Fidel, Ché und der Sozialismus auf Kuba

10.10.2017, Lesezeit 9 Min.
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Gestern vor 50 Jahren wurde Ernesto "Ché" Guevara ermordet. Ein Anlass für Reflexionen über seinen Text "Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba". Von Juan Dal Maso und Fernando Rosso.

Mit seiner charakteristischen Klarheit beleuchtete Ernesto „Ché“ Guevara in „Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba“ eine Reihe von Problemen hinsichtlich des „Übergangs zum Sozialismus“ auf der Insel.

In seiner „Botschaft an die Völker dieser Welt über die Trikontinentale“ sagte Ché:

Die nationalen Bourgeoisien (haben) ihre ganze Widerstandskraft gegen den Imperialismus verloren. Wenn sie überhaupt je eine hatten, bilden sie nur das letzte Rad am Wagen des Imperialismus. Reformen sind nicht mehr möglich: entweder sozialistische Revolution oder Karikatur einer Revolution.

In diesem Artikel behandelt er eine der Kernfragen für jede Revolution: die Rolle der Arbeiter*innendemokratie oder die Organisierung der Massen.

„Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba“ ist gut bekannt und wurde aus entgegengesetzten Blickwinkeln verteidigt und kritisiert für die große Bedeutung, die Ché Guevara den moralischen und subjektiven Faktoren beim sozialistischen Aufbau beimisst.

Anlässlich des Todes von Fidel Castro, der einen großen Einfluss auf Lateinamerika und die Welt hatte, wird das Erbe der kubanischen Revolution wieder debattiert. Chés Artikel verdient deswegen, erneut herangezogen und analysiert werden, auf Basis der Lehren anderer historischer Erfahrungen, sowie anderer Beiträge der marxistischen Theorie.

Die Rolle der Arbeiter*innenklasse und der Räte

Ein Aspekt, der nicht oft bedacht wird, aber in Ches Gedanken eine große Rolle spielt, ist die Rolle der Arbeiter*innenklasse beim Aufbau des Sozialismus und die Formen der Organisierung der Revolution im Allgemeinen und des Übergangs zum Sozialismus im Besonderen. Der Text liefert keine finale Antwort auf diese Thematik, sondert wirft sie als ungelöstes Problem auf, auf das er bis 1965 keine Antwort hatte.

Ché Guevara weist auf Wichtigkeit der revolutionären Avantgarde hin. Aber er betont, dass der Hauptakteur im ganzen revolutionären Prozess, wie er es nennt, „die Massen“ sind:

Die Massen haben teilgenommen an den Agrarreformen und an der schwierigen Aufgabe der Verwaltung der Staatsbetriebe; sie haben die heroische Erfahrung von Playa Giron gemacht, sie haben sich in den Kämpfen gegen die verschiedenen vom CIA bewaffneten Banden gestählt; sie haben einen der bedeutsamsten Augenblicke der modernen Geschichte während der Oktober-Krise durchlebt, und sie fahren heute fort, für den Aufbau des Sozialismus zu arbeiten.

Jedoch stellt Ché die Beziehung zwischen den Massen und der Führung stets sehr einseitig, von oben nach unten dar:

(D)ie Massen verwirklichen mit einem Enthusiasmus und einer Disziplin ohnegleichen die Aufgaben, die die Regierung gestellt hat, seien sie ökonomischer, kultureller, verteidigender, sportlicher Natur usw. Die Initiative geht in der Regel von Fidel und vom Oberkommando der Revolution aus, und sie wird dem Volk erklärt, das sie sich zu eigen macht. Andere Male werden lokale Erfahrungen von der Partei und der Regierung angeregt, um dann gemäß demselben Verfahren verallgemeinert zu werden.

