Frankreich: Die Selbstorgani­sierung der Basis und der Kampf gegen die Gewerkschafts­bürokratie

20.02.2020, Lesezeit 20 Min.
Übersetzung:
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In den mehr als 50 Tagen Streiks gegen die Macron-Regierung haben die Beschäftigten der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF und der Pariser Verkehrsgesellschaft RATP eine eigenes Koordinierungskomitee gebildet. Es ist ein Beispiel für Selbstorganisierung und Arbeiter*innendemokratie, das für die gesamte Arbeiter*innenklasse von Bedeutung ist.

Am 17. Januar trat ein neuer Akteur ins Rampenlicht der Medien – das RATP-SNCF-Koordinierungskomitee. Laurent Berger, der Generalsekretär der CFDT, warf ihm sofort vor, für die Aktion verantwortlich zu sein, die sich gegen den Sitz seiner Gewerkschaft richtete. (A.d.Ü.: Der Sitz des Französischen Demokratischen Gewerkschaftsbund CFDT war im Januar Ziel von Protesten von Arbeiter*innen geworden.) Doch was ist der Ursprung und was ist der Charakter dieser Organisation, die in der Pariser Region Île-de-France zum Ausdruck der radikalisierten Basis der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF und der Pariser Verkehrsbetriebe RATP geworden ist?

Obwohl die Gruppe bis dahin noch keinen Namen hatte, haben ihre Aktionen viel Aufmerksamkeit erregt, vor allem während der Feiertage zum Jahresende, als die Streikenden von ihren Gewerkschaftsführer*innen sich selbst überlassen wurden: Sie organisierten eine Kundgebung vor dem Sitz der RATP am 23. Dezember, gefolgt von einer Überraschungsaktion am Pariser Bahnhof Gare de Lyon, die den Verkehr auf einer der beiden automatisierten U-Bahn-Linien lahmlegte; am 26. Dezember eine Demonstration von mehr als 3.000 Menschen vom Bahnhof Gare de l’Est zum Bahnhof Gare Saint-Lazare, die von den Streikenden von Anfang bis Ende selbst aufgerufen und organisiert wurde; eine Aktion vor der Zentrale von La République en Marche (LREM), der Macron-Partei, am 2. Januar; ein Protest vor dem Sitz des Recycling-Unternehmens Derichebourg in Solidarität mit Adama Cissé, der dort Ende 2018 ungerechtfertigterweise entlassen worden war; sowie eine Aktion vor der Zentrale der CFDT am 17. Januar.

Doch die Bedeutung dieses Koordinierungskomitees geht weit darüber hinaus, schlagkräftige Aktionen zu organisieren. Es ist eine der wichtigsten Erfahrungen der Streikenden mit Selbstorganisierung und Arbeiter*innendemokratie, unabhängig von ihrer gewerkschaftlichen Organisierung. Es ist die weitreichendste Erfahrung seit denjenigen mit den Koordinierungskomitees zwischen Eisenbahner*innen und Krankenpfleger*innen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre.

In seinen besten Momenten ist es dem Koordinierungskomitee gelungen, Vertreter*innen (und oft auch einige der Anführer*innen) von etwa 15 Busdepots, zwei S-Bahn-Linien und fünf U-Bahn-Linien sowie mehreren Bahnhöfen und wichtigen Sektoren der SNCF in der Pariser Region zusammenzubringen, was es zu einem Schlüsselakteur bei der Mobilisierung in der Region gemacht hat.

