Frankreich: Eine Antwort von unten auf den Autoritarismus des Staates
Mit dem Rückgriff auf Artikel 49.3 der Verfassung hat die französische Exekutive den Charakter der aktuellen Bewegung gegen die Rentenreform verändert. Nicht nur hat sich die Bewegung in ihren Methoden radikalisiert, sondern auch die Motive des Protests hat sich von einer sozialen Bewegung zu einer viel umfassenderen demokratischen Infragestellung des Staates ausgeweitet. Und wie beim Aufstand der Gelbwesten sind es wieder einmal Emmanuel Macron selbst und seine repressive Antwort, die in der Schusslinie stehen.
Warum ist der französische Staat besonders gewalttätig?
Die Explosivität des Klassenkampfes in Frankreich ist weitgehend auf den harten Charakter des bonapartistischen Regimes der Fünften Republik zurückzuführen. Diese Merkmale ergeben sich aus der Geschichte des französischen Staats sowie aus dem Aufbau des gaullistischen Regimes mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass in Frankreich, wie in den übrigen imperialistischen Demokratien, seit dem Aufkommen der modernen Arbeiter:innenbewegung eine zunehmende Integration der Gewerkschaften und reformistischen Parteien in das politische System stattgefunden hat. So hat Frankreich seit Beginn der Dritten Republik zahlreiche Sozialgesetze verabschiedet, die ihr Antlitz verändert haben. Zu nennen sind hier insbesondere die Gesetze zur Einführung des kostenlosen, allgemeinen und obligatorischen Schulunterrichts (1881-82), das Waldek-Rousseau-Gesetz, welche die Gründung von Gewerkschaften erlaubte (1884), die Einrichtung der Arbeitsaufsichtsbehörde, die ersten Gesetze zum Arbeitsschutz, zur medizinischen Versorgung und zu Arbeitsunfällen, das berühmte Laizismusgesetz zur Trennung von Kirche und Staat (1905) und die Einführung des Achtstundentages (1919). Diese Tendenz zur „Demokratisierung“ des Staates in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wurde jedoch von starken zentralistischen und autoritären Tendenzen begleitet. Die Besonderheit Frankreichs besteht darin, dass diese beiden Merkmale besonders ausgeprägt sind. Der Staat überragt in diesem Land alles; schon die absolute Monarchie hatte einen Verwaltungsapparat geschaffen, der der Nation zeitlich vorausging, die lokale Heterogenität zerstörte und die Effizienz der Staatsgewalt sicherstellte, welche dann später vom Jakobinismus der Dritten Republik noch verstärkt wurde. In Frankreich steht der Staat seit jeher im Zentrum der sozialen Beziehungen oder, wie Claude Serfati es ausdrückt, „…die staatlichen Institutionen sättigen den Raum der sozialen Beziehungen“. In seinem jüngsten Buch Der radikalisierte Staat. Frankreich im Zeitalter der bewaffneten Globalisierung stellt er fest:
Armee und Polizei haben die Aufgabe, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten und bilden in dieser Eigenschaft die irreduzible Grundlage des Staates. In Frankreich wissen wir jedoch, dass die staatlichen Institutionen den Raum der sozialen Beziehungen sättigen, weit entfernt von der von Hegel angekündigten Trennung zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Die jeweilige Stellung von Armee und Polizei innerhalb des Staatsapparates ist jedoch unterschiedlich. In Frankreich bildet die Armee mehr als in anderen westlichen Ländern seit Jahrhunderten das Rückgrat des Staates. Nach 1789 trat sie auf die politische Bühne, um ein neues Regime durchzusetzen. Alle Republiken, vom Direktorium 1799 bis zur Vierten Republik 1958, wurden durch einen von der Armee unterstützten Staatsstreich gestürzt. Die gewalttätige Feindseligkeit der Armee gegenüber der Republik wurde nach der massiven Repression gegen die Kommunarden abgemildert – eine Repression, die in den Augen der herrschenden Klasse und der republikanischen Regierung viel mehr zählte als die Niederlage im Krieg gegen Deutschland einige Monate zuvor. [1]
Und, wie Serfati selbst sagt, hat die Fünfte Republik diese Eigenschaften auf die Spitze getrieben:
