Frankreich: Auf dem Weg zu einem politischen Generalstreik gegen Macron?
Ein Jahr nach Beginn der Gelbwesten-Bewegung eröffnet sich eine neue Etappe. Alles deutet darauf hin, dass der Generalstreik ab dem 5. Dezember in Frankreich, der sich gegen die Rentenreform von Macron richtet, der größte seit Jahrzehnten sein wird.
Alles deutet darauf hin, dass der Generalstreik am 5. Dezember in Frankreich der größte seit Jahrzehnten sein wird. Mit der subversiven Atmosphäre, die von den Gelbwesten eingeflößt wurde, kann der Klassenkampf in Frankreich einen neuen Sprung machen, artikuliert durch den Generalstreik mit der Möglichkeit der Verlängerung in Teilen der wichtigsten Bastionen der Arbeiter*innenbewegung wie den Eisenbahner*innen und der RATP (Öffentlicher Nahverkehr von Paris). Ein Jahr nach Beginn der Bewegung der Gelbwesten tut sich eine neue Etappe auf, nämlich die Wiedervereinigung eines wichtigen Teils des Proletariats auf dem Terrain der Klasse. Wie weit wird diese neue Etappe gehen? Das wird sich im lebendigen Klassenkampf der nächsten Tage entscheiden.
Ein langer Vorbereitungsprozess, der den Führungen von der Basis aufgezwungen wurde
Der massive Streik der RATP am 13. September gab den Rhythmus vor: Die Arbeiter*innen beschlossen einen verlängerbaren Streik ab dem 5. Dezember. Dabei zwangen sie die Gewerkschaften, darunter die reformistischsten wie die UNAS, sich dem Aufruf anzuschließen. Dieser Prozess festigte sich und machte einen Sprung nach den Überraschungsaktionen bei der SNCF (Französische Eisenbahngesellschaft), sowohl dem spontanen landesweiten Streik nach einem Arbeitsunfall, als auch dem wilden Streik in den Wartungszentren, der einige wichtige Strecken wie das Chatillon-Zentrum in der Region Paris lahm legte. Diese Elemente von „Radikalisierung a là Gilet Jaunes“ seitens der Arbeiter*innenbewegung zwangen die Hauptgewerkschaft des Eisenbahnsektors, die CGT Cheminots, sich der Forderung nach einem verlängerbaren Streik anzuschließen. Dazu kam der Kampf der Krankenhausnotdienste, der seit über neun Monaten andauert. Sie konnten das gesamte Krankenhauspersonal zu gemeinsamen Demonstrationen am 14. und 30. November zusammenschließen, was an sich schon ein historisches Ereignis und Ausdruck der katastrophalen Situation des öffentlichen Gesundheitswesens ist. Dabei wurden sie von einer großen Unterstützung der Bevölkerung begleitet. Es gibt auch Prozesse der Politisierung und des Kampfes (die mit starker Agitation einhergehen) im öffentlichen Bildungswesen nach dem riesigen Schock, der durch den Selbstmord der Schulleiterin Christine Renon verursacht wurde, sowie durch die Tatsache, dass Lehrer*innen einer der künftigen großen Verlierer*innen der Renten(gegen)reform sein werden.
Diese Prozesse der Politisierung und des Kampfes gehen über die Arbeitswelt hinaus, wie die große Unmut an den Universitäten angesichts des Selbstmords eines jungen Studenten in Lyon zeigte, der das riesige Problem der elenden Verhältnisse, in denen Studierende leben, ans Licht brachte. Hinzu kommt die erfolgreiche Demonstration armer Sektoren der Bevölkerung gegen Islamophobie, trotz aller Verleumdungen und Propaganda der Mehrheit der politischen Eliten und der Mainstream-Medien, sowie die massive Demonstration gegen Gewalt an Frauen am Samstag, dem 23. November, der eine Erneuerung der feministischen Bewegung in Frankreich vorankündigen könnte.
All diese Prozesse fanden innerhalb eines Jahres nach dem Beginn des Aufstands der Gelbwesten statt, der ein Vorher-Nachher im Klassenkampf in Frankreich eingeläutet hat.
