Frankreich: Ausschluss der Linken aus der NPA oder revolutionäre Erneuerung?

21.05.2021, Lesezeit 15 Min.
Übersetzung:
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Bild: O Phil des Contrastes

Die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) befindet sich in der nächsten Phase ihrer tiefen Krise: Die ehemalige Mehrheit hat die Absicht, die Genoss:innen von Révolution Permanente zum Ausschluss zu bewegen. Ein Weg, um die Frage der Vorkandidatur von Anasse Kazib zu umgehen und gleichzeitig künstlich eine Mehrheit wiederherzustellen, die sie an der Basis der Organisation verloren hatte. Auf diese Weise sollte die Basis der NPA in eine Politik der Annäherung an La France insoumise (LFI) hineingezogen werden, die bereits für die bevorstehenden Regionalwahlen im Gange ist.

Vorbemerkung:

Der vorliegende Artikel dreht sich um den neuesten Vorstoß der ehemaligen Mehrheit der NPA, ihren Einfluss auf die Partei zu stabilisieren, indem die linken Strömungen, die eine alternative Strategie vorschlagen, herausgedrängt werden sollen. Wir haben diesen und weitere Artikel in den vergangenen Wochen übersetzt, um die Situation der NPA und die sich daraus ergebenden Fragen auch für die revolutionäre Linke in Deutschland sichtbar zu machen und zur Diskussion zu stellen.

Einen Überblick über die Entwicklungen der letzten Monate und die strategischen Fragen der Ausrichtung der NPA gibt der Artikel Endgültige Krise der NPA und das Aufkommen einer neuen revolutionären Strömung.

Unsere Schwesterorganisation, die Courante Communiste Révolutionnaire (CCR), die die Seite Révolution Permanente betreibt, arbeitet seit vielen Jahren in der NPA und kämpft dort für eine explizit revolutionäre Strategie, anstatt des Aufbaus einer breiten antikapitalistischen Partei. Mit der Vorkandidatur zur Präsidentschaftswahl von Anasse Kazib, einem revolutionären Arbeiter und bekannten Gewerkschaftsaktivisten, hat sie einen Vorstoß gemacht, der aufgrund der breiten Zustimmung im Umfeld der NPA von den anderen Strömungen nicht einfach ignoriert werden konnte.

Die Reaktion der ehemaligen Mehrheit, also den Genoss:innen der Ex-LCR, zeigt, dass sie kein Interesse am Aufbau einer von der Bourgeoisie und ihren Institutionen unabhängigen revolutionären Arbeiter:innenpartei haben. Doch auch die linkeren Strömungen wie Anitcapitalisme & Revolution (A&R) oder die Gruppe L’Étincelle wollen sich bisher nicht eindeutig positionieren – letztere könnte sogar den Ausschluss der CCR mittragen.

Die Situation in Frankreich ist nicht zuletzt von internationaler Bedeutung, weil es sich um das imperialistische Land mit der stärksten revolutionären und trotzkistischen Tradition handelt. Jeder Erfolg und Misserfolg beim Aufbau einer revolutionären Partei wird damit auch starke Auswirkungen auf andere Länder haben, insbesondere auf die Bewegung in den europäischen Imperialismen. Auch wenn die Wellen des Klassenkampfs in Deutschland in den vergangen Jahren nicht so hoch schlugen wie im Nachbarland, zeigt sich auch hier immer deutlicher, dass der Aufbau einer unabhängigen Arbeiter:innenpartei notwendig ist und eine Perspektive des Aufbaus in der Linkspartei in eine Sackgasse führt.

In diesem Kontext ist auch von Bedeutung, wie sich die die deutschen Schwesterorganisationen der Strömungen der NPA zu den Geschehnissen verhalten. Die engste Verbindung zur Ex-Mehrheit der NPA hat in Deutschland die Internationale Sozialistische Organisation (ISO). Wir rufen sie dazu auf, sich gegen den undemokratischen Ausschluss zu positionieren, der nur zu Wahlbündnissen mit der bürgerlichen Linken führt, statt dem Aufbau einer revolutionären Partei.

Die Revolutionäre Sozialistische Organisation (RSO) ist wiederum mit L’Étincelle aus dem linken Flügel der NPA verbunden. Angesichts der sich zuspitzenden Situation in der NPA rufen wir die Genoss:innen auf, sich klar zu positionieren und sich für eine Zusammenarbeit der revolutionären Kräfte in der NPA auf Grundlage der Unabhängigkeit von reformistischen und chauvinistischen Parteien einsetzen.