Alles begann am 13. September…

Der Ausgangspunkt dieser Geschichte und des gesamten Prozesses, den wir gerade durchlaufen, ist zweifellos der 13. September 2019, ein Tag der Mobilisierung, der auf die RATP beschränkt war, der aber, um den Ausdruck einiger der Streikenden zu gebrauchen, „die Dinge wieder ins Lot brachte“. Alle erwarteten, dass es erst viel später zu einer Konfrontation kommen würde, nach der Veröffentlichung des Rentenreformgesetzes. Dabei rechneten sie aber nicht mit der Rückkehr der Methode des Streiks – ungeachtet der objektiven Schwierigkeiten, die aus der mangelnden Unterstützung durch die Gewerkschaftsführer*innen entstanden. Die Methode des Streiks war durch eine Reihe von Niederlagen und schlecht geführten Kämpfen diskreditiert worden. Das hatte unter anderem die Gelbwesten dazu gebracht, sie teilweise abzulehnen. Dennoch stellte im September die Arbeitsniederlegung von mehr als 90 Prozent der Beschäftigten bei der RATP die Wirksamkeit eines Massenstreiks unter Beweis – was im direkten Widerspruch zu einer Behauptung des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy steht, der 2008 sagte, dass, „wenn es einen Streik gibt, ihn niemand bemerkt.“

Und sie blieben dort nicht stehen. Noch am selben Tag bei einer Kundgebung vor der RATP-Zentrale fassten sie ihren Schlachtplan in einer Parole zusammen, die sie ihren Gewerkschaftsführer*innen zuriefen: „Unbefristeter Streik im Dezember! Unbefristeter Streik im Dezember!“ Der von den Gewerkschaften festgelegte Termin am 5. Dezember spiegelte somit den Druck der Basis wider (nach einem Augenblick des Zögerns der Gewerkschaftsführung der CGT bei der RATP). Von diesem Zeitpunkt an wurde der 5. Dezember nach und nach in Stein gemeißelt.

Der RATP-Streik am 13. September hatte also einen starken Einfluss auf die SNCF, wo der bittere Geschmack der Niederlage im Streik gegen den Eisenbahnpakt von 2018 anhielt. Aus ganz konkreten Gründen fühlen sich die Beschäftigten dieser beiden Unternehmen verbunden, einerseits weil sie im Grunde genommen im gleichen Beruf tätig sind, aber auch weil sie sogar zusammenarbeiten (wie auf Abschnitten der gemeinsam betriebenen S-Bahn-Linien). Das Gefühl, dass die Gelbwestenbewegung hier ihre Spuren hinterlassen hatte, war spürbar. Dies fand bei der SNCF seinen Ausdruck, als sich Lokführer*innen und Schaffner*innen nach einem Zugunglück in Champagne-Ardenne zu arbeiten weigerten oder in dem „wilden“ Streik im Bahnbetriebswerk in Châtillon.

Die Ursprünge des Koordinierungskomitees: Eine Facebook-Gruppe und die RATP-SNCF-Treffen

In Erwartung des unbefristeten Streiks, der am 5. Dezember beginnen würde, wurden in der Pariser Region rasch Verbindungen zwischen RATP- und SNCF-Beschäftigten hergestellt. Diese fanden zuerst auf Facebook statt, mit der Eröffnung einer Gruppe mit dem Namen „RATP-SNCF-Beschäftige: Einheit ist Stärke“, wo sich der erste Austausch abspielte, bevor in Saint-Denis am 16. Oktober ein erstes Treffen abgehalten wurde. Vorgeschlagen wurde es von Eisenbahner*innen der bahnhofsübergreifenden Kollektive („Intergares“), die sich nach dem Streik gegen den Eisenbahnpakt 2018 formiert hatten.

Drei jener „RATP-SNCF-Treffen“ fanden im Oktober und November statt. Sie stellten eine Art Embryo der Koordinierung dar, der es möglich machte, Verbindungen herzustellen und eine gemeinsame Arbeit in Vorbereitung auf den Dezemberstreik zu beginnen.

Diese Arbeit fand auf der Basis der sehr klaren Position statt, dass es nötig sei, für eine vollständige Rücknahme von Macrons Rentenrefom zu kämpfen, und dass die Basis weiterhin den Gewerkschaftsführer*innen ihre Agenda aufzwingen müssten. Vor allem aber handelte es sich um eine geduldige Arbeit, um die Kolleg*innen auf gemeinsamen Touren von RATP- und SNCF-Beschäftigen aufzuklären, die von ihrem dritten Treffen an von Lehrer*innen begleitet wurden.