Neu ist, wie Raymond Soubie, ehemaliger Sozialberater von Nicolas Sarkozy, in der Zeitung Le Monde, betont: „Der Protest in der SNCF wie in der RATP wird weitgehend von der Basis vorangetrieben. Die Gewerkschaften geben das Gefühl, hinter ihren Anhänger*innen herzulaufen und nicht die volle und totale Kontrolle über die Bewegung zu haben“. Am 5. Dezember und in den folgenden Tagen wird sich dieses Phänomen fortsetzen. Das Ausmaß des Streiks hängt in großem Maß davon ab.
Tendenzen zur Politisierung
Nachdem die Regierung den Kampf um „die Tugenden“ der Reform verloren hat, hat sie verstärkt jene klassische Methode angewandt, mit der sie den korporativen Charakter des Konflikts anprangert, mit der Begründung, dass die treibenden Sektoren des Streiks – also die SNCF und die RATP – Sonderregelungen genießen, die dem ungesunden Charakter ihrer Arbeit und damit einem früheren Ruhestand Rechnung tragen. Das „cheminot bashing“ (Angriff auf die Eisenbahner*innen) ist zu einem Leitmotiv des Macronismus geworden, wo die Eisenbahner*innen grotesk als „privilegierte“ Arbeiter*innen bezeichnet werden, die nur ihre besonderen Vorteile verteidigen wollten. Aber im Gegensatz zur Eisenbahnreform in der ersten Jahreshälfte 2018, bei der diese Propaganda die Eisenbahner*innen isolierte, war sie diesmal weniger effektiv, da die Gegenreform der Renten alle Arbeiter*innen betrifft. Hinter dem falschen Versprechen der Gleichstellung aller Renten verschweigt die Regierung zentrale Elemente ihrer Reform, wie das „punktbasierte System“, das für alle Anlass zur Sorge gibt. Viele Arbeiter*innen interpretieren diese Unklarheit als Beweis dafür, dass sich etwas Schlimmes zusammenbraut – und sie haben Recht!
Aber die Regierung sieht sich auch einer weit verbreiteten sozialen Empörung gegenüber, die über viele Jahre gebrütet hat. Der Aufstand der Gelbwesten war der erste ruhende Vulkan, der ausbrach, und seine Auswirkungen haben Kräfte in der gesamten Arbeiter*innenklasse geweckt.
In den Diskussionen unter den Aktivist*innen zur Vorbereitung des Streiks, wie auch im Dialog mit den Gelbwesten, taucht immer öfter die Frage des Gesellschaftsmodells auf, das wir anstreben. Viele Arbeiter*innen sagen laut, dass sie keine Gesellschaft wollen, in der es keine Gesundheit oder Bildung gibt, dass sie dieses Schicksal weder für die Studierenden noch für ihre Kinder wollen. Die neoliberale soziale Konterrevolution kollidiert zunehmend mit den tiefen Bedürfnissen der Ausgebeuteten und Unterdrückten, und die Straße ist der einzige Kanal, in dem sie sie laut und stark ausdrücken können. Das ist, was die Regierung fürchtet. Wie Cécile Cornudet in der Wirtschaftszeitung Les Echos schreibt: „Indem sie die Sonderregelungen stigmatisiert, wie sie es seit einigen Tagen tut, und Ausdrücke wie ‚Jammerlappen‘ und ‚Korporativisten‘ verwendet, läuft die Regierung etwa nicht Gefahr, die Gewerkschaften anzuheizen, die sie verteidigen? Ja, aber das ist genau das, was die Regierung will. Für sie sind Gewerkschaften, die