Frankfurt: Palästinakonferenz schlägt zurück!

26.01.2025, Lesezeit 10 Min.
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Der palästinensische Historiker und Autor Hazem Jamjoum (NYU) auf die Frage, wie man die Hegemonie der Wissensproduktion bekämpfen könne: "Wir müssen uns die Produktionsmittel aneignen." (Foto: Dilara J. / Talking About Palestine Collective)

Obwohl sich die Uni quer stellte, konnte die Konferenz "Talking About (the Silencing of) Palestine" erfolgreich stattfinden. Wir waren vor Ort und berichten. Fazit: Es ist Zeit, unsere eigenen Strukturen aufzubauen!

Als „Wanderzirkus bekannter Israelhasser“ verleumdete der Antisemitismusbeauftragte des Landes Hessen, Uwe Becker (CDU), die Konferenz „Talking About (the Silencing of) Palestine“ noch bevor sie stattfinden konnte. Becker, der bereits wegen Diffamierung einer jüdischen BDS-Aktivistin verurteilt ist, setzte sich auch dieses Mal offensichtlich darüber hinweg, dass die Konferenz prominent vom Verein Jüdische Stimme mitorganisiert wurde.

Kurz darauf entzog die Goethe-Universität Frankfurt der Konferenz die Räume, angeblich aus verwaltungstechnischen Gründen. Der bisherige Umgang der Universität mit der Gruppe Students for Palestine legt jedoch die Vermutung nah, dass politische Gründe ausschlaggebend waren. Der Studierendengruppe verwehrt die Universität schon seit geraumer Zeit alle Räumlichkeiten und verhindert so eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Staatsraison und ihrer Komplizenschaft mit dem Genozid in Gaza. Wer die Repressionen an deutschen Universitäten über die letzten 15 Monate mitverfolgt hat, dürfte von diesem Umgang wenig überrascht sein. Erst letzten Dienstag wurden beispielsweise an der TU München propalästinensische Studierende und Akademiker:innen von der Polizei in einem Raum eingeschlossen und gefangen gehalten, nur weil sie die Universitätsleitung zu einem Gespräch über Palästina eingeladen hatten.

Allen Widrigkeiten zum Trotz konnte die zweitägige Konferenz erfolgreich – wenn auch in kleineren Räumlichkeiten – durchgeführt werden. Die Räume wurden von Medico International zur Verfügung gestellt, einer Menschenrechtsorganisation, die sich für das Recht auf Gesundheit und gegen die Ursachen von Armut einsetzt. Die über 350 Anmeldungen für die Teilnahme vor Ort zeugen von der Brisanz des Themas. Besucher:innen und Redner:innen aus der ganzen Welt nahmen an der Konferenz teil, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Situation in Palästina sowie das Silencing (Zensur) dieses Themas wissenschaftlich zu untersuchen. Dass die Konferenz selber Ziel dieses Silencings wurde, überraschte vor Ort niemanden.

Einige Highlights der Konferenz 

Eröffnet wurde die Konferenz mit einem dichten, aber stringent argumentierten Vortrag des palästinensischen Historikers und Autoren Hazem Jamjoum (NYU) darüber, wie die Vertreibung der Palästinenser:innen nur verstanden werden kann vor dem geschichtlichen Hintergrund des europäischen Kolonialismus, dem Holocaust, sowie imperialistischer Kriegstreiberei. Im Zuge des zweiten Weltkrieges verschlossen die alliierten Großmächte den meisten jüdischen Geflüchteten ihre Grenzen und zogen es vor, die ‚jüdische Frage‘ zu lösen, indem man Jüd:innen an einen Ort schickte, wo keine weißen Menschen wohnten – nach Palästina. 