Aber erst mit der Fünften Republik wurde die Armee in den Mittelpunkt des französischen Staates und der Gesellschaft gestellt. Diese gesellschaftspolitische Verwurzelung der Institution Militär beruht auf drei Verpflichtungen, die De Gaulle ihr gegenüber ausgesprochen hat und die von allen Präsidenten eingehalten wurden: der Besitz der Atomwaffen sichert die Aufrechterhaltung der Stellung Frankreichs in der Welt; eine Industriepolitik, die die Entwicklung und Produktion von Waffen zu einem Vektor der technologischen Innovation für die gesamte Industrie macht; und schließlich die Umstrukturierung des Expeditionskorps, um die ehemaligen Kolonien unter französischer militärisch-wirtschaftlicher Kontrolle zu halten. [2]
Die Fünfte Republik, die als Reaktion auf den strategischen Niedergang des französischen Imperialismus konzipiert war, garantierte weiterhin die Festigkeit der Exekutive und bewahrte gleichzeitig die Größe des Staates. Mit anderen Worten: Die vergrößerte Rolle der Institution des Präsidenten war entscheidend für die Aufrechterhaltung einer angemessenen Autonomie im Kontext der Durchsetzung der US-amerikanischen Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg, deren Einfluss bis heute auf Europa einwirkt, wie man am Krieg in der Ukraine sehen kann. Denn nach Ansicht der Anhänger:innen des bonapartistischen Regimes hätte die Anpassung der parlamentarischen Form bedeutet, sich in die geopolitische Irrelevanz zu begeben und sich in den Fesseln der Politik zu verfangen, was der gallische patriotische Stolz nicht akzeptieren konnte. Diese Vorrechte finden sich in Artikel 16 der aktuellen Verfassung wieder [welcher dem Präsidenten im Ausnahmezustand besondere Vorrechte einräumt, A.d.Ü.]. „Der Einfluss von Carl Schmitts bonapartistischen Vorstellungen vom Präsidenten als ‚Hüter der Verfassung‘ auf die Ausarbeitung dieses Verfassungstextes ist bekannt. Schmitt, der Rechtsberater von bonapartistischen Persönlichkeiten der Weimarer Republik wie Franz von Papen, Kurt von Schleicher und im Dritten Reich Hermann Göring war, beeinflusste über den Juristen René Capitant auch de Gaulle. Schmitt selbst rühmte sich damit: ‚Ich war sehr glücklich, dass Professor Capitant, der de Gaulle nahe stand, mich bis zu vier Mal zum Thema Verfassungsreform besucht hat. Der gesamte Artikel 16 der französischen Verfassung von 1958 über den Ausnahmezustand steht in engem Zusammenhang mit der Auslegung, die ich zu Artikel 48 der Weimarer Verfassung über den Ausnahmezustand gegeben habe'“ [3]. Dies geschah zur Zufriedenheit von de Gaulle, der die Verfassungskommission ausdrücklich um eine Bestimmung gebeten hatte, die verhindern sollte, dass Frankreich auf Ereignisse wie 1940 (deutsche Invasion) und 1954 (Niederlage in Indochina) oder den für de Gaulle unausweichlichen Rückzug aus Algerien unvorbereitet sein würde.
In der Folge erhielt die Verfassung der Fünften Republik 1962 einen erneuten vertikalistischen Schub, als Präsident de Gaulle unter offenem Bruch der Verfassung den Rücktritt von Premierminister Debré erzwang, der gegen die Abkommen von Evian war, welche den Algerienkrieg beendeten, und ihn durch einen seiner nicht gewählten Kollaborateure, Georges Pompidou, ersetzte. Im Oktober desselben Jahres wurde in einem Referendum das direkte Wahlrecht für das Staatsoberhaupt bestätigt. Durch diese Korrektur erhielt die Institution des Präsidenten die Legitimität des Volkes und wurde dem Parlament gleichgestellt, aber mit mehr Befugnissen ausgestattet. Die Fünfte Republik wurde zu einer republikanischen „Monarchie“, einer präsidialen Hypertrophie, dem am meisten auf eine Person zugeschnittenen politischen System des Westens. Mehr noch als in den Vereinigten Staaten, denn es fehlen die checks and balances, die auf der anderen Seite des Atlantiks existieren. Vom Kongress bis zum Obersten Gerichtshof, über die Autonomie der Bundesstaaten, die es in Frankreich einfach nicht gibt.