für Renten mobilisieren, mehr wert als eine wütende, ziellose, zügellose, fast gelbe Menschenmenge [hier sind de Gelbwesten gemeint]. Zehn Tage vor dem 5. Dezember zieht Macrons Team die Pest der Cholera vor. Sie haben die Strategie der Spannung gewählt. Die ‚Große Debatte‘ und die Maßnahmen zugunsten der Gelbwesten haben im Kern nichts geändert. Die soziale Krise wird immer gefährlicher, eine ‚moralische‘ und demokratische Krise, die das Land verzehrt. Die Menschen gehen nicht mehr zur Wahlurne, schenken keinem Diskurs Glauben, komme er aus der Politik oder den Gewerkschaften, finden keinen Kanal, um ihr Unbehagen zum Ausdruck zu bringen. Oder um genauer zu sein, doch, jedoch nur einen: die Straße.“
Tendenzen zur Verallgemeinerung
Je näher der 5. Dezember rückte, schlossen sich unzählige Gewerkschaftssektoren dem von den RATP-Streikenden im September bestimmten Datum an. Die Fédération des Industries Chimiques – CGT rief ebenfalls zum Streik am 5. Dezember und zur Entscheidung über die Verlängerung des Streiks in einer Vollversammlung auf. Die Gewerkschaften Force Ouvriere (FO) und LDS haben die gleiche Position. Dazu gehören natürlich Raffinerien, aber auch viele private Unternehmen. Es sei daran erinnert, dass 2010 die Raffineriearbeiter*innen Motor des Kampfes gegen die Sarkozy-Rentenreform waren. Dieser Kampf mündete in eine Niederlage, weil es nicht möglich war, die Rufe der Gewerkschaftsführungen zur Ordnung zu überwinden, gerade als Radikalisierungsanzeichen des Konflikts deutlicher wurden. Alle LKW-Verbände rufen zum Streik ab dem 5. Dezember auf, mit Ausnahme der CFDT. Im Bildungsbereich sind es die Minderheitengewerkschaften, die ab dem 5. Dezember zu einem verlängerbaren Streik aufrufen: SUD-éducation, CGT-FERC und FO. Die FSU (Einheitlicher Gewerkschaftsbund) ihrerseits beharrt auf einen einzigen Streiktag am 5. Dezember, auch wenn die Hauptgewerkschaft der Beschäftigten der Sekundarschulen (SNES) die Verlängerung des Streiks nicht ganz ausschließt. Die Fédération Mines et Énergie (Bergbau und Energie) der CGT ruft ihrerseits zum Streik am 5. Dezember und zu Vollversammlungen zur Entscheidung über die Kontinuität der Bewegung und über die am selben Tag durchzuführenden Aktionen. Im Luftverkehr rufen die elf Gewerkschaften von Air France zum Streik am 5. Dezember auf, und einige planen bereits eine Verlängerung, wie z.B. das Bodenpersonal, das sich an CGT und FO orientiert. In den Häfen fordert die CGT Ports et Docks einen 24-stündigen Streik, jedoch haben sie nicht über die Kontinuität gesprochen. Das Kollektiv Notfälle, das den Kampf in den Notaufnahmen der Krankenhäuser leitet, hat kürzlich zur Teilnahme am 5. Dezember aufgerufen. Der Streik wird auch die Müllabfuhr in vielen Großstädten wie Paris, Montpellier und Marseille betreffen. Dabei sind bereits im Falle von Paris erste Tendenzen zur Verlängerung für die folgenden Tagen zu beobachten. Wie wir sehen, entsteht eine riesige Front, und die Liste ist lange nicht vollständig.