Diese Treffen wurden fortgeführt, sobald der Streik begonnen hatte. Das erste fand bereits am 6. Dezember statt, weitere folgten in Wochen danach. Bis dahin brachten sie nur eine relative kleine Zahl von Sektoren zusammen, besonders jene, in denen die radikale Linke Mitglieder und Kontakte besaß.

Der Wendepunkt vom 20. Dezember

Erst Ende Dezember machten diese Treffen einen Satz nach vorn. Ein Rahmen entstand, der immer mehr einer echten Koordinierungsgruppe von Streikenden ähnelte. Nach einer Verhandlungssitzung mit der Regierung entschieden sich die Gewerkschaftsverbände am 19. Dezember, über die Feiertage eine Waffenruhe im Streik zu verkünden. Diese Position wurde explizit von der CFDT und dem kleineren Gewerkschaftsbund UNSA vertreten, von der CGT nur implizit. Ohne das Wort „Waffenruhe“ zu benutzen, erklärte der CGT-Generalsekretär Philippe Martinez an jenem Tag vor dem Matignon, dem offiziellen Amtssitz des französischen Premierministers, dass sich die Gewerkschaften „am 9. Januar für einen neuen branchenübergreifenden Aktionstag treffen“ würden.

Diese Nachricht war für die Streikenden der SNCF und der RATP wie eine kalte Dusche. Sie waren bereits zwei Wochen im unbefristeten Streik und verstanden sehr schnell, dass eine Waffenruhe konkret das Ende ihrer Bewegung bedeuten würde.

Anasse Kazib, ein Eisenbahner in Le Bourget, der 2018 eine Figur in der Bewegung gegen den Eisenbahnpakt gewesen war, war ein Beispiel für viele Streikende geworden, teilweise dank der bemerkenswerten Medienberichterstattung, in der er alle Attacken auseinandernahm, die im dem Reformprojekt zugrundeliegenden Delevoye-Bericht enthalten waren. Am gleichen Abend kündigte Kazib an, dass er auf der Facebook-Seite von Révolution Permanente einen Livestream veranstalten würde, um den anhaltenden Verrat durch die Gewerkschaftsführungen und die Nachwirkungen der Bewegung zu diskutieren, und dass er einen direkten Aufruf and die Streikenden der verschiedenen Sektoren richten würde.

Der Livestream wurde zu einem großen Erfolg. Mehr als 4.000 Menschen loggten sich ein. Zehntausende sahen sich in den folgenden Tagen die Aufzeichnung an. Die Meinung der Basis war deutlich: Niemand wollte von den Gewerkschaften eine Waffenruhe! Anasse Kazib schlug während des Livestreams vor, dass in den folgenden Tagen physische Treffen abgehalten werden sollten, um einen Schlachtplan zu diskutieren, mit dem sie über die Feiertage durchhalten könnten. vorgebracht

Plötzlich wurde die Idee einer Basiskoordinierung des Streiks, die bis dahin den meisten Leuten wie ein „Ding nur von politischen Aktivist*innen“ erschienen war, eine dringende Notwendigkeit in den Augen aller, ein unverzichtbares Werkzeug, um den Willen der Streikenden und die Fortsetzung der Bewegung gegen die Position der Gewerkschaftsführungen durchzusetzen.

Die gewerkschaftliche Waffenruhe und der Aufstieg der Basis

Das darauffolgende Treffen war ein ebenfalls ein Erfolg. Mehr als einhundert Streikende trafen sich in einem Kellerraum, der von Kolleg*innen der Gewerkschaft SUD-Rail vom Bahnhof Saint-Lazare bereitgestellt worden war, gemeinsam mit Vertreter*innen von mehr als einem Dutzend Busdepots, der Linien A und B, einiger U-Bahn-Linien und einiger Sektoren der SNCF. In einer Atmosphäre des offenen Austauschs erarbeiteten die Streikenden ihre eigene Agenda für die erste Woche der Ferien mit Aktionen in Einkaufszentren am Wochenende des 21. und 22. Dezember, um öffentliche Aufmerksamkeit herzustellen und Geld für die Streikkasse zu sammeln, einer Kundgebung vor dem Sitz der RATP am darauffolgenden Montag, um die Repression, die auf die Streikposten vor den Busdepots niederging, zu verurteilen, und einer selbstorganisierten Demonstration der Streikenden am Donnerstag, den 26. Dezember.