Dieses gewalttätige Regime wurde von Anfang an mit Blut getauft: Am 17. Oktober 1961 gingen mehr als 20.000 Algerier:innen in Frankreich auf die Straße, um gegen den Algerienkrieg und die von der Regierung verhängte Ausgangssperre zu protestieren. Diese friedliche Demonstration wurde von der Polizei blutig unterdrückt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist keine Demonstration in Europa von einem Staat so brutal behandelt worden. Der französische Staat hat die Verantwortung für dieses Massaker bis heute nicht anerkannt und behindert bis heute den Zugang zu den Archiven, während er sich weigert, die Verantwortung für die genaue Zahl der Opfer zu übernehmen.
Verstärkung der bonapartistischen Tendenzen und sprunghafter Anstieg von Klassenkampf und Gewalt
Die seit langem bestehende organische Krise des französischen Kapitalismus, die sich bereits zu Beginn des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts abzeichnete (Le Pens Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaft im Jahr 2002, die Niederlage bei der Abstimmung über den europäischen Verfassungsvertrag im Jahr 2005 und die Revolte der Banlieues im selben Jahr), hat sich unter den Präsidentschaften von Sarkozy und Hollande weiter verschärft und mit Macron einen Höhepunkt erreicht, wie die aktuelle Krise zeigt. In dessen zweiter Präsidentschaft haben sich die alten Koalitionen auf der Linken und der Rechten – die dem von und für de Gaulle entworfenen Regime Stabilität verliehen – immer mehr aufgelöst, wodurch sich das politische Leben in drei Pole aufgeteilt hat, im Rahmen der Schwäche des präsidialen Lagers. Diese Konstellation führt zu immer häufigeren Kurzschlüssen der demokratischen Mechanismen und zu einem wachsenden Hass auf die Figur des Präsidenten und zu seiner Isolierung geführt, wogegen die Mechanismen der Fünften Republik immer weniger einen Schutz darstellen. Der „tiefe Staat“, von dem jeder Präsident (einschließlich Macron) ein Ausdruck ist, hat jedoch nicht die Absicht, sich von der strategischen Figur des Landes oder von seinen Großmachtansprüchen zu lösen.
Die Präsidentschaft der Republik dient nämlich als versteckter Sammelpunkt für die Kräfte des Militarismus und der Reaktion, als getreuer Ausdruck der Tendenzen zur Verstärkung der Radikalisierung der französischen herrschenden Klasse insgesamt, nicht nur auf wirtschaftlichem und neoliberalem, sondern auch auf autoritärem und rassistischem Terrain. Zitieren wir noch einmal Serfati:
Diese Zentralität der Armee ist den Institutionen der Fünften Republik strukturell eingeschrieben, wird aber durch die zunehmende Diskreditierung des Präsidenten, insbesondere seit Sarkozy, Hollande und Macron, noch verstärkt. Diese Diskreditierung ist auf die Mittelmäßigkeit der Akteure zurückzuführen, die den präsidialen Bonapartismus verkörpern, auf die Schwächung des Status Frankreichs in der Welt und darüber hinaus auf die soziale Krise des Landes, die zu einer Ablehnung der Regierungspolitik führt. Im Rahmen der Verteidigungs- und Sicherheitskooperation neigt die Armee dazu, eine – wenn auch diskrete – Vormachtstellung einzunehmen. So sind beispielsweise die Kriege, die die Medien der Macht des Präsidenten zuschreiben – Sarkozys Krieg in Libyen und Hollandes Krieg in Mali – in Wirklichkeit Kriege, die mit der Armee entschieden wurden.
Diese im Verborgenen beschlossenen Militäroperationen zeigen, dass Frankreich die Vorrechte des gaullistischen Staates nutzen wird, um die erhebliche Unruhe und das Unbehagen in seiner Gesellschaft nach außen zu lenken, wie die enorme Aufstockung des Verteidigungshaushalts inmitten des Rentenstreits zeigt.