Obwohl das Nievau der Konfliktivität überrascht, vor allem im Vergleich mit den ersten beiden Jahren der Macron-Regierung, in denen die Gewerkschaften aufgrund ihres versöhnlerischen Kurses Schwierigkeiten hatten, liegt das Novum in der jetzigen Situation woanders. Denn anscheinend wird sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten der Ruf zum Streik im privaten Sektor multiplizieren. Wie David Gistau, Konföderalsekretär/Bundessekretär der CGT gegenüber der Zeitung L’Expres behauptet: „Wir haben mehr als 1.000 Aufrufe zum Streik im privaten Sektor erhalten, in sehr unterschiedlichen Bereichen (…) Unter den Sektoren, die bereits ihre Mobilisierung ankündigt haben, befinden sich Bereiche und Unternehmen wie der Agrar- und Lebensmittelsektor mit mehr als 300 Streikaufrufen, zum Beispiel in Carambar, Perrier, Haribo. Der Metallsektor kündigte mit 200 Streikaufrufen seine Präsenz an, ebenso wie der private Transport mit den LKW-Fahrer*innen und der Einzelhandelssektor mit Carrefour, Géant oder Casino“. Aber was eine Neuheit darstellt, ist, dass es nicht die Gewerkschaftsvertreter*innen „…waren, die die Arbeiter*innen überzeugen mussten. Es sind die Arbeiter*innen gewesen, die gekommen sind, um die Gewerkschaftsorganisation darum zu bitten. Das Gleiche gilt für die CGT, die zahlreiche Anrufe von Arbeiter*innen von Unternehmen erhalten hat, in denen sie nicht gewerkschaftlich vertreten war, und die um Informationen darüber gebeten haben, wie man im privaten Sektor streiken soll. Angesichts der Begeisterungswelle stellten sie ein Kit zur Verfügung, in dem die Modalitäten dieser Aktion erläutert wurden, die in 2 Millionen Exemplaren verbreitet wurde.“
Und die gleiche CGT fährt fort: „…. das Phänomen ist zwar wegen seiner Ausdehnung außergewöhnlich, aber auch wegen der Vielfalt der Profile der Arbeiter*innen, die aus kleinen und mittelständigen Unternehmen stammen, selbst aus sehr kleinen Unternehmen. Tatsächlich ist es sehr schwierig, in diesen Unternehmen Streiks durchzuführen. Mehr Druck, keine Gewerkschaft vorhanden, eine direktere Verbindung mit ihren Vorgesetzten (….), die Arbeit niederzulegen kann für sie schädlich sein“.
Offensichtlich hat der Aufstand der Gelbwesten, der das spektakuläre Erwachen der ärmsten Schichten der Arbeiter*innen markierte, das Bewusstsein erweckt und ist stark in diese „Gewerkschaftswüsten“, die seit Jahrzehnten von den Gewerkschaftsbürokratien ausgegrenzt wurden, eingedrungen. Ein Symptom für die Tiefe und Potentialität der Situation.
Eine Auseinandersetzung mit offenen Ausgang
Der 5. Dezember wird nicht nur ein großer Tag des Kampfes sein, sondern auch ein Moment des Bewusstseins und des Vertrauens, ein Moment, um die gemeinsam unternommenen Schritte zu messen und die Stärke der Arbeiter*innenklasse zu überprüfen. Es bleibt abzuwarten, was nach dem 5. Dezember geschehen wird, insbesondere ab Montag, dem 9. Dezember, der als der entscheidende Tag dafür erscheint, ob die Bewegung die Weichen für einen langen politischen Streik stellt.
Wie bereits erwähnt, wurden die Gewerkschaftsführungen dazu von ihrer Basis gedrängt, und weil ihnen die Regierung mit all ihren Schwankungen keine andere Wahl gelassen hat. Das große Zugeständnis, das die Gewerkschaftsführungen erwarteten, die so genannte „Gran Pere“-Klausel (d.h. die Anwendung der Reform nur auf jene Menschen, die zum ersten Mal dem Arbeitsmarkt zu Verfügung stehen) wurde schließlich nicht vorgestellt. Noch am 26. November, in seinem letzten Treffen mit Premierminister Édouard Philippe, sagte Philippe Martinez, Generalsekretär der CGT, dass es „einen Ausweg für die Exekutive“ gäbe, „wenn sie guten Willen zeigt“. Am selben Tag sagte Laurent Escure, Generalsekretär der UNSA – eine der reformistischsten Föderationen, die aber im Gegensatz zur CFDT zu einem Streik aufruft –, dem Fernsehsender BMFTV, dass die Regierung schnell ein konkretes Angebot auf den Tisch legen müsse, denn „ohne eine Antwort könnte die Bewegung weitergehen“. Es sei „ein Fehler, die soziale Krise zu verschärfen“, drohte der Gewerkschaftssekretär. Denn „man weiß, wie eine soziale Bewegung beginnt, man weiß jedoch nicht, wie sie endet“. Ihm zufolge „liegt es in der Verantwortung der Regierung, entweder vor dem 5. oder nach dem 5. November, das Minenfeld dieser Situation zu räumen“. Denn es gibt die Gefahr, dass der Streik „mehrere Tage andauert, das ist sicher“.
