Frankreich: Demokratie der Massen auf der Straße! [mit Videos und Fotos]
1,5 Millionen Menschen nahmen am Donnerstag an Demonstrationen zum Generalstreik teil. Besonders präsent waren die Mobilisierungen im Öffentlichen Verkehr und anderen öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Unis, Schulen und Kindergärten. Durch gemeinsame Versammlungen wird der Streik vorangetrieben und ausgeweitet.
Der Streik richtet sich in erster Linie gegen eine geplante Rentenreform, die seit längerem von der Regierung geplant wird. Am stärksten betroffen wären davon besonders der öffentliche Dienst. Die Regierung behauptet zwar, es gehe ihr um „Gleichbehandlung“ und eine Abschaffung überflüssiger Privilegien, dass diese Propaganda aber bei immer weniger Menschen wirkt – auch außerhalb des öffentlichen Dienstes – zeigten die Massen der Arbeiter*innen, die sich an den Streiks und ihren Demonstrationen beteiligten. So kam zwar der größte Teil der Streikenden aus dem öffentlichen Dienst, doch es gab ebenso Mobilisierungen in privaten Unternehmen, unter Anderem in sieben von acht französischen Öl-Raffinerien, sowie bei Belegschaften von Air France und Ryanair. Außerdem gingen bei der Gewerkschaft CGT tausende Anfragen von nicht-organisierten Arbeiter*innen in Privatunternehmen ein, darüber, wie sie sich am Streik beteiligen könnten. Dieses Phänomen wird sich nicht sofort in größeren Streiks äußern, zeigt aber die Besonderheit der Situation.
Unterstützung bekamen die Streikenden auch von Studierenden und Schüler*innen, die sich in vielen Teilen des Landes dem Streik anschlossen, und Versammlungen und Blockaden durchführten. Profitieren konnte die Bewegung auch von einem Jahr Gelbwestenprotesten, die seit dem die politischen Debatten und auch die Mobilisierungen der Arbeiter*innenbewegung prägt: Inzwischen ist vielen Menschen die repressive Rolle des Staates und der Polizei klarer.Außerdem wurde ein Geist der Radikalität und der Unabhängigkeit von bürokratischen Führungen in die Gewerkschaftsbasis getragen.
Mehr Menschen als bei den Gelbwestenprotesten
Schon der erste Tag des Generalstreiks eröffnete eine neue Dimension der Arbeitskämpfe in Frankreich: Es waren nicht nur mehr Menschen beteiligt als bei den größten Gelbwestenprotesten, die vor einem Jahr mit 300.000 bis 500.000 Protestierenden das Land erschütterten, sondern sogar mehr als am 5. Dezember 1995. Damals gingen etwa 1 Million Menschen gegen Reformpläne auf die Straße. Dies war der letzte Versuch der Regierung, die Rentenregelungen des öffentlichen Dienstes so sehr anzugreifen, wie sie es heute tut. Später beteiligten sich auf dem Höhepunkt sogar 2 Millionen am Streik und die Regierung scheiterte mit der Durchsetzung ihrer Pläne.
Schon vor zwei Monaten, am 13. September 2019, hatten die Beschäftigten der Pariser Metro mit einem Streik gegen die Rentenreform die Stadt lahmgelegt. Diese Demonstration ihrer Stärke bildete die Grundlage der Mobilisierungen. Für den 5. Dezeember wurde ein „verlängerbarer“ Streik beschlossen. Also ein Streik, der durch Entscheidungen in Vollversammlungen immer wieder verlängert werden kann. Auch die Bewegung in anderen Sektoren spielte in die Vorbereitung Generalstreiks hinein: die Belegschaften der Krankenhaus-Notaufnahmen machen schon seit Monaten durch Aktionen auf sich aufmerksam, und nach einem Todesfall während der Arbeit fanden bei der Eisenbahn (SNCF) spontane Streiks statt.
Massenmobilisierungen und Streikdemokratie
Alle großen Demonstrationen und Versammlungen der vergangenen Tage zu dokumentieren, würde den Rahmen sprengen, doch um die Dynamik des Generalstreiks zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die größten Mobilisierungen und einige Versammlungen zu werfen.
