Feminismus und Marxismus: Eine nötige Strategiedebatte

24.02.2020, Lesezeit 30 Min.
Übersetzung:
1

Die argentinische Marxistin und Feministin Andrea D'Atri, Gründerin der internationalen sozialistisch-feministischen Gruppierung Pan y Rosas (Brot und Rosen), bringt mit diesem Beitrag die Frage der Strategie zurück in die feministische Auseinandersetzung. Sie argumentiert – gegen die postmodernen und populistischen Strömungen, die den ewigen Widerstand fetischisieren oder einen allgemeinen Antikapitalismus predigen und dabei den Staat und die gewerkschaftlichen, sozialen und politischen Bürokratien außer Acht lassen – für die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Fraktionen in den Massenorganisationen der Arbeiter*innen und in der feministischen Bewegung.

Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Sammelband »Where have all the Rebels gone?«, herausgegeben von Christopher Wimmer, der im März 2020 im UNRAST-Verlag erscheint. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung des Vorabdrucks.

Nach drei langen Jahrzehnten der Stabilität beginnt die neoliberale Hegemonie aufgrund der kapitalistischen Krise, die 2008 begann und seither ungelöst ist, Risse zu bekommen. Davon zeugen auch einige soziale Bewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, wie die Indignados in Spanien, Occupy Wall Street von 2011 oder auch die internationale feministische Bewegung, die mit dem Schrei »Ni una menos« (Nicht eine weniger) Mitte 2015 in Argentinien entstanden ist und sich von dort über die ganze Welt ausbreitete. Es scheint sich bei diesen Protesten nicht nur um ein vorübergehendes Phänomen zu handeln. Diese Mobilisierung gegen Feminizide und gegen Gewalt an Frauen, an der sich in Argentinien eine Million Menschen beteiligte, hatte ›ansteckenden‹ Charakter: Der Aufruf überschritt schnell die Grenzen Argentiniens und am selben Tag schlossen sich andere Länder Lateinamerikas der Aktion an. Im folgenden Jahr gingen in Italien Tausende Frauen mit dem gleichen Ruf nach »Non una di meno« gegen sexistische Gewalt auf die Straße, während in Polen zum Streik gegen die weitere Einschränkung des Rechts auf Abtreibung aufgerufen wurde.

Am 21. Januar 2017 protestierte dann mehr als eine halbe Million Menschen, überwiegend Frauen, in Washington gegen Trump, der gerade die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten angetreten hatte. Später verbreiteten sich dann in den sozialen Medien Kampagnen gegen sexistische Gewalt, wie der Hashtag #MeToo in den USA oder #BalanceTonPorc in Frankreich.

2018 riefen die Frauen in Island zu einem Tag auf, an dem alle lohnabhängigen Frauen ab 14:55 Uhr ihre Arbeit niederlegen sollten. Damit wollten sie auf die Lohnlücke von 26 Prozent im Vergleich zu den Männern hinweisen. In Spanien eroberte der Hashtag #YoSíTeCreo (Ich glaube dir) die sozialen Medien. Er drückte den Protest gegen ein Gerichtsurteil aus, mit dem eine Gruppe Männer vom Vorwurf freigesprochen wurde, bei einem Volksfest gemeinsam eine junge Frau vergewaltigt zu haben. Dieser Fall wurde als »La Manada« (das Rudel) bekannt. Außerdem gab es Massendemonstrationen von Frauen in verschiedenen Städten Brasiliens, die sich gegen den damaligen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro richteten – der mittlerweile nach einer Stichwahl Präsident des Landes geworden ist.

Am 8. März 2018, dem internationalen Frauentag, beteiligten sich in 170 Ländern – von 194, die von der UNO anerkannt werden – Feminist*innen am ersten internationalen feministischen Streik. Im Januar 2019 gingen Feminist*innen in Spanien unter dem Motto »Nicht einen Schritt zurück bei Gleichheit und Diversität. Unsere Rechte sind nicht verhandelbar« erneut auf die Straße, auch um sich gegen die ultrarechte Partei Vox zu stellen. Und auch in diesem Jahr gab es erneut am 8. März einen zweiten internationalen feministischen Streik, mit großen Demonstrationen in verschiedenen Ländern.