Diese Haltung der Gewerkschaftsführungen veranschaulicht sehr gut einen der möglichen Wege aus dem Generalstreik, bzw. die Haltung der Gewerkschaftsbürokratien, einen Sprung im Klassenkampf zu vermeiden. In den 1930er Jahren wies der russische Revolutionär Leo Trotzki, als er mit einer englischen Strömung über das „Problem des Generalstreiks“ debattierte, auf eine „Kategorie“ des Generalstreiks hin, in der „….die Streikführer im voraus, d.h. vor dem Kampf, mit dem Klassenfeind über seinen Ablauf und Ausgang verhandeln. Die Parlamentarier und Trade-Unionisten sehen in einem bestimmten Augenblick die Notwendigkeit, der wachsenden Empörung der Massen ein Ventil zu verschaffen, oder sind einfach gezwungen, sich schleunigst der Bewegung anzuschließen, die neben ihnen aufflammt. In diesen Fällen laufen sie über die Hintertreppe zur Regierung und überlassen ihr die Entscheidung über die Führung des Generalstreiks, wobei sie sich verpflichten, ihn so bald wie möglich und ohne Zerschlagung des Regierungsgeschirrs zu beenden. Zuweilen – längst nicht immer – gelingt es ihnen, dabei im Voraus nichtige Zugeständnisse zu erhandeln, die ihnen selbst als Feigenblatt zu dienen haben. So handelte der Generalrat des britischen Gewerkschaftsrats (TUC) im Jahre 1926. So handelte 1934 Jouhaux. So werden sie auch weiterhin handeln. Die Enthüllung dieser ehrlosen Schiebungen hinter dem Rücken des kämpfenden Proletariats ist ein unerlässlicher Bestandteil der Vorbereitung des Generalstreiks.“ (Leo Trotzki: „Die ILP und die Vierte Internationale“) Angesichts dieser Perspektive ist es von grundlegender Bedeutung, dass der Druck und die Kontrolle der Basis vervielfacht werden, um diesen Verrat so weit wie möglich zu vermeiden. Und falls es unmöglich ist, zumindest den Preis, den die bürokratischen Führungen der Arbeiter*innenbewegung zahlen müssen, so hoch wie möglich zu treiben.
Die Revolutionär*innen und der Generalstreik
Aber während die größte Gefahr, die es zu bekämpfen gilt, die bürokratische Kontrolle der Bewegung ist, eröffnen die Tendenzen zur Kontrolle des Streiks von Seiten der Basis, zu ihrer Politisierung und zu ihrer Verallgemeinerung die Möglichkeit einer anderen Perspektive. Der Geist eines Streiks wie 1995 kombiniert mit der Radikalität der Gelbwesten ist ein Gespenst, das die Herrschenden erschreckt. Dass sich diese als „sehr wütende, ziellose, zügellose, fast gelbe Menge“ (Cornudet) ausdrückt, wäre ein Zeichen für die Brisanz der Situation.
Bei der Analyse der „stürmischen Streikwelle“, die 1931 zu Beginn der spanischen Revolution (1931-1939) durch das Land zog, schrieb der russische Revolutionär: „Zuerst einmal muss man sich klarmachen, dass dieser gewaltsame elementare Ausbruch von Streiks das unvermeidliche Ergebnis des Charakters der Revolution selbst und in einem gewissen Sinne ihre Grundlage ist. Die überwältigende Mehrheit des spanischen Proletariats weiß nicht, was eine Organisation bedeutet. Während der Dauer der Diktatur wuchs eine neue Arbeitergeneration heran, der eine selbständige politische Erfahrung fehlte. Die Revolution erweckt – und darin liegt ihre Stärke – die rückständigsten, niedergehaltensten und am stärksten unterdrückten arbeitenden Massen. Der Streik ist die Form ihres Erwachens. Durch den Streik melden sich verschiedene Gruppen und Schichten des Proletariats an, geben einander Zeichen, prüfen ihre eigene Stärke und die Stärke ihres Feindes. Eine Schicht erwacht und steckt die nächste an. Das alles zusammengenommen macht die gegenwärtige Streikwelle absolut unvermeidlich. Am allerwenigsten dürfen sich Kommunisten vor ihr fürchten, denn gerade hierin liegt der wahre Ausdruck der schöpferischen Kraft der Revolution. Nur durch diese Streiks, mit allen ihren Fehlern, ihren „Exzessen“ und „Übertreibungen“ erhebt sich das Proletariat auf seine Füße, sammelt sich als eine Einheit, beginnt, sich als Klasse zu fühlen und zu begreifen, als eine lebendige historische Kraft. Niemals haben sich Revolutionen unter einem Dirigentenstab entwickelt. Exzesse, Fehler, Opfer machen die wirkliche Natur jeder Revolution aus.“ (Leo Trotzki: „Die Rolle von Streiks in einer Revolution“)