Dieses Erstarken bonapartistischer Tendenzen geht einher mit einer Krise der Vermittlungsinstanzen, die durch das Handeln der Exekutive selbst hervorgerufen wird, insbesondere während der Präsidentschaft Macrons. Gleichzeitig entsteht eine wachsende Verdrossenheit gegenüber dem demokratischen Regime insgesamt, welche „Elemente des Ostens“ im gramscianischen Sinne in der französischen Sozialformation hervorbringt, wie wir es bei den Gelbwesten beobachten konnten; gleichzeitig eine Tendenz auf Seiten der Demonstrant:innen, den Rückgriff auf ein höheres Maß an Gewalt zu legitimieren.
Ersteres zeigt sich in der Krise des „sozialen Dialogs“ – dem zentralen Instrument, mit dem die neoliberalen Reformen seit den 1980er Jahren durchgesetzt wurden, insbesondere durch die so genannten reformistischen Organisationen wie der Gewerkchaftsverband CFDT. Es ist diese Krise, die erklärt, warum CFDT-Chef Laurent Berger im Streit mit der Regierung weiter gegangen ist als seine Vorgänger. Wie Sophie Béroud und Martin Thibault in Le Monde Diplomatique erklären:
Seit der Wahl von Emmanuel Macron haben seine Regierungen die Gewerkschaften systematisch eingeschüchtert. Es gibt nicht mehr viel sozialen Dialog auf nationaler Ebene, wenn [der ehemalige Premierminister] Herr Edouard Philippe, [der ehemalige Premierminister] Herr Jean Castex und dann [die aktuelle Premierministerin] Frau Borne beschließen, die Personalvertretungsorgane (IRP) oder den Sozialschutz per Verordnung abzubauen. Der Antrag der Gewerkschaftskoordination Intersyndicalevom 9. März auf ein Treffen mit dem Präsidenten der Republik war nichts weiter als ein Wunsch. Trotz der Rekordzahl von Kundgebungen (fast 300 am 7. März) und Demonstrant:innen (3,5 Millionen nach Angaben der Gewerkschaften und 1,28 Millionen nach Angaben des Innenministeriums am selben Tag) hat sich die Premierministerin seit dem ersten Aktionstag am 19. Januar nicht herabgelassen, ihn zu treffen. Die Selbstgefälligkeit der Regierung hat dazu geführt, dass sie das Risiko eingeht, eine schlecht durchdachte Reform zu präsentieren. Die Verweigerung von Konsultationen hat dazu geführt, dass sie vernachlässigt hat, das einige Zugeständnisse zu einer Spaltung derIntersyndicaleführen könnten. Auf betrieblicher Ebene ist die Enttäuschung noch größer – und zwar schon vor der Rentenreform. Die gewählten Vertreter:innen neigen dazu, zu Expert:innen zu werden, zum Nachteil der kämpferischen Aktion vor Ort. In der heutigen Gewerkschaftsbewegung, erklärt ein ehemaliger SUD-Rail-Funktionär, „sind wir in Eile und in Sitzungen, die von der Geschäftsleitung bestimmt werden. Das ist ein echtes Drama. Es gibt Kolleg:innen, die sehr gute Delegierte sind, aber keine Gewerkschafter:innen“. Mit Macrons Verordnungen von 2017 hat sich die Situation weiter verschlechtert. Die Schaffung von Sozial- und Wirtschaftsausschüssen (CSE) hat die Distanz zu den Beschäftigten noch verstärkt. Wenn diese Ausschüsse darüber hinaus zu Echokammern für die Entscheidungen der Arbeitgeber werden, wird die Sackgasse offensichtlich, selbst für die Gewerkschafter:innen, die sich am meisten für den Dialog einsetzen. Ihre Entdemokratisierung auf nationaler und betrieblicher Ebene erklärt die Präsenz der so genannten „reformistischen“ Organisationen in derIntersyndicale. In Verbindung mit der allgemeinen Verärgerung und Brutalität der Behörden zwingt sie sie dazu, wieder in Richtung Konfrontation zu denken.