Jamjoum argumentierte anhand detaillierter historischer Beweise, wie der israelische Staat seit den 1960er-Jahren eine räumliche Strategie verfolgt, die sich zusammenfassen lässt als: „Maximales Land mit minimaler Anzahl Palästinenser:innen.“ Oder im Umkehrschluss: Möglichst viele Palästinenser:innen auf möglichst kleinem Gebiet eindämmen. So wurden beispielsweise die allermeisten palästinensischen Dörfer in der Negev-Wüste nie von den israelischen Behörden anerkannt, wodurch das israelische Militär ihre gesamte Infrastruktur nach Belieben zerstören konnte. Die sieben Dörfer, die offiziell anerkannt wurden, nahmen somit die Funktion von Reservaten (Hebräisch rikuzim; Rikuz heißt „Konzentration“) an, wo die vertriebene palästinensische Bevölkerung konzentriert werden soll. In der Hinsicht sind die rikuzim vergleichbar mit den südafrikanischen Bantustans. Im Kontext dieser Geschichte ist also das genozidale Vorgehen Israels im Gazastreifen nach dem 7. Oktober nichts als die konsequente Fortsetzung der Devise „maximales Land mit minimaler Anzahl Palästinenser:innen“.

Ein weiteres Highlight der Konferenz war ein Gespräch mit dem Anglisten Kevin Potter (Universität Wien). Potter griff das zentrale Thema des Silencing in Bezug auf Akademiker:innen der postkolonialen Theorie auf und stellte die Frage, warum so viele Kolleg:innen auf diesem Gebiet sich zu Palästina ausschweigen – gerade wenn einer der Begründer der Disziplin, Edward Said, sich ausgiebig dazu geäußert hat. Gründe dafür sieht Potter in den Strukturen der neoliberalen Universität selbst: Der enorme Leistungsdruck, aufrechterhalten durch prekäre Anstellungsverhältnisse und massive Konkurrenz, führt zu Unterordnung, „nuance-mongering and willful ignorance“ (Haarspalterei und bewusster Ignoranz). Eine andere Schlüsselfigur der Postcolonial Studies, Frantz Fanon, wandte sich in seinem Werk und Leben emphatisch gegen die konstruierte Trennung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und Aktivismus. Genau diese Trennung wird heute aufrechterhalten und ausgenutzt, um politisch engagierte Akademiker:innen als ‚unwissenschaftlich‘ zu denunzieren.

Doch hegte Potter auch Zweifel am theoretischen Rüstzeug der Postcolonial Studies selbst: Steht nicht die postkoloniale Allergie gegen jeglichen Universalismus den Rufen nach einer ‚globalen Intifada‘ diametral gegenüber? Spielt nicht die anti-universalistische Einengung des Fokus auf bloß lokale Machtverhältnisse und Widerstände einem global agierenden Kapitalismus in die Hände, ganz nach dem Thatcher’schen Motto: „Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen und ihre Familien.“ Wir würden antworten: Ja, das tut sie.

Zuletzt sei noch der Beitrag des Berliner Rechtsanwalts Alexander Gorski hervorgehoben. Gorski hat zahlreiche palästinasolidarische Aktivist:innen vor Gericht vertreten, darunter auch unsere:n Redakteur:in. Er sieht sich in dieser Rolle als „Dienstleister“ sozialer Bewegungen, und nicht mehr als das. Er habe die Erfahrung gemacht, dass manche Aktivist:innen romantisierte Vorstellungen vom bürgerlichen Recht hegen und warnte ausdrücklich: „Es wäre ein Fehler zu denken, das Gesetz sei eines der wichtigsten Felder in diesem Kampf. Unsere politische Strategie sollte sich nicht an den Maßstäben des internationalen bürgerlichen Rechts messen.“ Denn wie die Erfahrung zeigt, pfeifen die Gerichte auf das internationale Recht, wenn sie daran kein politisches Interesse haben, auch wenn dieses gemäß der Verfassung bindend ist und über dem nationalen Recht steht. 

Wie weiter mit der Palästinabewegung?

