen, die sich gegen die Institutionen des Staates richten, bezeugen. Sei es das gestürmte Gefängnis in Fresne, das angegriffene Polizeikommissariat in Mantes-la-Jolie oder geplünderte Polizeiuniformen, es handelt sich in jedem Fall um organisierte Angriffe gegen die Machtzentren des Staates.
Der französische Innenminister Darmanin musste selbst zugeben, dass es die „Symbole der Republik“ sind, gegen die sich die Attacken vor allem richten. Und auch wenn es sicher einzelne Fälle gab, in denen ein Supermarkt geplündert wurde, so haben die Zusammenstöße insgesamt doch einen tief politischen Charakter. Die Generation, an diesen Abenden mobilisiert wird, ist oft nach 2005 geboren und hat nicht miterlebt, was sich damals abgespielt hat. Trotzdem hat der Kampf gegen die Polizeigewalt der letzten 15 Jahre die Einstellungen dieser Jugendlichen geprägt und ihnen erlaubt, mit dieser Geschichte zu leben. Zu der Wut über den Mord an Nahel gesellt sich offenkundig das ganze soziale Elend, die Verschlechterung der öffentlichen Versorgung und der Autoritarismus, den die Bewohner:innen der Randbezirke täglich erleben.
Selbst die Tatsache, dass Abgeordnete sich gezwungen fühlen, Rufe zur Ordnung zu verweigern, ist ein Symptom des allgemeinen Überdrusses, der sich in der Bevölkerung und in den sozialen Netzwerken ausdrückt. Viele Kommentare stellen einen Bezug zur revolutionären Geschichte dieses Landes her. Andere bezeugen einen Enthusiasmus darüber, dass die Spannungen diesmal wirklich explodieren und die Polizei und der Staat im Visier stehen.
Dieser Ausdruck der Radikalität wurzelt in den vergangenen sieben Jahren, in denen sich der zunehmende Klassenkampf und die autoritäre Radikalisierung des Staates gegenseitig angetrieben habe: vom Gesetz El Khomri 2016 über die Rentenbewegungen und die Gelbwestenbewegung 2018 und deren gewaltsame Unterdrückung bis zur kürzlichen Auflösung der Umweltschutzgruppierung „Les Souléments de la terre“ (dt. „die Erhebungen der Erde“) oder die Repression gegen Gewerkschaftsaktivist:innen. Die Tatsache, dass die sozialen und ökologischen Bewegungen, die französischen Vorstädte und die Jugend der großen Städte unter den Präsidentschaften von Hollande und Macron allesamt massive polizeiliche Repression widerfahren haben, hat heute ein starkes Gefühl der Solidarität unter ihnen geschaffen und ein Band hergestellt zwischen ihnen und dem Kampf der Jugend der Randbezirke heute.
Ich habe einen Kommentar gelesen, in dem stand, „die haben Eier, dass sie jetzt das machen, was man nach den Gelbwesten hätte tun müssen“. Das soll wohl heißen: die bisherigen sozialen Bewegungen hätten mehr Wut und größere Radikalität zum Ausdruck bringen müssen. Das bezeugt ganz real das Gefühl der Verbundenheit, das sich mit dem Mord an Nahel hergestellt hat. Dieses Gefühl ist das Ergebnis von Jahren des antirassistischen Kampfes, des Klassenkampfes, des ökologischen Kampfes und so weiter. Die Situation 2005 war anders, insofern die politische und ökonomische Situation in Frankreich noch eine andere und die Krise des Regimes weniger tief war. Dadurch war es der Macht damals möglich, die Revolten zu isolieren, indem sie mit dem Finger auf „die Gewalttaten“ der Jugendlichen zeigten.
Damals hat man schnell die Jugendlichen dem Proletariat gegenübergestellt, denen sie angeblich die Autos anzündeten und die dann nicht mehr auf Arbeit fahren konnten. Aber heute weiß das Proletariat selbst nicht mehr, wie seine Zukunft aussehen soll, außer auf der Arbeit zu verrecken und ihren Kindern eine perspektivlose Welt zu hinterlassen. Jene Geschichte der Spaltung wird dieses Mal also schwerer zu verkaufen sein. Es gibt eine Ablehnung und ein wichtiges Misstrauen gegenüber der Macht, den Medien und der Polizei. Die Waffen, die der Staat 2005 noch hatte, um die Revolten zu ersticken, sind heute nach dem Tod von Nahel viel schwächer als damals.
Die Leute haben verstanden, dass die Polizei die Jugendlichen der Randbezirke tötet, wie sie jenen ein Auge aussticht, die sich gegen eine Kraftstoffsteuer, ein Wasserreservoire oder die Rentenreform aussprechen. Sie haben gesehen, was die Polizei mit der Jugend von Paris macht, wenn sie auf die Straße geht. Die Zukunft wird zeigen, wie es weitergeht. Ich weiß nicht, ob es sich entwickeln wird wie 2005, als die Revolten über mehrere Wochen andauerten. Aber es ist klar, dass die Krise der Macht und des Macronismus, nach fünf Monaten des Kampfes um die Renten und mit einer immens hohen Ablehnung in der Bevölkerung, die Lage verändert. Dass sich der Staat nun gezwungen sieht, in der Nationalversammlung eine Schweigeminute einzulegen, wie Innenminister Darmanin an die Justiz und die Wahrheit zu appellieren und den Polizisten, der Nahel ermordet hat, in Gewahrsam zu nehmen, zeigt die Anspannung an der Spitze des Staates.
Jetzt ist die Frage, wie es möglich sein wird, dass diese Revolten einen Block des politisches Widerstandes hervorbringen, der die Regierung abhalten kann von ihren rassistischen Gesetzesprojekten und ihren Plänen zur Stärkung ihres Autoritarismus. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Tod von Nahel sich in Revolten in den Randbezirken der Städte verläuft, während wir auf Twitter zuschauen. Wir müssen politisch handeln, um die Macht auf allen Gebieten zurückzudrängen, nach dem Vorbild der BLM-Bewegung nach dem Tod von George Floyd.
Es ist daher von allerhöchster Dringlichkeit, eine breite Front anhand der Fragen der Polizeigewalt, des Autoritarismus und des staatlichen Rassismus aufzubauen, bevor die Staatsmaschine sich in Bewegung setzt und versucht, die Wut der Stadtviertel durch Gewalt und Isolierung zu erlöschen. Die Arbeiter:innenbewegung, die sich über Monate mobilisiert und auf Demonstrationen und Streikposten auch die Gewalt der Polizei widerfahren hat, muss eine wichtige Rolle dabei spielen, die Jugend der Randbezirke nicht isoliert zu lassen.
Doch es braucht auch ein Programm, das die Kämpfe gegen den Autoritarismus, Polizeigewalt und Rassismus mit den Kämpfen gegen Arbeitslosigkeit, für höhere Löhne und bessere soziale Versorgung verbindet. Das ist eine zentrale Perspektive, um eine gesamtgesellschaftliche Antwort gegen die Regierung vorzubereiten, auf dem Gebiet des Klassenkampfes.