Aber dieser Sprung in der Institutionalisierung, der mit der vom Macronismus auf die Spitze getriebenen Krise des sozialen Dialogs einhergeht, verbindet sich in den letzten Jahrzehnten mit dem, was wir als Elemente des „Ostens“ bezeichnet haben, wie wir in unserem Buch Gilets Jaunes: Le Soulèvement dargelegt haben:
Ein Prozess der Schwächung der Zivilgesellschaft, insbesondere der „Festungen“ und „Kasematten“, um die gramscianischen Metaphern des erweiterten bürgerlichen Staates zur Kontrolle der Bevölkerung zu verwenden. Mit anderen Worten, die neoliberale Offensive der letzten Jahrzehnte hat eine ganze Reihe von Mechanismen geschwächt und auf ein ungeahntes Niveau herabgesetzt – wie das allgemeine Wahlrecht, die Massenparteien, die Gewerkschaften sowie verschiedene Vermittlungsinstanzen, neben der Schule oder dem Vereinswesen –, also den zentralen Mörtel, mit dem der Einfluss der herrschenden Klasse jenseits des Zwangsapparates (des Staates im engeren Sinne oder der bewaffneten Männer) aufrechterhalten wurde, wodurch ein Gefühl des sozialen und kulturellen Abstiegs entstand.
Diese Tendenz ist, wenn auch in anderen Formen, immer noch vorhanden. Die Krise des sozialen Dialogs zwang die Gewerkschaftsführungen, sich in den Mittelpunkt des sozialen Konflikts zu stellen, um ihn zu gestalten und in Druckaktionen innerhalb des Rahmens des Regimes der Fünften Republik zu kanalisieren. Aber diese Rückkehr der Gewerkschaften auf die politische Bühne – welche von vielen Journalist:innen und linken Soziolog:innen als Bruch mit der Krise der Vermittlungsinstanzen gefeiert wurde, die zur Bewegung der Gelbwesten geführt hatte – hat die Spuren der Gelbwesten nicht verwischt, wie wir in unserem oben zitierten Buch angedeutet haben, als wir feststellten, dass sie „… die bestehenden Beziehungen innerhalb der Arbeitswelt trotz des Gewichts und des Konservatismus der Bürokratien der offiziellen Arbeiter:innenbewegung tiefgreifend verändern werden“. Wie die beiden oben zitierten Autoren sagen:
Diese Demonstrationen erinnern notwendigerweise auch an die Aktionen der „Gelbwesten“ …. Ihre Fähigkeit, die Regierung zurückzudrängen, aber auch die routinemäßigen Codes der Demonstration zu sprengen, hat bei vielen Gewerkschaftsgruppen, in denen der Wunsch, sich zu wehren, sehr stark ist, Spuren hinterlassen. Ohne große Zurückhaltung hat sich das geäußert, nachdem Frau Borne am 16. März beschlossen hatte, ihre Regierung in die Pflicht zu nehmen, um die Reform sowohl gegenüber den Parlamentarier:innen als auch gegenüber einer Bevölkerung durchzusetzen, die sich hartnäckig gegen die Reform stellte. Auf Initiative der lokalen Gewerkschaften demonstrierten mehrere Abende hintereinander Tausende von Menschen in Paris, Lyon, Marseille, aber auch in Brest (15.000 Demonstrant:innen nach Angaben der CGT am 18. März, 6.000 nach Angaben der Polizei), Caen, Dijon, Roanne und Saint-Étienne. Die Mobilisierungen umfassten Rentner:innen, Studierende, die Arbeitswelt, fluoreszierende Westen. Und eine Menge Entschlossenheit [4].