Die Kundgebung am 23. Dezember versammelte einige tausend Menschen, bevor sie zu einer spontanen Aktion am Bahnhof Gare de Lyon wurde und für einige Stunden den Verkehr auf der U-Bahn-Linie 1 lahmlegte, einer der beiden automatisierten Linien, die während des Streiks weiterbetrieben wurden.

An diesem Tag entdeckte die Presse verdutzt eine Macht, die zwei Wochen lang in den Medien verschwiegen worden war. Sie hatte hinter den Aufrufen der Gewerkschaftsverbände zu einer Waffenruhe gelauert: die Basis des Streiks. Es war eine Basis, die nicht nur gewillt war, den Abbruch der Bewegung zu verhindern, sondern sie im Gegenteil zu radikalisieren! Ein Ausdruck dieses kämpferischen Geistes: Als sie vor dem Bahnhof von der Polizei umstellt waren, schreckten die Beschäftigten der RATP und die Eisenbahner*innen nicht zurück und durchbrachen unter dem Jubel ihrer Kolleg*innen und Unterstützer*innen die Polizeiketten.

Nach den Ferien zwischen Familie und Streikposten kehrte das frischgebackene Koordinierungskomitee am 2. Weihnachtsfeiertag mit einer Demonstration vom Bahnhof Gare de l’Est zum Bahnhof Gare Saint-Lazare auf die Straßen zurück. Die Idee stammte von einem RATP-Beschäftigten, der während des Facebook-Livestreams vom 19. Dezember Anasse Kazib gefragt hatte, ob es möglich sei, dass die Streikenden ihre eigene Demonstration unabhängig von den Gewerkschaften organisierten. Das Treffen vom 20. Dezember entschied, sich dem anzunehmen, und mit der logistischen Unterstützung von SUD-Rail-Arbeiter*innen, die die Route mit den Behörden klärten und einen Van mit Lautsprecheranlage stellten, konnte die Demonstration losgehen.

Mehr als 3.000 Menschen folgten dem Aufruf zu dieser kämpferischen Demonstration, in der die Streikenden alle Aufgaben selbst übernahmen, von der Sicherheit bis hin zur Führung der Demonstration. Die Reden am Ende der Demonstration gaben den Beweis für ihren Stolz auf diesen Erfolg. Wie Karim vom Depot in Pavillon-sous-Bois erklärte: „Heute hat die Basis gesprochen. Die Basis war auf der Straße. Und offen gesagt haben wir gezeigt, dass wir so mobilisiert sind wie nie zuvor und dass wir bis zum Ende gehen werden!“

Die Demonstration verringerte auch deutlich die Kluft zu den Gelbwesten, von denen viele teilnahmen. Der Gelbwestenanführer Jérôme Rodrigues ergriff das Wort, um die Initiative der Streikenden zu begrüßen: „Bravo an euch. Ihr braucht keine Anführer. Ihr braucht eure Verbände nicht. Heute seid ihr wie die Stimme der Gelbwesten, die sich in den Straßen Gehör verschafft.“ Er rief danach zu einer weiteren Annäherung auf, nicht nur gegen die Rentenreform, sondern um „dieses System zu stürzen.“

Nichtsdestoweniger sah sich das Koordinierungskomitee niemals als eine antigewerkschaftliche Gruppierung, weshalb sie die Demonstrationsteilnehmer*innen auch dazu aufrief, sich der zwei Tage darauf stattfindenden Gewerkschaftsdemonstration anzuschließen, und dort einen eigenen Block von Streikenden organisierte.

Die Streikenden kommen zu Wort

Das Koordinierungskomitee beschränkte sich jedoch nicht darauf, solche schlagkräftigen Aktionen zu organisieren, auch wenn sie eine wichtige Rolle darin spielten, die Moral der Streikenden zu heben und den Medien zu zeigen – und über sie den anderen Arbeiter*innen im ganzen Land –, dass die Bewegung weiterging und dass es keine Waffenruhe geben würde. Es gab darüber hinaus den Streikenden der Basis eine Stimme, all jenen, die weiterhin tagtäglich Streikposten aufstellten und Streikversammlungen abhielten.