Auch wenn der Feminismus, der im Schatten des Neoliberalismus entstanden ist, immer noch eine gewisse Vorherrschaft genießt – besonders im common sense, den die Massenmedien verbreiten –, wird diese Art des Feminismus doch zunehmend hinterfragt. Die weltweiten Demonstrationen zeigen genau dies.

Während Ivanka Trump oder Marine Le Pen es wagen, einige ihrer zutiefst reaktionären politischen und ideologischen Positionen als feministisch darzustellen, entstehen auf der anderen Seite aber wieder populare, dekoloniale, antirassistische, antiimperialistische und antikapitalistische Feminismen. Sie prangern die Mitverantwortung des neoliberalen Feminismus für die Politik der Kürzungsprogramme, der Flexibilisierung, des Abbaus des Sozialstaats und der zunehmenden Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse an.

Widerstand leisten oder den Sieg vorbereiten?

Wir können dabei sehen, wie durch diese aktuelle feministische Welle auch die Kritik erweitert und vertieft wird. Die Feminist*innen kritisieren die strukturellen Grundlagen der patriarchalen Herrschaft, ohne dabei konkrete Forderung nach gesetzlichen Reformen und ökonomischen Verbesserungen zu vergessen und zu vernachlässigen. Dadurch machen sie sichtbar, dass für Frauen etwas grundsätzlich falsch läuft in dieser Gesellschaft, in der wir leben – auch wenn wir dem politischen Regime mal mehr und mal weniger Rechte abgerungen haben. In den letzten Jahren beginnt sich in immer größeren Kreisen der Aktivist*innen die Vorstellung durchzusetzen, dass Patriarchat und Kapitalismus miteinander zusammenhängen – auch wenn dieser Zusammenhang häufig noch diffus bleibt und die Konzeptualisierung des Verhältnisses wenig einheitlich ist.

Anders gesagt: Der Kampf gegen die patriarchale Unterdrückung beginnt verstärkt einen antikapitalistischen Inhalt zu bekommen. Und zwar nicht so sehr deshalb, weil ein klares Bewusstsein über die untrennbare Einheit von Produktion und Reproduktion herrsche. Ebenso wenig, weil die Bewegung plötzlich für einen radikalen Umsturz eintreten würde. Sondern vielmehr, weil es immer offensichtlicher wird, dass die kapitalistischen Demokratien es nicht einmal schaffen, die grundlegendsten Forderungen nach Freiheit und Gleichheit abschließend zu lösen.

Gleichzeitig gibt es unter den Intellektuellen und Vordenkerinnen, die Teil dieses kritischen Horizonts antikapitalistischer Positionen in der aktuellen feministischen Bewegung sind, weiterhin Theoretisierungen und Postulate, die nicht über den Vorschlag des (fröhlichen) politischen Widerstands hinausgehen. Angesichts der möglichen Folgen der kapitalistischen Krise, die weiterhin den Nährboden für antidemokratische Politik bildet, gilt es, diese Schwäche der Verkürzung lieber früher als später zu überwinden.

Der Fokus auf Widerstand ist eine Schwäche, da Menschen schon immer Widerstand gegen all jene Existenzbedingungen geleistet haben, die sie zu Unterdrückung und Ausbeutung verurteilt haben. Wie es Daniel Bensaïd gut beschrieben hat, ist dieser Akt der Auflehnung »in erster Linie ein Akt der Selbsterhaltung, die erbitterte Verteidigung einer Unversehrtheit, die von der Zerstörung bedroht ist.«1 Ebenso setzt der Widerstand die fortdauernde Existenz dessen voraus, gegen das Widerstand geleistet werden soll. Er setzt auch voraus, dass diejenigen, die einem erlittenen Angriff eine organische, lebendige, fast reflexhafte Antwort entgegensetzen, in ihrer Opferrolle verdinglicht und verstetigt werden. Der Widerstand braucht also keine Theorie und keine Politik; er wird nahezu automatisch aus dem Instinkt zur Selbsterhaltung heraus geleistet. Zusammengefasst: Der Widerstand braucht keine Strategie.

