Frankreich: Demonstrant im Koma, 200 Verletzte durch Polizei
30.000 demonstrierten in Sainte Soline gegen ein Wasserreservoir. 3200 Polizist:innen verletzten mehr als 200 Menschen. Der französische Innenminister erzählte eine andere Geschichte: Er kriminalisierte die Demonstrierenden im Versuch, die aufflammende Radikalität der Bewegung zu ersticken.
An diesem Samstag demonstrierten mehr als 30.000 Menschen in Sainte-Soline, eine ländliche Region in Westfrankreich. Anlass war ein Aktionswochenende gegen ein großes Wasserreservoir, zu dem mehr als 100 politische, gewerkschaftliche und Umweltorganisationen aufgerufen hatten. In ganz Frankreich sollen solche Anlagen entstehen. Mit ihnen wird das Wasser privatisiert, es wird vorrangig für große landwirtschaftliche Betriebe gesichert, auf Kosten der Kleinbäuer:innen und der Regeneration des Grundwasserspiegels.
3200 Polizist:innen waren im Einsatz, der Verkehr wurde in zwei Gemeinden gesperrt, ein Sprecher wurde eine Woche vor der Mobilisierung in Gewahrsam genommen, zwei Hubschrauber waren im Einsatz um das Gebiet abzusuchen, Polizist:innen auf Quads jagten die Demonstrierenden und schossen mit Gummigeschossen und Tränengasgranaten. Während eine vorherige Aktion gegen die Reservoirs Ende Oktober bereits von der Polizei angegriffen worden war, hat der Staat an diesem Samstag noch einen Sprung in der Gewalt gemacht, die er gegen die Demonstrierenden anwendet.
Der massive französische Repressionsapparat ging den ganzen Tag über auf die Teilnehmer:innen der Aktion los und ertränkte die Demonstrationszüge in einem Schwall von Tränengas, Schockgranaten und Gummigeschossen. Viele wurden schwer verletzt.
Laut einer Erklärung von Les Soulèvements de la Terre wurden mehr als 200 Demonstrierende von der Polizei verletzt, wobei die Zählung noch vorläufig ist. Eine:r der Demonstrant:innen liegt derzeit im Koma und ist lebensbedrohlich verletzt. Etwa zehn Schwerverletzte befinden sich derzeit im Krankenhaus und etwa 40 haben tiefe Wunden (die meisten von ihnen durch Gummigeschosse). Le Média berichtete außerdem, dass ein:e Demonstrant:in erblindet sei.
„Das Ausmaß der Repression war erschütternd. Um mich herum sagten die Leute, dass die Repression sie an die Gelbwesten oder die Mobilisierungen gegen den Sivens-Staudamm, (bei denen Rémi Fraisse durch eine von der Polizei geworfene Granate getötet wurde, Anm. d. Red.) erinnere“, erklärte eine Demonstrantin. „Eine Gruppe schaffte es, auf das Gelände der Becken zu gelangen, aber die Demonstration kehrte schließlich um, weil die Sanitäter:innen nicht mehr genug Material hatten, um die Verletzten zu versorgen, so viele waren es. Vor allem aber blockierte die Polizei die Rettungsmaßnahmen“, fuhr sie fort.
Zusätzlich zu dieser Hetze hinderte die Polizei den Rettungsdienst tatsächlich mehrere Dutzend Minuten lang daran, eine:r lebensbedrohlich Verletzten zu Hilfe zu eilen. „In einem Gespräch, bei dem die Anwält:innen der LDH (Französische Liga für Menschenrechte) anwesend waren, teilte der Rettungsdienst einem Arzt, der um Nothilfe bat, mit, dass das Kommando vor Ort ihnen den Befehl gegeben habe, nicht einzugreifen“, erklärte die Menschenrechtsliga auf twitter. Die Repressionskräfte nahmen auch bewusst Verletzte ins Visier, indem sie Granaten in ihre Richtung warfen, wie die Generalsekretärin der EELV (Europa Ökologie Die Grünen) Marine Tondelier gegenüber der AFP anprangerte.