Paris
Insgesamt 250.000 Demonstrierende (Zahlen der CGT) in Paris, damit die mit Abstand größte Demonstration des Landes. Aber auch in über 100 anderen Städten gab es Demonstrationen, die im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungszahl enorm waren.
Am Donnerstag und Freitag fanden im Großraum Paris viele Versammlungen von Streikenden statt. Am Donnerstagabend stimmte die Versammlung der Lehrkräfte im Staatsdienst für einen unbefristeten Streik bis zur Rücknahme des Reformprojekts. Anwesend waren 360 Stimmberechtigte, die 120 Einrichtungen repräsentierten.
Die Eisenbahner*innen von Paris Nord stimmten am Donnerstag ebenfalls für eine Verlängerung ihres Streiks:
Um den andauernden Generalstreik zu koordinieren, auszuweiten und über die richtige Strategie zu entscheiden, reicht es nicht, auf die Ansagen einiger weniger Personen an der Spitze der jeweils zuständigen Gewerkschaften zu warten. In früheren französischen Streikbewegungen hat sich zu diesem Zweck das Konzept der „Assemblée Generale Interprofessionelle“ etabliert – also lokale aber branchenübergreifende Versammlungen, in denen über Forderungen und nächste Schritte diskutiert und abgestimmt wird.
Solche „Interpro“-Versammlungen wurden auch diesmal an verschiedenen Orten einberufen. Am Donnerstagmorgen fand im Vorort Saint-Denis eine solche Versammlung mit 200 Personen statt. Am Pariser Bahnhof Saint-Lazare kamen am Freitagnachmittag Beschäftigte von SNCF, RATP, der Post, der Sozialarbeit und Bildung, sowie Gelbwesten und Studierende zusammen:
Bei Révolution Permanente wurden auch weitere Aufnahmen aus dieser Versammlung veröffentlicht.
Toulouse
In Toulouse versammelten sich am Donnerstag 100.000 Menschen zu einer gewaltigen Demonstration durch die Stadt:
Marseille, Bordeaux, weitere Städte
Für Marseille verkündete die CGT eine Teilnehmer*innenzahl von 150.000:
In Bordeaux demonstrierten am Donnerstag zwischen 30.000 und 50.000 Menschen – dabei hat die Stadt nur rund 250.000 Einwohner*innen. Zu sehen ist in diesem Video auch die Repression, die sich vielerorts wiederholte. Um den Zugang zu zentralen Orten zu versperren, wurde die Demonstration mit Tränengas angegriffen:
Eine Versammlung von Streikenden, Gelbwesten und Studierenden mit 800 Anwesenden diskutierte in Bordeaux über die nächsten Schritte der Mobilisierung.
Ein ähnliches Bild massiver Demonstrationen zeigte sich am Donnerstag auch in zahlreichen anderen Städten:
Perspektive: Generalstreik bis zum Rückzug der Regierung
Die „Intersyndicale“, ein Treffen der Chefs mehrerer wichtiger Gewerkschaften, hat am Freitag verkündet, dass der Streik länger dauern werde. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine fortschrittliche Entscheidung des Führungspersonals, sondern um eine unabwendbare Notwendigkeit angesichts des Drucks durch die Streikenden.
In den kommenden Tagen wird sich zeigen, ob die Arbeiter*innen an der Basis der Gewerkschaften weiter die treibende Kraft des Kampfes sein können und es schaffen, in Versammlungen über die Fortführung des Streiks zu entscheiden und sich über Branchengrenzen hinweg zu organisieren.
Die Spitzen der Gewerkschaftsapparate werden immer wieder versuchen, die wütende Energie der Streikenden in gemäßigte Bahnen zu lenken – also zu Verhandlungen mit der Regierung für eine weniger scharfe Reform. Nur wenn dieses Umlenken durch die demokratische Aktion der gewerkschaftlichen Basis verhindert werden kann, besteht die Möglichkeit, Macrons Rentenreform und seine gesamte neoliberale Agenda tatsächlich zurückzuschlagen.