Deshalb ist in den politischen und theoretischen Debatten, die im Rahmen dieser neuen feministischen Bewegung aufgekommen sind und die sich auf Widerstand beschränken, eine Strategie auch noch nicht präsent und absehbar, selbst wenn dort von Antikapitalismus gesprochen wird. Ganz so als ob der Kampf der Frauen nur Widerstand bleiben sollte und er sich nicht den Sieg zum Ziel setzen würde. Ganz so, als ob die Möglichkeit des Sieges nicht einmal Teil der Vorstellungskraft der Bewegung wäre.

Für uns ist es wichtig – und wir beharren darauf –, über diese Leerstelle in den aktuellen Debatten nachzudenken. Denn was heißt es, wenn in den Straßen Argentiniens die Frauen demonstrieren und singen: »Nieder mit dem Patriarchat, es wird fallen, es wird fallen, hoch mit dem Feminismus, er wird siegen, er wird siegen«. Wie muss man diesen Slogan verstehen, der sich in der ganzen spanischsprachigen Welt verbreitet hat? Wie werden antikapitalistische Positionen anschlussfähig an all die vielen Frauen in fernen und unterschiedlichen Straßen, die zum gleichen Rhythmus dieser Parole tanzen?

Der unendliche Skeptizismus des Widerstands ohne Siege

Aber damit diese Fragen zum Teil der Debatten der antikapitalistischen Feminismen werden, müssen wir die unheilvolle Situation überwinden, in der wir uns gegenwärtig befinden: Die Frage der Strategie wurde in den letzten Jahrzehnten, die ohne Revolutionen abliefen, vergessen. Das erklärt bis zu einem gewissen Grade auch die Abwesenheit dieses Begriffs in den heutigen Debatten.

Der kapitalistische Staat hat gezeigt, dass er nicht nur ein Zwangsapparat ist, sondern auch wie nie zuvor Mechanismen zur Eingliederung verschiedener Interessen entwickelt hat, gegen die wir auch ankämpfen müssen – dies bringt die zusätzliche Schwierigkeit mit sich, dass sie dem Anschein nach gut für uns seien. Es ist jedoch von zentraler Bedeutung, dieses Phänomen der Verbindung von Zugeständnissen und Repression in all seinen Dimensionen zu erfassen und zu verstehen, um die Entwicklung eines antikapitalistischen Feminismus neu denken zu können. Dies trifft ebenso auf andere soziale Bewegungen zu, die heute, wenn auch noch auf diffuse Weise, dieses Gesellschaftssystem angreifen, das immer größeres Elend für die Mehrheit der Menschheit bedeutet und die Zerstörung des Planeten vorantreibt.

Zwischen dem Ende der 1960er- und dem Anfang der 1980er-Jahre hatte die Bourgeoisie mit einem Aufstieg der Massen zu kämpfen, der nicht nur die Herrschaft der Kapitalist*innen infrage stellte, sondern auf der anderen Hälfte des Planeten auch die Stabilität der stalinistischen Bürokratien bedrohte. Die Weltordnung nach den Konferenzen von Jalta und Potsdam wäre zusammengebrochen, hätte es nicht den Verrat – durch die Einhegung und Assimilation – derjenigen Organisationen gegeben, die eigentlich auf der Seite der Massen zu stehen schienen. So war hier keine blutige Konterrevolution gegen die Massen notwendig, auf welche die Bourgeoisie zu anderen Zeitpunkten ohne Zögern zurückgriff. Wie Emilio Albamonte und Matías Maiello schreiben: »Unter den neuen Bedingungen nach dem Krieg und zur Eindämmung der Revolution entfaltete sich mit dem sogenannten ›keynesianischen Wohlfahrtsstaat‹ eine neue Grundlage für den Reformismus in den zentralen Ländern. Gleichzeitig wurde in der Peripherie ein Prozess der ›Dekolonialisierung‹ von oben unternommen, der die antikoloniale Revolution allerdings nicht eindämmen konnte. Diese beiden Prozesse, zusammen mit der Enteignung der Bourgeoisie ›von oben‹ in den Ländern Osteuropas, die unter der Besatzung der Roten Armee standen, waren Bestandteile einer Antwort auf den Aufschwung der Kämpfe in der direkten Nachkriegszeit. Sie bildeten eine ›passive Revolution‹ in großem Umfang.«2