In diesem Sinne wollen wir mit den Genoss:innen sowohl die Debatte über die Bedeutung und Perspektiven der NPA führen, als auch über Schritte zum Aufbau einer unabhängigen revolutionären Partei in Deutschland diskutieren. Einen ersten Anstoß zu dieser Diskussion haben wir mit unserer Erklärung zum 1. Mai veröffentlicht.

Brief der CCR: Zwei entgegengesetzte Projekte

Wie es leider innerhalb der NPA üblich ist – wo strategische Debatten und Debatten über das Projekt der Partei niemals Gegenstand einer ernsthaften Debatte und Bewertung sein können – kristallisieren sich Meinungsverschiedenheiten meist anhand von Wahlfragen heraus. Das war 2012 der Fall, als mehr als die Hälfte der LCR-Führung die NPA zugunsten von Mélenchons Linksfront verließ. Und es ist auch heute wieder der Fall, rund um die Regional- und Präsidentschaftswahlen. Ganz in diesem Sinne wurde der 5. Kongress der NPA, der im Februar 2020 hätte stattfinden sollen, immer wieder verschoben und wird möglicherweise nicht einmal vor Ende 2022 stattfinden. Statt Raum für Strategiediskussionen zu lassen, wird also alles auf die Frage der Wahltaktik begrenzt.

Die NPA ist also tief gespalten zwischen zwei Projekten, was zu zwei entgegengesetzten Ausrichtungen für eine strategische Erneuerung nach dem offensichtlichen Scheitern des Ansatzes von 2009 führt.

Die eine Ausrichtung ist die der ehemaligen Mehrheit, die bereits zu den Regionalwahlen in Okzitanien und Neu-Aquitanien gemeinsame Listen mit Mélenchons LFI aufgestellt hat. Sie versucht zudem, die Tür für Abkommen mit der sozialdemokratischen Partei (PS) und den Grünen (EELV) zu öffnen. Eine solche Politik impliziert de facto die Liquidierung der NPA als eine Organisation, die auf Klassenunabhängigkeit und damit auf Unabhängigkeit von der institutionellen Linken beruht. Dazu passt auch, dass ein nicht unerheblicher Teil der ehemaligen Mehrheit (darunter die NPA-Sprecherin Christine Poupin) sich gegen eine eigene Kandidatur der NPA, wie auch immer sie aussehen mag, im Jahr 2022 ausgesprochen hat und bereits zu einer Stimme für Mélenchon neigt. Obwohl es sich mittlerweile eindeutig um eine Minderheit innerhalb der Partei handelt, ist der Einfluss dieses Sektors durch seine Posten in der Führung immer noch stark.

Die andere Ausrichtung sucht einen Ausweg aus der Krise der NPA durch eine Verschmelzung mit der neuen Generation von Mitgliedern aus den großen Mobilisierungen seit 2016, sowie durch die Überwindung der strategischen Unklarheit, die die Organisation seit ihrer Gründung kennzeichnet. Dies würde eine Neugründung der NPA bedeuten, hin zu einer Partei, die sich als revolutionär versteht, die sich besser unter den Arbeiter:innen einfügt und ihren Schwerpunkt im Klassenkampf hat, weit entfernt von den Absprachen zwischen politischen oder gewerkschaftlichen Apparaten. Es ist diese zweite Ausrichtung, die Genoss:innen von Révolution Permanente verkörpern, und die sie mit der Vorkandidatur zur Präsidentschaftswahl von Anasse Kazib ausdrücken.

Die interne Demokratie in der NPA ist fast nicht mehr existent. Die LFI-NPA-Listen für die Regionalwahlen in Neu-Aquitanien und Okzitanien wurden hinter dem Rücken der Leitungsgremien gebildet und ohne das Wissen vieler Mitglieder in den betreffenden Regionen. Doch sobald die Vorkandidatur von Anasse Kazib öffentlich gemacht wurde, wurde sie von der ehemaligen Mehrheit als illegitim angegriffen, und dann ganz offen als Teil einer Operation „gegen die NPA“ dargestellt. In Wahrheit ist die Hauptbedrohung, die auf der NPA lastet, der Wunsch nach Spaltung, den ein Teil ihrer Führung seit fast einem Jahr an den Tag legt. Sie haben das Ziel, der ehemaligen Mehrheit die „Macht“ zu geben, die NPA in den politischen Niedergang zu führen.