Anasse wurde de facto zum Sprecher des Koordinierungskomitees und sprach nicht nur bei Aktionen mit den Medien, sondern konfrontierte auch im Fernsehen direkt die Vertreter*innen der Regierung, die sich oft schwertaten, seine Argumente zu erwidern. Denn diese bezogen ihre Schlagkraft sowohl von der Überzeugung der Streikenden als auch von Anasses detaillierter Kenntnis der Empfehlungen des Delevoye-Berichts, die häufig diejenige ebenjener LREM-Vertreter*innen überstieg, die das Reformprojekt zu verteidigen hatten.

Der Wunsch, den Streikenden eine Stimme zu geben, konnte sich aber nicht allein darauf beschränken, weswegen das Koordinierungskomitee mehrere Pressekonferenzen abhielt. Die erste von ihnen nahm die Form einer Arbeiter*innenantwort auf die Neujahrsansprache von Macron an. In einem Café im Norden von Paris wandten sie sich vor der Presse „zuallererst an die Nutzer*innen des öffentlichen Nahverkehrs, die, wie wir wissen, von der verrotteten Strategie des Präsidenten betroffen sind.“ Dann kündigten sie an, 2020 den Kampf „gegen diese Reform, die der arbeitenden Bevölkerung und den zukünftigen Generationen nichts außer einer Welt der Prekarität anzubieten hat“, fortzuführen, und adressierten „alle Sektoren, privat wie öffentlich, und auch die Jugend, sich uns in diesem Kampf anzuschließen.“

Das Koordinierungskomitee veranstaltete weitere Pressekonferenzen, um die Repression während der Demonstration am 9. Januar und die Disziplinarmaßnahmen gegen streikende Arbeiter*innen anzuklagen und dann die Angriffe der Regierung und der Gewerkschaftsverbände nach der Aktion am Sitz der CFDT zu beantworten.

Ein Werkzeug, um den Streik zu organisieren, ihn auszuweiten und die Repression zu bekämpfen

Das Koordinierungskomitee stellte sich außerdem als ein effektives Werkzeug heraus, um den Streik selbst zu organisieren und zu koordinieren, insbesondere während der schwierigen Ferien zum Jahresende, als die Streikposten vor den Busdepots eines Großteils der Unterstützung beraubt waren, die sie an den anderen Morgen genossen hatten. Es fiel die Entscheidung, eine Taktik der rotierenden Streikposten anzuwenden: Jeden Tag konzentrierten sich die Streikenden und ihre Unterstützer*innen auf zwei Busdepots, jeweils eines im Norden und eines im Süden der Region Paris. Oft gelang es ihnen, die Abfahrt der Busse zu verhindern, entweder mithilfe des Streikposten selbst oder indem die Depotleitung die Polizei herbeirief, deren Repression die nicht-streikenden Kolleg*innen nicht tolerieren konnten und daraufhin von ihrem Recht, die Arbeit zu verweigern, Gebrauch machten.

Das Koordinierungskomitee beschränkte sich auch nicht darauf, Streikende in zwei Unternehmen zu organisieren, sondern initiierte Treffen mit vielen verschiedenen Sektoren, in Universitäten, im nationalen Schulsystem und sogar im privaten Sektor mit Delegationen zu den Raffinerien von Total in Grandpuits und dem Automobilwerk von PSA in Poissy, Yvelines.

Das Koordinierungskomitee war auch wichtig, um die Repression der Bosse und der Polizei gegen die Streikenden und ihre Unterstützer*innen zu erwidern. Jedes Mal, wenn Streikende festgenommen wurden, organisierte das Koordinierungskomitee Kundgebungen vor der jeweiligen Polizeiwache, bis die Kolleg*innen freigelassen wurden. Auf ähnliche Weise war sie daran beteiligt, all die RATP-Beschäftigten zu verteidigen, die wegen des Streiks Disziplinarmaßnahmen unterzogen wurden.