Angesichts der Unzulänglichkeiten des Parlamentarismus für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Hegemonie weitete sich der Staat in die Zivilgesellschaft aus und integrierte, assimilierte, kooptierte und erschuf dort neue bürokratische und hierarchische Organisationen. Sie stehen mit einem Fuß in den Bewegungen, reichen den herrschenden Klassen aber die Hand. So tragen sie deren und ihre eigenen Interessen in die Bewegungen hinein, befrieden diese und bekommen im Austausch von den herrschenden Klassen einige Zugeständnisse für ihre jeweiligen Bereiche.

Das Ende der Periode der Radikalisierung der Massen, das durch die imperialistische Gegenoffensive erzwungen wurde, war gleichzeitig der Beginn von den unterschiedlichen und zahlreichen (intellektuellen) Hirngespinsten, die von einem Sieg einer ›allgegenwärtigen Macht‹ sprachen, die unsere Leben durchringen würde, unsere Körper formen und unsere Begehren und Diskurse durchziehen würde. Perry Anderson schreibt über die Periode nach der Niederlage und der Einhegung des 1968 begonnen Kampfzyklus, dass die Macht »jegliche historische Bestimmtheit« verloren hat. Es gebe »weder bestimmte Machthaber noch spezifische Ziele, denen die Ausübung der Macht dient.«3 Diese absolut gesetzte und damit unbestimmte Biomacht sei repressiv und marginalisierend. Sie etabliere die gesellschaftliche Norm und agiere nicht nur negativ, sondern produziere positiv auch das Verworfene, das Anormale, das Marginale.

Durch ein solches Verständnis von Macht wird die Notwendigkeit der herrschenden Klassen, den Staatsapparat zu kontrollieren, um das Privateigentum an Produktionsmitteln zu schützen (und die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft der enteigneten Mehrheit zu garantieren), von allen anderen Machtverhältnissen abgespalten. Dieses Machtverhältnis erschafft, reproduziert, legitimiert und vertieft die Unterordnung der Mehrheit der Menschen unter eine Minderheit. Diese unmaterialistische Konzeptualisierung von Macht entstand im Kontext der Weiterentwicklung sozialer Kontrollmechanismen, die nach den Niederlagen der Linken, die wir zu Beginn der 1980er-Jahre verorten können, ein bis dahin unbekanntes Ausmaß erreichten. Durch eine solche besondere und einseitige Lektüre des Phänomens der Macht wurde der fortbestehende Klassenantagonismus zugunsten der Vision einer Gesellschaft, die durchdrungen sei von der Mikrophysik der Macht, verschleiert. Jedoch gibt es immer noch den Antagonismus zwischen einer Klasse, die eine kleine Minderheit ausmacht und weltweit in immer weniger Händen den Großteil des Besitzes konzentriert, und der Klasse, die eine immer größere Mehrheit umfasst, und deren Arbeit ausgebeutet wird – und die ständig wächst, indem gewaltsam neue Kontinente und Millionen neuer (und diverser) ›Lohnsklaven und -sklavinnen‹ in die Logik des Kapitals integriert werden.