Und dieser neue Charakter der Demonstrationen geht einher mit einer stärkeren Legitimierung der Gewaltanwendung durch die Demonstrant:innen, ein Phänomen, das wir schon bei den Gelbwesten gesehen haben. Neu ist, dass das Phänomen, das die unteren Schichten der Arbeiter:innenbewegung und Sektoren der Banlieues erfasst hatte, sich zunehmend auf die Jugend ausweitet, angetrieben durch die Verachtung des politischen Systems. Der Soziologe und Jugendspezialist Olivier Galland erklärt dies wie folgt:
Die Akzeptanz politischer Gewalt ist bei einem großen Teil der Jugendlichen gestiegen, die Toleranz gegenüber Konfrontationen mit gewählten Vertreter:innen oder der Polizei hat zugenommen. Sie stehen im Zusammenhang mit der Diskreditierung des politischen Systems, ein zentrales Thema, das uns alle angehen sollte. Viele junge Menschen sind der Meinung, dass die repräsentative Demokratie nicht mehr funktioniert und sogar, dass die Politiker:innen korrupt sind. Die meisten 18- bis 24-Jährigen sind dem politischen System sehr entfremdet, das sie nicht mehr interessiert. Ein Beweis dafür ist, dass mit jeder Wahl der Prozentsatz der jungen Menschen, die zur Wahl gehen, abnimmt. Wenn sie jedoch nicht mehr zur Wahl gehen, ist es legitim, wenn nicht mit Gewalt, so doch zumindest mit einer Form der direkten Aktion zu reagieren [5].
All diese explosive Mischung aus der Verstärkung bonapartistischer Putsche, den Anklagen des Innenministers gegen den „intellektuellen Terrorismus der extremen Linken“ als Antwort auf Anschuldigungen von Polizeigewalt, der Verhärtung des Klassenkampfes und einer größeren Akzeptanz von Gewalt, lassen uns – unabhängig vom Ausgang des aktuellen Kampfes – eine Fortsetzung der Instabilität und des hexagonalen [französischen] Fiebers in den kommenden Jahren vorhersagen. Dies gilt umso mehr, wenn man den zunehmenden Bankrott des französischen Kapitalismus berücksichtigt, der durch den Gewichtsverlust Frankreichs auf der internationalen Bühne, wie der Krieg in der Ukraine oder seine Rückschläge in Afrika zeigen, und die Fortsetzung seiner relativen Deindustrialisierung beschleunigt wird. Nichts verheißt Gutes für einen allgemeinen Wohlstand, der die starken sozialen und politischen Spannungen lindern könnte, die derzeit bestehen.
Gegen Macron und die Fünfte Republik, für eine einzige einheitliche Versammlung
Die derzeitige Bewegung hat Macron trotz der bewussten Weigerung der Gewerkschaftsführungen, sie zu politisieren, erneut ins Rampenlicht gerückt. „Macron, tritt zurück“ ist nicht mehr nur auf den Demonstrationen zu hören, sondern auch in den Stadien und bei Konzerten. Die Arbeiter:innenbewegung als Ganzes kann die Frage lösen, die die Gelbwesten auf den Tisch gelegt haben, aber nicht lösen konnten: die Vorbereitung des Generalstreiks zum Sturz von Macron. Selbst eine minimale elementare Forderung, wie die Rücknahme der Reform, ist mit diesem politischen Ziel verbunden.
Viele Arbeiter:innen, die diese Perspektive anstreben, fragen sich jedoch, was sie an ihre Stelle setzen sollen. La France Insoumise (LFI) und die institutionelle Linke schlagen nur den Rücktritt der Regierung vor und im besten Fall, wenn sie die Wahlen gewinnen, eine Kohabitation mit dem derzeitigen Präsidenten, der weiterhin die enormen Vorrechte genießt, die ihm von der Fünften Republik verliehen wurden. In einer Zeit, in der es hart auf hart kommt, schlagen die Befürworter:innen einer Sechsten Republik [6] neue institutionelle politische Auswege vor, die wie in der Vergangenheit zu neuen Enttäuschungen führen werden., wie nach dem Sieg des Streiks gegen die Rentenreform von 1995 mit der Koalition der Pluralen Linken, deren katastrophale Regierung zum Untergang der PS und zur Stärkung von Le Pen im Jahr 2002 führte.
Unsere Alternative sieht völlig anders aus, wie wir im Programm der Kampagne Anasse Kazib 2022 gesagt haben:
Die einzige fortschrittliche und lebensfähige Antwort auf die Krise, auf Macron und auf die Welt, die er uns verspricht, wird eine Regierung der Arbeiter:innen und der armen Massen sein, die aus unserer revolutionären Mobilisierung hervorgeht, um den Kapitalismus zu stürzen und eine andere Gesellschaftsform zu schaffen, die von unten geführt wird und auf demokratischer Vergesellschaftung und Planung der Produktion beruht. Im Gegensatz zu der bürokratischen Karikatur, die der „Realsozialismus“ des Ostens und der ehemaligen UdSSR verkörpert, wird eine kommunistische Gesellschaft tausendmal demokratischer sein als alles, was der Kapitalismus hervorgebracht hat. Sie wird den Planeten und die Menschheit, uns alle, vor der Katastrophe bewahren, die bereits im Gange ist.