Die Kampagne gegen Anasse’ Vorkandidatur und für den Ausschluss von Révolution Permanente

Nichts in den Statuten der NPA verbietet einem Mitglied, öffentlich zu verkünden, dass er oder sie vorschlägt, bei einer Wahl zu kandidieren. Zudem hat Anasse immer klargemacht, dass er diesen Vorschlag den Mitgliedern zur Debatte und zur Entscheidung vorlegt. Trotzdem wurde eine interne Kampagne entfesselt, die nun in Anträgen gipfelt, die den Ausschluss aller Mitglieder von Révolution Permanente aus der NPA fordern. In einer Organisation, die dieser Art von Verfahren schon immer eher skeptisch gegenüberstand, noch dazu weit entfernt von einem Kongress, dem einzigen legitimen Gremium, das diese Art von Entscheidungen treffen kann, ist dies unbestreitbar ein Novum.

In den letzten Tagen hat diese Offensive eine Schwelle überschritten, indem den Mitgliedern des Exekutivkomitees der NPA ein Text zugesandt wurde, der den Ausschluss von Révolution Permanente von der nationalen Konferenz befürwortet, die über die Politik und den eventuellen Kandidaten der NPA für die Präsidentschaftswahlen entscheiden soll. „Sie [die Strömung Révolution Permanente] verhält sich wie eine Partei, die sich grundlegend von der NPA unterscheidet, und kann daher nicht den Anspruch erheben, über die Entscheidungen einer anderen Partei zu diskutieren und zu entscheiden, selbst wenn einige ihrer Mitglieder schon länger oder kürzer aktiv dieser anderen Partei angehören“, lesen wir am Ende dieses Beitrags, der von allen Mitgliedern der ehemaligen Mehrheit im Vorstand unterzeichnet wurde.

Das Grundproblem sei also nicht mehr die Methode, die bei der Bekanntgabe von Anasse’ Vorkandidatur angewandt wurde, sondern ein eher strukturelles Problem mit der Strömung RP und dem Projekt, das sie repräsentiert. Eine Strömung, die sich schuldig gemacht hat, die Idee einer „trotzkistischen Avantgardepartei“ im Gegensatz zu der der „breiten Parteien“ zu verteidigen und die Politik der derzeitigen Führung zu kritisieren. Der Text zielt insbesondere auf Anasse’ abschließende Rede in einer internationalistischen Online-Veranstaltung am vergangenen 1. Mai ab, “in dem die Politik, die bei den Regionalwahlen in Neu-Aquitanien und Okzitanien gemacht wurde, als ‘Rechtsruck der Ex-Mehrheit’, als ‚Kapitulation‘ oder als Listen ‘die den Boden für die Präsidentschaftskampagne von JLM bereiten’ beschrieben wird … und somit eine ‘rote Linie überschritten wurde’.

RP trifft die Schuld – und das ist sowohl die Wurzel des Problems als auch das lächerlichste Argument – erfolgreich zu sein! Ja, der Text beklagt „die unbestreitbaren Erfolge dieser Strömung, beginnend mit der Reichweite der Website Révolution Permanente“ und enthüllt damit die wahren Gründe für den unerbittlichen Angriff: Die NPA hat seit ihrer Gründung mehr als 7.000 Mitglieder verloren und konnte in der Welle des Klassenkampfes, die das Land zwischen 2016 und 2020 erfasste, nur eine marginale Rolle spielen. Währenddessen haben die „Sektierer:innen“ von Révolution Permanente gezeigt, dass man sich selbst als revolutionär verstehen und gleichzeitig große Teile der Arbeiter:innenklasse und der Massen erreichen kann. Sie haben gezeigt, dass man die Partei im Klassenkampf aufbauen kann, indem man neue Aktivist:innen aus der Arbeiter:innenklasse rekrutiert, die das interne Kräfteverhältnis verändern. Das ist es, was die ehemalige Mehrheit stört, die ihrerseits die NPA gerne in die entgegengesetzte Richtung führen würde.

Hunderte Revolutionär:innen vom Ausschluss bedroht

Um ihre Ziele zu erreichen, kann die aktuelle Führung jedoch nicht zulassen, dass die demokratische Stimme aller Mitglieder gehört wird. Deshalb versucht sie, die nationale Konferenz im Voraus einzuschränken. Anhänger:innen der ehemaligen Mehrheit haben in Anträgen geäußert, dass sie sich nicht mehr mit den Mitgliedern von RP treffen wollen – und auch nicht mit anderen, die deren Positionen teilen. Mit diesem Vorwand wird versucht, die Teilnahme der wichtigsten Opposition gegen die aktuelle Führung an der Konferenz in Frage zu stellen.

Eine solche Karikatur einer nationalen Konferenz hätte kaum Legitimität. Damit Kandidat:innen tatsächlich zur Präsidentschaftswahl antreten können, müssen außerdem 500 Unterschriften von Bürgermeister:innen gesammelt werden – eine solche beschnittene NPA-Konferenz würde somit wohl kaum zu einer tatsächlichen Kandidatur führen.