Wenn nun die Macht allmächtig ist, wäre auch der Klassenkampf unmöglich geworden. Die Lösung dieses Problems wird nun nicht darin gesehen, dieser Situation eine permanente Revolution entgegenzusetzen, sondern – wie bereits erwähnt – lediglich einen unendlichen und sich ewig wiederholenden Widerstand. Wenn der Staat nicht mehr »der Punkt [ist], an dem sich diese Macht- und Kräfteverhältnisse in einer bestimmten historischen Konfiguration verbinden und miteinander abstimmen«, sondern nur ein weiteres Machtverhältnis, »kann sich die programmatische Strategie in der Summe der Widerstände auflösen.«4 Ohne die Möglichkeit des Sieges reduziert sich diese Strategie zu einem Nichts.

Apokalypse oder Integration?

In diesem Rahmen wird die Kritik am Marxismus, der zu einer Karikatur gemacht wurde, um seinen Beitrag zum entschlossenen Kampf der Frauen herunterzuspielen, zu einem groben und unehrlichen Manöver, das mit einem Federstrich mehr als eineinhalb Jahrhunderte theoretischer, programmatischer, politischer und organisatorischer Anstrengungen einfach so für nichtig zu erklären versucht.

Gleichwohl ist es ohne Zweifel wichtig, einzugestehen, dass der Fortbestand dieser Karikatur des Marxismus nicht nur auf das Konto der glühenden Verteidiger*innen der neoliberalen Ordnung geht, die vom Ende der Geschichte reden, das von der Herrschaft der kapitalistischen Demokratien besiegelt worden wäre. Ebenso wenig sind es allein die neuen Bonapartismen und ultrarechten Bewegungen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind. Es ist auch ein ›Verdienst‹ von siebzig Jahren stalinistischem Regime in der ehemaligen Sowjetunion und den Ländern Osteuropas sowie der Rolle der kommunistischen Parteien im Rest der Welt. Wie ein Alptraum existiert diese Erfahrung im Gedächtnis der Massen weiter – vor allem in Europa. Dagegen vorzugehen, ist für diejenigen von uns, die sich weiterhin auf den Marxismus beziehen, noch immer eine notwendige und beschwerliche Aufgabe. Wir müssen diesem Marxismus aufgrund dieser Geschichte voller Verrat das Adjektiv »revolutionär« hinzufügen, um – nicht immer erfolgreich – einen Unterschied zu denen zu markieren, die im Namen des Marxismus lediglich seine Zerstörung durchführten.

Aber ebenso haben diejenigen, die die Perspektive einer sozialistischen Regierung der Arbeiter*innen gleich mit aufgegeben haben, wenn sie mit dem stalinistischen Regime des ›Realsozialismus‹ abrechnen, deutlich gemacht, dass sie sich weigern, gegen den realen Kapitalismus vorzugehen. So wurden sie – trotz einiger hochtrabender Reden – schließlich zu dessen Kompliz*innen. »Ich halte es für logisch, dass die kommunistischen und sozialistischen Parteien des entwickelten kapitalistischen Westens nicht nur ihre Taktik, sondern ihre gesamte Strategie auf Grundlage demokratischer Spielregeln entwickeln«, sagte beispielsweise der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Spaniens, Santiago Carrillo, im Jahr 1977 und läutete damit die Ära des Eurokommunismus ein.5 Und die Bourgeoisie begann, Hand in Hand mit der Sozialdemokratie und dem Stalinismus ebenso wie mit den Gewerkschaftsbürokratien, das Spiel des Neoliberalismus zu spielen, in dem die arbeitenden und armen Massen nur zu verlieren hatten.

Einige Jahrzehnte später – scheinbar am anderen Ende des politischen Spektrums – erneuerten sich die Utopien der zapatistischen Selbstverwaltungsgebiete (»Caracoles«) sowie der Räte der guten Regierung oder der solidarischen Ökonomien, mit denen die Zapatistas ihr schieres Überleben sichern wollten. »In der heutigen Situation (…) müssen wir die Welt ändern, auch wenn wir nicht wissen wie. Es funktioniert nicht durch den Staat, es ist ein kollektiver Prozess, fragend schreiten wir voran, aber Teil dieses Prozesses, in dem wir fragend voranschreiten, ist es, der Vorstellung freien Lauf zu lassen, nicht wahr? Sich neue Formen des Kampfes, neue Formen der Organisation vorzustellen, mit unserer Fantasie«, antwortete John Holloway in einem Interview von 2002.6 Aber es ist auch klar, dass die Fantasie alleine nicht die Belagerung und Repression durch Militär und Paramilitärs verhindern wird, genauso wenig wirtschaftliche Blockaden oder neue Grenzen. Sie allein wird es nicht aufhalten, dass wir im Elend und der Zerstörung leben, in die der Kapitalismus den Planeten treibt.