Für uns ist klar: Die Befreiung Palästinas und der Kampf gegen den Imperialismus weltweit kann nicht in den Gerichten des Imperialismus gewonnen werden, sondern nur von einer organisierten Massenbewegung. Denn die arbeitenden Massen der Welt haben tatsächlich die Kraft, die imperialistische Kriegsmaschinerie lahmzulegen, doch nur, wenn sie gemeinsam agieren. Dass das keine bloße Phantasie ist, zeigen Beispiele wie die griechischen Hafenarbeiter:innen, die vor Kurzem Waffenlieferungen an Israel blockiert haben. Es ist wichtig und richtig, dass die studentische Palästinabewegung weiterhin über das Thema forscht und spricht, doch sie muss sich mit der Arbeiter:innenbewegung verbinden, wenn sie eine materielle Kraft aufbauen möchte, die in der Lage ist, dem Imperialismus etwas entgegenzusetzen (siehe unsere tiefere Auseinandersetzung dazu).

Was denn auch an der Konferenz in Frankfurt aus unserer Sicht zu kurz kam, waren Debatten darüber, was für eine Strategie wir brauchen, um Palästina zu befreien. Um diese letztendlich entscheidendste Frage anzugehen, hätte man mehr aktivistische Stimmen ins Programm aufnehmen sollen: Studierende aus der Palästinabewegung, Gewerkschafter:innen für Gaza, kämpferische Hafenarbeiter:innen… Es ist verständlich, dass die Veranstalter:innen ihrer Veranstaltung Legitimität verleihen wollten, indem der wissenschaftliche Aspekt hervorgehoben und auf das Recht auf Wissenschaftsfreiheit gepocht wurde. Doch wie die Goethe-Universität uns abermals bewiesen hat, hört dieses Recht genau da auf, wo die Wissenschaft ernsthaft an den Grundfesten des deutschen Staates und seiner Komplizenschaft zu rütteln beginnt.

Wenn man sich dann genau auf die konstruierte Trennung zwischen Wissenschaft und Aktivismus beruft, um zu versuchen, sein Anliegen zu legitimieren, kann das Ganze nur nach hinten losgehen. Stattdessen sollten wir diese Trennung entlarven als das, was sie ist: ein Machtinstrument zur Aufrechterhaltung des Status Quo. Das heißt nicht, dass wir Ansprüche an wissenschaftliche Stringenz zurückschrauben, sondern, dass wir selbstbewusst feststellen, dass gründliche wissenschaftliche Arbeit und politische Praxis einander bedingen und befruchten; dass

richtige revolutionäre Theorie, die ihrerseits kein Dogma ist, … nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültige Gestalt annimmt.

Lenin

Nicht zuletzt hängt Hoffnung – ein Begriff, der auf der Konferenz oft fiel – auch mit Strategie zusammen. Manchmal wird gesagt, dass wir, insbesondere in den imperialen Zentren, die Pflicht hätten, Hoffnung zu bewahren im Angesicht des unsäglichen Leids, das täglich unsere Feeds flutet (oder direkt vor unserer Nase auf dem Frankfurter Hauptbahnhof und in der Berliner U-Bahn anzutreffen ist). Doch revolutionäre Hoffnung ist keine reine Gemütseinstellung, zu der man sich einfach entschließt. Revolutionäre Hoffnung ergibt sich daraus, dass man sich eine Strategie erarbeitet, die konkret einen Weg aufzeigt, wie die Dinge anders werden können, ob hier oder in einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens.

Das Prinzip der Klassenunabhängigkeit

Ein letzter Punkt, der rege diskutiert wurde, war die Frage, wie weit man sich auf bestehende Institutionen und Strukturen, insbesondere die Universität, verlassen sollte, um für ein freies Palästina zu kämpfen. Nach den Erfahrungen der letzten 15 Monate war für die Meisten klar: Wir müssen „unsere eigenen“ Strukturen aufbauen. In Ausnahmefällen mag es funktionieren, in den Nischen dieses Systems revolutionäre Arbeit zu leisten, doch wie Hazem Jamjoum richtig feststellte, „that’s effectively like asking our oppressor to carve out a little space for us, you know?“ Doch wer ist dieses „wir“, das seine eigenen Strukturen aufbauen muss? Wir schlagen vor, das als einen Appell an das Prinzip der Klassenunabhängigkeit aufzufassen.