Der Fall von Hani Labidi ist sinnbildlich. Als Hauptorganisator des Streiks im Belliard-Depot im 18. Distrikt der Hauptstadt und als aktives Mitglied des Koordinierungskomitees sah sich Hani der RATP-Disziplinierung für Ereignisse ausgesetzt, die bereits vor Beginn des Streiks stattgefunden hatten. Die beiden massiven Kundgebungen, die das Koordinierungskomitee vor dem RATP-Gebäude abgehalten hatte, wo sich der Disziplinarausschuss traf, trugen stark dazu bei, dass die vom Unternehmen geforderte Strafe – eine einmonatige Suspendierung, die bis zur Entlassung ausgeweitet werden könnte – auf eine 15-tägige Suspendierung reduziert wurde. In einer Geste der Solidarität, die Zeugnis über die im Koordinierungskomitee entstandene Geschwisterlichkeit zwischen den Streikenden der RATP und der SNCF ablegte, entschieden sich Eisenbahner*innen in Le Bourget dazu, fünfhundert Euro aus der Streikkasse zu nutzen, um Hanis Lohnverlust auszugleichen.

Keine Streikführung, aber eine Gegenmacht der streikenden Basis

Das RATP-SNCF-Koordinierungskomitee führte den Streik niemals an. Es hätte dafür einer stärkeren Präsenz bedurft, insbesondere in der U-Bahn, einer der Säulen des Streiks. Es hätte dafür einer festeren Grundlage von Vollversammlungen und/oder Streikkomitees bedurft. Diese jedoch waren beschränkt, aufgrund einer Kombination von durch den Streik selbst verursachten Reiseschwierigkeiten und einem Mangel an Erfahrung in einem Sektor, der seit mehr als zehn Jahren keinen großen Streik mehr erlebt hatte. Es wäre außerdem nötig gewesen, sich tiefer in der SNCF auszubreiten, wo die Kontrolle der Gewerkschaftsführung stärker war.

Trotzdem übte das Koordinierungskomitee eine Form der tatsächlichen Gegenmacht aus. Es stellte während der Zeit der Ferien eine eigene Agenda auf und übte während des gesamten Konflikts echten Druck auf die Gewerkschaftsführer*innen aus, keine Waffenruhe zu verkünden und den Streik fortzusetzen. Wenn man den Medien Glauben schenken will, war es ebenfalls dieser Druck, der die Gewerkschaftsführung bei der RATP dazu zwang, inoffiziellen Treffen mit der Regierung nur an sehr unwahrscheinlichen Orten zuzustimmen – aus der Angst, dass die Streikenden sonst auftauchen und protestieren könnten. Das Koordinierungskomitee war der bewusste und organisierte Ausdruck dieses Drucks, was den Spielraum des Managements für Manöver und Verhandlungen stark beschränkte und eine einfache Rückkehr an die Arbeit verhinderte. Es spielte damit eine zentrale Rolle darin, die Bewegung bis über den Dezember hinaus auszudehnen und damit die Bedingungen zu schaffen, dass andere Sektoren diese übernehmen konnten, als die Ressourcen des Transportstreiks, besonders in finanzieller Hinsicht, sich zu erschöpfen begannen.

Erneut war es Karim, der Anführer der Bewegung im Busdepot in Pavillon-sous-Bois, der dies in einem Gespräch über die Rolle des Koordinierungskomitees am besten zusammenfasste: „Ohne die Koordinierung hätten die Gewerkschaften freie Hand gehabt, um die Aussetzung des Streiks Ende Dezember auszurufen – und das hätte die Bewegung abgewürgt.“

Vertrauensaufbau, die Entstehung eines militanten Kerns und die Erfahrung der Arbeiter*innendemokratie

Diese objektive Einschätzung der Rolle des RATP-SNCF-Koordinierungskomitees darf jedoch nicht eine ihrer größten Errungenschaften tilgen – die subjektive. Die Basis der Streikenden, unter denen viele nicht gewerkschaftlich organisiert waren, waren daran gewöhnt, dass solche Bewegungen von Anfang bis Ende von Gewerkschaftsführer*innen geleitet wurden und Vollversammlungen eher nach Treffen von Gewerkschaftssekretär*innen aussahen. Doch die Streikenden errangen ein Vertrauen in ihre eigene Stärke und Fähigkeiten, in ihre kollektive Intelligenz und ihre Fähigkeit, von den Erfahrungen der jeweils anderen zu lernen.