Aber die Realität ist, dass wir noch nicht in der Lage sind, Macron durch eine Regierung der Arbeiter:innen, der armen Massen und aller Ausgebeuteten und Unterdrückten, im Bruch mit dem Kapitalismus, zu ersetzen. Die Mehrheit der Arbeiter:innen befindet sich trotz einer wachsenden Abneigung gegen die bestehenden Institutionen immer noch auf dem Terrain der bürgerlichen Demokratie. Die Dringlichkeit des Augenblicks besteht darin, entschlossen gegen die Pläne der Bourgeoisie für einen zunehmend autoritären Staat zu kämpfen, der sich gegen alle Ausgebeuteten und Unterdrückten richtet. Aber um den durch die fortschreitende autoritäre Radikalisierung verlorenen Boden zurückzugewinnen, dürfen wir nicht die Rückkehr zu den parlamentarischen Kombinationen der Dritten oder Vierten Republik vorschlagen, wie es die Anhänger:innen der LFI in ihren Wahlkampagnen tun; statt neue, erneuerte imperialistische Demokratien zu schaffen, müssen wir uns von dem inspirieren lassen, was die Französische Revolution so radikal machte.
Angesichts des heutigen republikanischen Autoritarismus müssen wir uns weigern, zuzulassen, dass sich die gesamte Organisation der Macht um einen präsidialen, durch allgemeine Wahlen bestätigten Monarchen dreht, der das Parlament in eine Echokammer verwandelt. Wir müssen den Senat abschaffen, eine Institution, die reaktionären Persönlichkeiten auf den Leib geschneidert ist und eine verzerrte und konservative Repräsentation des Landes darstellt, wie das übermäßige Gewicht des rechten Flügels in dieser Kammer, der im Lande fast nicht vorhanden ist, auf pathetische Weise zeigt. Und wir müssen auch ablehnen, dass der Verfassungsrat, der aus nicht gewählten Personen besteht und im Geheimen berät, das letzte Wort hat.
Wir müssen die Fünfte Republik abschaffen, die Figur des Präsidenten abschaffen und nach dem Vorbild des jakobinischen Konvents von 1793 eine einzige einheitliche Versammlung einrichten, deren Aufgabe nicht darin besteht, zu sprechen, während die Regierung regiert, sondern mit vereinten legislativen und exekutiven Kräften Gesetze zu erlassen und zu regieren. Die Mitglieder der Versammlung würden für zwei Jahre in allgemeinen Wahlen von allen Personen über 16 Jahren nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, ohne Unterscheidung nach Geschlecht oder Nationalität, und die Staatsbürger:innenschaft würde auf alle Personen ausgedehnt, die auf dem Staatsgebiet leben und arbeiten. Die Abgeordneten würden auf der Grundlage lokaler Versammlungen gewählt, die ständig von ihren Wähler:innen widerrufen werden können, wenn sich herausstellt, dass die getroffenen Entscheidungen im Widerspruch zu den Programmen stehen, für die sie gewählt wurden, und den Wünschen des Volkes zuwiderlaufen, wobei Neuwahlen abgehalten werden können, wenn dies von einer bestimmten Anzahl von Wähler:innen gefordert wird. Und um einer Professionalisierung der Politik mit ihren überhöhten Gehältern und privilegierten Pensionen entgegenzuwirken, würden die Abgeordneten das Gehalt durchschnittlicher Facharbeiter:innen oder Lehrer:innen erhalten. Dieses Programm hat nichts Utopisches an sich und ist eine Konstante in der französischen Geschichte. Wie Serfati sagt: „Die in der vorgeschlagenen Verfassung von 1793 verankerte Widerrufbarkeit wurde das ganze 19. Jahrhundert hindurch diskutiert und von der Pariser Kommune in die Praxis umgesetzt, als sie eine soziale, feministische und internationalistische Republik gründete“ [7].