Wenn es die imperialistische Kriegsmaschinerie ist, die aus Eigennutz den Genozid in Gaza befeuert und wenn die globale Arbeiter:innenklasse die Macht besitzt, diese Maschinerie zu schwächen, dann ist es unabdingbar, dass sich die Arbeiter:innenklasse unabhängig von den Herrschenden organisiert. Unabhängige Organisationen der Arbeiter:innenklasse sind aber heutzutage leider sehr selten geworden. Die Partei DIE LINKE, die den Arbeiter:innen ein paar kleine Verbesserungen wie einen Mietendeckel verspricht, ist gleichzeitig angewiesen auf staatliche Gelder, um überhaupt als Partei funktionieren zu können. Wenig überraschend also, dass sie diesem Staat auch nicht ernsthaft entgegentreten kann. Erst kürzlich bewies sie beispielsweise mit dem Ausschluss des palästinensischen Aktivisten Ramsis Kilani und mit der Kandidatur eines Polizisten für den Bundestag, auf wessen Seite sie steht, wenn es hart auf hart kommt. 

Genau darum denken wir, dass es in dieser Zeit der zunehmenden Krisen wichtiger denn je ist, uns – das heißt, Arbeiter:innen und Unterdrückte – komplett unabhängig von Staat und Kapital zu organisieren und nur in unsere eigenen Kräfte zu vertrauen. Als Klasse Gegen Klasse tun wir das aktuell beispielsweise mit unserer unabhängigen sozialistischen Wahlkampagne in Berlin und in München, die einen ersten Schritt leistet, um unabhängige Kandidaturen nach dem Vorbild der revolutionären Linken Argentiniens in Deutschland bekannter zu machen. Die palästinensische Aktivistin und Journalistin Hebh Jamal, die mehrere Diskussionen auf der Konferenz moderierte, drückte heute ihre Unterstützung dafür aus: „Die deutsche Regierung macht sich an Mord und Genozid mitschuldig und liefert weiterhin Waffen an Israel, was ihren imperialistischen Interessen dient. Deswegen unterstütze ich die unabhängige Kandidatur der Hebamme Leonie Lieb, die Menschenleben über Profit stellt und mit einem anti-imperialistischen Programm gegen die Waffenlieferungen an Israel antritt.“ Nur wenn wir unabhängige Organisationen der Arbeiter:innenklasse aufbauen, können wir der herrschenden Klasse und ihren imperialistischen Kriegen geschlossen entgegentreten.

Die letzten Montag eingetretene Waffenruhe in Gaza beweist, wie wichtig politische Unabhängigkeit ist. Während die Verhandlungsführer:innen aus Ägypten, Qatar und den USA behaupten, sie hätten nun Frieden für Gaza gebracht, bleibt klar, dass die Blockade und die Besatzung trotzdem noch nicht beendet sind. Die Waffenruhe war außerdem kein Erfolg der herrschenden Klasse, sondern entstand auch maßgeblich durch den Druck des tapferen Widerstands in Palästina sowie der internationalen Solidaritätsbewegung. Es ist aber nur die selbstorganisierte Bewegung der Jugendlichen und Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren sowie in den arabischen Ländern, unabhängig von ihren Regierungen und Führer:innen, die über die brüchige Waffenruhe hinaus für die vollständige Befreiung Palästinas und das Ende der israelischen Besatzung kämpfen kann.

Das Thema Palästina ist also noch lange nicht vom Tisch und so wird es auch noch weiterer Diskussionen und Konferenzen dazu bedürfen. Die antiimperialistische Jugend ist erwacht. Sie wächst – und sie lernt, auf wen sie dabei vertrauen kann.

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