In diesem Kontext weist Ché Guevara auf die Wichtigkeit einer „dialektischen Beziehung“ zwischen Massen und Anführer*innen der Revolution hin. Er thematisiert zugleich die Verbindung zwischen der in der Partei organisierten „Avantgarde“ und den Massen, die oft von der Avantgarde vorangetrieben werden. Schließlich erreicht er eine hochgradig kontroverse und im Grunde irrsinnige Definition: Die „Diktatur des Proletariats“ werde „nicht nur über die besiegte Klasse, sondern auch – individuell – über die siegreiche Klasse ausgeübt.“

Um dieses Problem zu lösen, beleuchtet Ché Guevara ein Hauptdefizit im revolutionären Prozess, namentlich die Institutionen der Revolution:

Das impliziert für den vollständigen Erfolg eine Reihe von Mechanismen: Die revolutionären Institutionen – ein harmonisches Ganzes von Kanälen, Stufenleitern, gut geölten Zahnrädern -, weiche allein die natürliche Auslese derer, die das Zeug dazu haben, als Vorhut zu marschieren, erlauben und Belohnung oder Strafe denen zuerkennen werden, die sich gegenüber der im Aufbau befindlichen Gesellschaft verdient gemacht oder vergangen haben.

Wir sind noch nicht dazu gekommen, die Institutionen der Revolution zu schaffen. Wir suchen nach etwas Neuem, das eine vollkommene Identifizierung zwischen der Regierung und der Gemeinschaft erlaubt (Institutionen, die den besonderen Bedingungen des Aufbaus des Sozialismus angepasst und so weit wie möglich entfernt sind von den in eine werdende Gesellschaft verpflanzten Gemeinplätzen der bürgerlichen Demokratie, etwa den gesetzgebenden Kammern). Wir haben einige Versuche gemacht in der Absicht, nach und nach die Institutionen der Revolution zu schaffen, aber ohne allzu große Eile. Unsere stärkste Bremse ist die Befürchtung gewesen, eine formale Beziehung könnte uns von den Massen und vom Individuum trennen und uns die letzte und höchste revolutionäre Bestrebung aus den Augen verlieren lassen, die Bestrebung, den Menschen von seiner Entfremdung befreit zu sehen.

Trotz dem Fehlen von Institutionen, weiches stufenweise überwunden werden muss, machen die Massen gegenwärtig ihre Geschichte als ein bewusstes Ensemble von Individuen, die für die gleiche Sache kämpfen.

Mit diesen Gedanken, ohne es direkt zu erwähnen, benannte Ché Guevara ein fundamentales Problem im revolutionären Prozess auf Kuba: das Fehlen von Institutionen der direkten Demokratie der Arbeiter*innenklasse und der Kleinbauern*bäuerinnen, wie der Räte in der russischen Revolutio oder der cordones industriales der frühen 1970ern in Chile. Die Abwesenheit solcher Organe in der kubanischen Revolution machte sehr viel schwieriger, was Ché selbst als Notwendigkeit beschrieb: einen Anstieg der Beteiligung der Massen „an allen Lenkungs- und Produktionsmechanismen“. Und paradoxerweise war dieses von Ché beleuchtete Problem gerade ein Produkt der kubanischen Führungspolitik gegenüber der Arbeiter*innenbewegung, charakterisiert durch die monolithische Einheit der „Central de Trabajadores de Cuba“ (Arbeiter*innenzentrale von Kuba) und ihrer völlig von oben gesteuerten Planwirtschaft.

Im Gegenteil wäre es notwendig gewesen, eine Institution wie die Räte zu schaffen, also Zusammenkünfte von Delegierten der Basis der Arbeiter*innen in den Fabriken und Arbeitsplätzen, die sich auf regionaler wie landesweiter Ebene koordinieren. So eine Organisierung erlaubt es den Massen, eine tatsächliche konstituierende Macht zu werden. Initiativen werden dann nicht von oben nach unten gegeben, damit die Arbeiter*innen „bestätigen“ können, was von der Führung bereits diskutiert wurde. Der Prozess der demokratischen Selbstorganisierung ermöglicht eine viel egalitärere Beziehung zwischen der Führung und der Basis.