Angesichts dieser Möglichkeit, die einen echten Sprung im Klassenkampf bedeuten würde, wäre es das Schlimmste, die in der Vergangenheit gezeigte Bewegungslosigkeit beizubehalten, oder eine Politik der Gegenüberstellung der revolutionären Kommunist*innen und der realen Bewegung aufrechtzuerhalten und zum zigsten Mal in Proklamationspolitik zu verfallen, wie es leider bei Lutte Ouvrière gegenüber der Bewegung der Gelbwesten der Fall war. Mit enormer Gültigkeit für heute – selbst für Strömungen, die behaupten, revolutionär zu sein, wie die kürzlich genannten – warnte Trotzki die Kommunist*innen seiner Zeit vor diesem Fehler und riet ihnen: „Hätte die Kommunistische Partei den Arbeitern gesagt: ‚Ich bin noch zu schwach, um euch zu führen; wartet deshalb ein wenig, beeilt euch nicht zu sehr, beginnt den Kampf nicht mit Streiks, lasst mich erst einmal stärker werden,‘ dann hätte sich die Partei hoffnungslos lächerlich gemacht, die erweckten Massen wären über sie hinweg geschritten, und anstatt stärker zu werden, wäre die Partei nur schwächer geworden. Selbst wenn ihr eine historische Gefahr richtig vorausgesehen hättet, bedeutet das nicht, dass ihr sie durch Argumentieren allein beseitigen könntet. Der Gefahr kann nur begegnet werden, wenn ihr die notwendige Stärke besitzt. Um aber eine solche Kraft zu sein, muss die Kommunistische Partei rückhaltlos in die Arena der sich entwickelnden „elementaren“ oder halb elementaren Streikbewegung hinein steigen, nicht, um sie zurückzuhalten, sondern um zu erlernen, wie man sie führt, und um mitten im Kampfprozess Anerkennung und Stärke zu erlangen.“
Angesichts des Potenzials, das der Streik ab dem 5. Dezember eröffnet hat, müssen die Revolutionär*innen auf die Möglichkeit setzen, die Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratien zu überwinden, die im Gegensatz zu 1995 stark geschwächt sind. Sie müssen von Beginn an Versammlungen der Gesamtheit der Streikenden organisieren, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, und die Bildung von ihnen gewählter Streikausschüsse und deren Koordinierung und Zentralisierung auf regionaler und möglichst nationaler Ebene in echten branchenübergreifenden Vollversammlungen voranzutreiben. Diesen Vollversammlungen müssendie Gewerkschaften unterstellt werden; in den Versammlungen müssen alle Strömungen, die zum Erfolg des Streiks beitragen wollen, das Recht haben, sich zu äußern. Aus diesem Grund ist das erfolgreiche Ergebnis des dritten Treffens der Arbeiter*innen der SNCF und der RATP, das am 27. November in Saint Denis stattfand, sehr ermutigend: Sie riefen alle streikenden Sektoren zu einer branchenübergreifenden Koordinierung am 6. Dezember auf. Um die Worte Trotzki angesichts der Situation in Spanien wieder aufzunehmen, dürfen Revolutionär*innen „….keinen Augenblick vergessen, dass den aus der Entwicklung der Revolution sich ergebenden Gefahren nicht durch wachsame Vorsicht begegnet werden kann, sondern nur durch Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit.“ Das ist es, wozu sich diejenigen von uns, die Révolution Permanente betreiben, verpflichten.
Dieser Artikel auf Spanisch bei La Izquierda Diario und auf Französisch bei Révolution Permanente.