Indem die NPA-Führung Anasse und RP hinausdrängt, stellt sie sich nicht nur gegen eine revolutionäre Kandidatur, die einen Dialog mit den am meisten ausgebeuteten und unterdrückten Sektoren unserer Klasse führen würde und die eine Verbindung von marxistischen Ideen und einer neuen Generation kämpferischer Arbeiter:innen zum Ausdruck bringt. Die Führung versucht damit auch, eine Reihe von proletarischen Mitgliedern loszuwerden, die entschlossene, teils beispielhafte Kämpfe geführt haben, migrantische Genoss:innen und Menschen aus Arbeiter:innenvierteln, die sich der NPA trotz ihrer Fehler angeschlossen haben, um für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen.

Wir würden uns also in einer völlig beispiellosen Situation befinden: Eine linksradikale Organisation, die sich hauptsächlich aus Lehrer:innen und anderen Staatsbediensteten zusammensetzt, deren Mitgliederzahl mit jedem Kongress und jeder Konferenz ein wenig abnimmt, würde beschließen, hunderte von Arbeiter:innen und Jugendaktivist:innen aus ihren Reihen zu werfen. Darunter Adrien Cornet, Anführer des Streiks in der Raffinerie Grandpuits, Gaëtan Gracia, der zum Beginn der Pandemie die Koordination der Unternehmen der Luftfahrtindustrie in der Region Toulouse mitbegründete, Christian Porta, Gewerkschafter in der Lebensmittelindustrie und eine Figur der Gelbwesten im Departement Moselle, Rozenn Kevel, eine junge prekäre Beschäftigte, die gegen das Management von Chronodrive kämpft, das sie gefeuert hat, nachdem sie sexuelle Belästigung innerhalb des Unternehmens angeprangert hatte, und viele Aktivist:innen, die bereits einen Aufruf für die Kandidatur von Anasse unterzeichnet haben.

Was steckt politisch dahinter?

Es steht zu befürchten, dass eine Organisation, die sich um jeden Preis von solchen Aktivist:innen abgrenzen will, sich nicht darauf vorbereitet, so effektiv wie möglich in die Klassenkampfprozesse der kommenden Jahre einzugreifen. Ihre Sorge scheint eher darin zu bestehen, Abkürzungen zu finden – so, wie die Verbündeten der ehemaligen Mehrheit der NPA im spanischen Staat. Diese stimmten der Auflösung ihrer Organisation (Izquierda Anticapitalista) in die Partei Podemos zu, was letztendlich dazu führte, dass sie die zunehmend institutionelle Politik von Pablo Iglesias unterstützten, bis zu seinem Debakel in einer gemeinsamen Regierung mit der sozialdemokratischen Partei. Es folgte der schwindelerregender Fall und Iglesias’ Rückzug aus der Politik.

Die ehemalige Mehrheit unternimmt bereits Schritte in diese Richtung, indem sie ein neues „zentralistisch-bürokratisches“ Regime ohne echte Tendenz- und Fraktionsrechte in der NPA durchzusetzen versucht. Der Ausschluss von RP ist ein erster Schritt dafür. (Izquierda Anticapitalista hatte auch ihren linken Flügel ausgeschlossen, als sie sich Podemos anschloss.)

Die anderen linken Tendenzen der NPA kritisieren zwar einerseits den Kurs, der angesichts der Regionalwahlen eingeschlagen wurde. Aber andererseits verharren sie leider bei einer utopischen Verteidigung des Status Quo der NPA, womit sie sich letztendlich der Politik der ehemaligen Mehrheit anpassen. Das bisherige Projekt der NPA ist eindeutig gescheitert. Die Organisation und ihre Führung haben bewiesen, wie schwach ihr Nutzen für den Klassenkampf ist. Nun soll selbst dieses sehr unvollkommene Werkzeug zugunsten eines noch diffuseren Projekts liquidiert werden, das noch offener für die institutionelle Linke ist. In dieser Situation entscheiden sich die Genoss:innen des linken Flügels der NPA dafür, die Vorkandidatur von Anasse und die Politik der Ex-Mehrheit bei den Regionalwahlen als gleichwertige Vorschläge nebeneinander zu stellen. Sie schlagen eine konsensuale Kandidatur vor, die sogar von der ehemaligen Mehrheit kommen könnte, solange sie selbst einige Sprecher:innen der Kampagne aufstellen dürfen. Eine solche Positionierung ist umso problematischer, weil die linken Tendenzen zahlenmäßig in der Mehrheit sind und einen Kandidaten durchsetzen könnten, der mit der aktuellen Ausrichtung und der dahinter stehenden Führung bricht.

Dieser Artikel erschien am 19. Mai bei Révolution Permanente.

 

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