Ein breiteres und großzügigeres demokratisches Regime, das die zunehmende Trennung zwischen Herrschenden und Beherrschten aufhebt, wo die Ersteren während ihrer Amtszeit die Entscheidungsgewalt monopolisieren und damit ihre Wähler:innen von den öffentlichen Angelegenheiten ausschließen, würde die politische Bildung der Arbeiter:innen und der Massen ermöglichen und den Kampf für eine Arbeiter:innenregierung erleichtern.
Dieser Kampf gegen den antidemokratischen Charakter der Institutionen der Fünften Republik ist jedoch untrennbar mit der außenpolitischen Rolle Frankreichs verbunden, d.h. mit dem Kampf gegen den französischen Imperialismus. Die zentrale Rolle der Armee im Regime der Fünften Republik geht Hand in Hand mit ihrer aktiven Rolle auf vielen Kontinenten, von Afrika über den Nahen Osten bis hin zum Indopazifik. Die Rolle des hexagonalen [französischen] Ökosystems der Rüstungsproduktion geht einher mit einer aggressiven Außenpolitik, die die schlimmsten Diktatoren stützt. Das nuklear dominierte Energiemodell lässt sich nicht von Frankreichs internationalem Status und dem Besitz von Atomwaffen als zentralem Element der Abschreckung trennen. Diese innere und äußere Dialektik schließt auf dem Gebiet der Geo- und Außenpolitik das geringste Zugeständnis an den imperialistischen Patriotismus, die Verteidigung der Frankophonie, den offenen Anspruch Frankreichs als Seemacht über fremde Meere oder die koloniale „Erinnerung“ aus. Es ist inakzeptabel, so wie Jean-Luc Mélenchon zu argumentieren, dass es auch nur die geringste Übereinstimmung zwischen der gegenwärtigen oder zukünftigen Politik des französischen Imperialismus und „dem allgemeinen menschlichen Interesse“ geben kann.
Die gegenwärtige Krise ist vielleicht eine der schwersten in der Geschichte der Fünften Republik, zusammen mit derjenigen, die das gaullistische Regime zehn Jahre nach dessen Machtantritt 1968 erschütterte. Der Unterschied im Überbau besteht zweifellos darin, dass die gegenwärtige Krise vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Krise der Hegemonie der französischen Bourgeoisie und ihrer Machtträger stattfindet.
Mehr denn je müssen wir den Moment für eine breite Kampagne dieser Art nutzen. Mit dem Putsch des Dekrets zur Umsetzung der Rentenreform und der äußerst brutalen Unterdrückung der Bewegung in den letzten Tagen hat die Regierung selbst eine Bresche für eine demokratische Kampagne gegen den Autoritarismus geschlagen, indem sie das Problem der bonapartistischen Institutionen der Fünften Republik und die Notwendigkeit einer radikaldemokratischen Antwort von unten auf den Vormarsch des autoritären und polizeilichen Staates in großem Umfang offenbart hat.
Übersetzung aus dem Spanischen von Ideas de Izquierda.
Fußnoten
[1] Claude Serfati, L’Etat radicalisé: La France à l’ère de la mondialisation armée, S. 17/18. Eigene Übersetzung.
[2] Ebd. Eigene Übersetzung.
[3] Einleitender Kommentar von Emilio Albamonte und Matías Maiello zu: Manuel Sanson, „En la refinería de Le Havre continúa la huelga, con el apoyo de Adèle Haenel y Frédéric Lordon“, Armas de la Crítica.
[4] „Du dialogue social à l’épreuve de force“, Le Monde Diplomatique, April 2023.
[5] Le Monde, 30.3.2023.
[6] La France Insoumise schlägt vor, eine Verfassungsänderung für eine Sechste Französische Republik durchzuführen, die die Macht des Präsidenten ein wenig einschränkt, aber keine grundsätzliche Veränderung im kapitalistischen und imperialistischen Charakter des französischen Staates bedeuten würde. A.d.Ü.
[7] Claude Serfati, a.a.O, S. 218. Eigene Übersetzung.