Arbeiter*innendemokratie vs. „Neuer Mensch“

Während der Konsolidierung eines bürokratischen Regimes in den UdSSR der späten 1930er war es Leo Trotzki, der Hauptgegner des Stalinismus und der Bürokratisierung, der die Notwendigkeit betonte, für Rätedemokratie als ein grundlegendes Banner zu kämpfen. Und zwar nicht wegen eines Problems der formellen Strukturen der revolutionären Institutionen, sondern wegen einer grundlegenden politischen Notwendigkeit: Die „moralische Stärke“ resultiert aus den Massen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen.

Deshalb war die Wiederbegründung der demokratischen Organisationen der Arbeiter*innen und Kleinbauern*bäuerinnen in den Räten – inklusive der Anerkennung aller politischen Tendenzen der Arbeiter*innen und der Kleinbauern*bäuerinnen, die die Revolution verteidigen –, und die Entfernung der bürokratischen Kaste eines der trotzkistischen Banner zur Rettung der Revolution.

Diese Idee war längst nicht nur abstrakte Theorie während des Aufkommens revolutionärer Prozesse im 20. Jahrhundert. In den 1950er und 60er Jahre wurden die Erhebungen in osteuropäischen Ländern von Sektoren der Arbeiter*innenklasse geführt, die den Sozialismus verteidigten und die Bürokratie ablehnte: DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968. Und das obwohl Trotzkist*innen keinen großen Einfluss hatten in diesen Prozessen hatten. Die Arbeiter*innen und Massen bildeten selbst Basisorganisationen, die von Fabrikversammlungen bis zu Arbeiter*innenräten reichten und umfangreiche Stadtgebiete umfassten.

In diesem Kontext besaß Ché Guevara die Schärfe und das Wahrnehmungsvermögen, um die Notwendigkeit zu erkennen, dem Protagonismus der Massen eine konkrete Form zu geben. Doch im fehlte die klare programmatische und strategische Perspektive, um das von unten zu organisieren und die vertikalen Machtstrukturen im kubanischen Staate zu überwinden. Stattdessen gibt er auf diese ungelöste Frage schließlich die Antwort, dass ein „neuer Mensch“ notwendig sei – angetrieben, ausgebildet und letztlich aufgebaut von der Avantgarde.

In seiner großartigen Chronik „Soviets in Action“ beschreibt John Reed – als Journalist, Revolutionär und guter Beobachter der russischen Revolution – die vielfältigen Funktionen der Räte: Sie sind bewusste Organe der Arbeiter*innendemokratie, essentiell um den Puls der Revolution vor und nach der Machtübernahme aufzunehmen, außerdem sind sie Schule für Wirtschaft und Politik.

Reed beschreibt die Institutionen, die von den Massen ausgehen, wie folgt:

“Die Hauptfunktion der Räte ist die Verteidigung und Konsolidierung der Räte. Sie drücken den politischen Willen der Massen aus, nicht bloß im All-Russischen-Kongress, wo ihre Autorität praktisch gesehen die höchste ist. Diese Zentralisierung besteht weil die lokalen Räte eine Zentralregierung gegründet haben und nicht die Zentralregierung die lokalen Räte. Organisiert von Unten fügt er hinzu:“Die Räte sind die geeignetste Form der Repräsentation der Arbeiter*innenklasse, es ist wahr, aber es sind auch die Waffen der Diktatur des Proletariats, der alle anti-bolschewistischen Fraktionen erbittert gegenüberstehen.

Es ist also nicht überraschend, dass die stalinistische Bürokratie damit begann, die Räte zu eliminieren, um ihre Macht als Kaste zu sichern.

Die Abwesenheit einer Organisationen wie der Räte war nicht die einzige Schwäche der kubanischen Revolution – die Unausführbarkeit des „Sozialismus in einem Land“ war eine andere. Doch die von Ché Guevara aufgeworfenen und von der Revolution ungelösten Fragen zu diskutieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, ist essentiell, um die kommenden revolutionären Prozesse vorzubereiten, um die besten Aspekte des unschätzbaren Erbes dieses Meilensteins in der Geschichte Lateinamerikas zu nutzen.

Dieser Text auf Englisch bei Left Voice und auf Spanisch bei La Izquierda Diario

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