Während Treffen dieser Art zu Beginn für die Streikenden noch ungewohnt waren, lernten sie im Koordinierungskomitee miteinander zu diskutieren, zu streiten, wenn sie uneins waren, und nach der Mehrheitsmeinung zu entscheiden, damit sie Woche für Woche mit einem kollektiven Schlachtplan auftreten konnten. Über mehrere Treffen hinweg war die Reifung sowohl des Rahmens als auch der Akteur*innen greifbar. Die Interventionen wurden besser organisiert und die Debatten über die Strategie der Bewegung, die Rolle der Gewerkschaftsführung und die Hürden für eine Ausbreitung der Bewegung waren real.

Das Koordinierungskomitee war auch der Ort, wo eine Reihe von weiblichen Streikenden sich organisieren und Selbstvertrauen gewinnen konnte, sodass sie im Streik nicht nur führende Rollen in ihrem jeweiligen Sektor, sondern im Koordinierungskomitee selbst spielten. Zu ihnen gehörten Laura, eine Eisenbahnerin aus Le Bourget, Nadia, eine Maschinistin im Depot in Flandre, Hanane, eine Fahrerin auf der Linie 5 der U-Bahn, und weitere. Diese Kämpferinnen waren dazu in der Lage, das Wort zu ergreifen, auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen zu diskutieren, und spielten so eine Rolle darin, die Entscheidungen des Komitees Woche um Woche umzusetzen.

Das Koordinierungskomitee trug so zur Entstehung eines festen militanten Kerns bei, der sich der Stärke der Arbeiter*innen und der Rolle der Gewerkschaftsführungen bewusst war und der sich mit weit mehr als nur der Rentenreform allein beschäftigte.

Die Entstehung einer Schicht bewusster Streikender – wirkliche Anführer*innen aus der Basis – wird eine Waffe in der Fortsetzung des Kampfes gegen die Rentenreform und allgemeiner im französischen Klassenkampf sein.

Zu wissen, wie man den Rückzug organisiert, um über einen Neustart nachdenken zu können

Machen wir uns nichts vor: Heute ist der Transportstreik klar auf dem absteigenden Ast und nur ein kleiner Kern streikt weiter und tritt für die Ausweitung des Streiks auf weitere Sektoren ein. Nichtsdestoweniger ist unter den Streikenden, die am Koordinierungskomitee teilgenommen haben, das vorherrschende Gefühl keines der Niederlage oder Demoralisierung. Die Streikenden verstehen, dass der Kampf gegen die Rentenreform zwar noch längst nicht vorüber ist, dass aber die Fortsetzung eines Streiks, der nur noch von einer Minderheit der Arbeiter*innen getragen wird und keine unmittelbaren Erfolgsaussichten hat, nicht die effektivste Kampfmethode ist.

Sie bleiben trotzdem organisiert, um weiterhin Möglichkeiten für eine Massenbewegung in anderen Sektoren und nun auch besonders in der Jugend zu suchen und die repressive Gegenoffensive des RATP-Managements, das seine Disziplinarmaßnahmen ausweitet, zu bekämpfen. Das Koordinierungskomitee bemüht sich mit der Aussicht auf ein landesweites Treffen, um einen echten Schlachtplan inklusive eines Generalstreiks gegen die Regierung und deren Reform aufzustellen, sein Beispiel auf andere Sektoren und Regionen des Landes zu übertragen. Dies ist ein Zeichen, dass diese einzigartige Erfahrung der Selbstorganisierung unserer Klasse noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hat.

Dieser Artikel erschien zuerst am 2. Februar bei RP Dimanche und in einer leicht abgewandelten Version auf Englisch am 17. Februar bei Left Voice.

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