Diese Aussagen zeigen das Ausmaß der Lügen, die die Regierung verbreitet. In einer Erklärung behauptete Darmanin, der französische Innenminister, ohne mit der Wimper zu zucken: „Die Polizist:innen, die an der Evakuierung verletzter Demonstrant:innen beteiligt waren, wurden zum Teil von den radikalsten Elementen angegriffen, wodurch die Rettungsarbeiten verhindert und die Ankunft der Ärzt:innen vor Ort erschwert wurden. Ich möchte diese absolut unaussprechlichen Taten natürlich verurteilen“. Diese Verdrehung der Tatsachen ist eine Lüge der Polizei. Sie geht Hand in Hand mit einer bewussten Verharmlosung der Zahl der von den Repressionskräften verletzten Personen. Darmanin zählte nur sieben.
Fortgesetzt wird diese Geschichte gestützt auf Bilder von brennenden Polizeiwagen und Demonstrationszügen, die sich den Repressionskräften entgegenstellen, die in Endlosschleife im Fernsehen laufen. Laut Darmanin ist „Diese Entfesselung der Gewalt […] absolut unentschuldbar, offensichtlich organisiert, ich habe es gesagt, von linksextremen Gruppierungen“. Diese Argumentation erinnert an den Begriff „Ökoterroristen“, den er im Oktober verwendet hatte, um die Gegner der Wasserreservoirs zu kriminalisieren und ihre Unterdrückung zu rechtfertigen.
Er nutzte die Gelegenheit, um Menschen aufzufordern, gegen die Gewalt Stellung zu beziehen: „Ich möchte hiermit alle politischen Verantwortlichen, alle gewählten Vertreter:innen der Nation, unabhängig von ihrer politischen Meinung, ob sie für die Rentenreform, gegen die Reservoirs […] sind, dringlichst dazu aufrufen, diese extrem starke Gewalt gegen die Polizist:innen der Republik zu verurteilen“. Ein Aufruf, auf den beispielsweise Eric Ciotti, der Vorsitzende der LR (Les Républicains, Mitte-Rechts Partei), prompt reagierte.
So soll rund um die Regierung, die wie nie zuvor isoliert ist, eine „republikanische Front“ gegen die Radikalität der Demonstrierenden erzeugt werden. Es ist ein Versuch, die Bevölkerung gegen die Gewalt bei den Demonstrationen aufzubringen, während in vielen Städten spontane und radikale Versammlungen gegen die Rentenreform stattfinden. Denn diese Bewegung geht ebenfalls bis zur Konfrontation mit den Repressionskräften und wird sehr breit unterstützt: 62 Prozent der Bevölkerung befürworten eine weitere Verschärfung der Mobilisierung gegen die Rentenreform und 70 Prozent geben der Regierung die Schuld an den anhaltenden Gewalttätigkeiten. Diese Dynamik bringt die Regierung ins Schwitzen, und so versucht sie mit allen Mitteln, sie zu brechen.
Der repressiven Eskalation, die von der Regierung ausgeht, muss die breiteste Solidarität entgegengesetzt werden, mit den Demonstrierenden von Sainte-Soline ebenso wie mit den Arbeiter:innen und Jugendlichen, gegen die es sogar auf gewerkschaftlichen Demonstrationen Repression gab, oder mit den Streikenden, die zur Arbeit gezwungenen wurden. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Schweigen der Intersyndikalen (französischer Gewerkschaftsbund) zur aktuellen Repression ein Skandal: Alle Mittel der Gewerkschaften sollten in den Dienst der Solidarität gegen die Repression gestellt werden, was für die Festigung der Bewegung und die Ausweitung des Streiks von wesentlicher Bedeutung ist.