Schlussendlich nahm sich die real existierende Linke darauf nur noch vor, ›den Kapitalismus menschlicher zu gestalten‹, die ›Demokratie zu radikalisieren‹ oder ›die Revolution zu machen, ohne die Macht zu übernehmen‹. Dies sind verschiedene Wege, eine bessere Zukunft zu erreichen und dabei der (zweifellos schwierigen) Aufgabe auszuweichen, sich dem real existierenden kapitalistischen Staat entgegenzusetzen.

Die verschiedenen anti-neoliberalen Feminismen sind von diesen Perspektiven oder von verschiedenen Varianten davon nicht verschont geblieben. Egal ob sie die Perspektive der Apokalypse oder der Integration in das kapitalistische System vor Augen haben, ob sie sich vor dem Kampf um die Macht drücken oder sich in die Institutionen des politischen Regimes eingraben: diese verschiedenen Strömungen scheinen sich vorzustellen, dass der Aufbau einer künftigen Gesellschaft der Geschlechtergerechtigkeit möglich ist, ohne sich allzu sehr die Hände schmutzig machen zu müssen. Diesen Strömungen gelingt sogar das Kunststück, Frauen dazu aufzurufen, sich gegen den patriarchalen Kapitalismus aufzulehnen, ohne dabei jedoch zu erwähnen, dass dafür der Staat angegriffen und zerstört werden muss.7 Das ist ein wirkliches Problem, denn die Befreiung der unterdrückten und ausgebeuteten Massen ist im Kapitalismus unmöglich »nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparates der Staatsgewalt.«8

Dies haben die Niederlagen gezeigt, die schwer auf den Schultern der Massen lasten. Auch wenn es denjenigen nicht gefällt, die sich einen schönen Platz im Schatten der Institutionen des Regimes suchen – auf die Gefahr hin, sich in ihrer bürokratischen Korruption zu verfangen –, und ebenso wenig denen, die sich an die Ränder flüchten, um frei zu bleiben vom Schmutz der Politik – auf die Gefahr hin, nur sich selbst zu retten.

Den Himmel (und den kapitalistischen Staat) im Sturm erobern

Wo wir von Revolutionen sprechen… Welche Bedeutung kann eine Rückkehr zu diesem Begriff haben, rund ein Jahrhundert nach der proletarischen Revolution, durch die die Arbeiter*innenklasse in Russland die Macht ergriffen hatte? Welche Bedeutung kann sie haben auch besonders für Frauen und für diese neue feministische Welle, die die Kontinente im 21. Jahrhundert durchzieht? Nun, die Bedeutung liegt darin, dass die Mobilisierungen von Frauen heute, ein Jahrhundert später, die jeden 8. März die Metropolen erschüttern, uns aufzeigen, dass wir – auf mehreren Ebenen – verglichen mit dieser historischen Tat der Massen ein Jahrhundert im Rückstand sind. Es zeigt auch, dass die durch die Schläge der Krise abgenutzten kapitalistischen Demokratien ihre Zwangsmechanismen immer offener zeigen müssen – auf Kosten der Zugeständnisse des Wohlfahrtsstaats, die zuvor den gesellschaftlichen Konsens gesichert hatten.

Eine Revolution, die mit einem wilden Streik der Textilarbeiterinnen am 8. März 1917 begann, endete acht Monate später mit dem Sturm auf das Winterpalais und der Eroberung der Macht durch die Arbeiter*innenklasse. Ein Sturm, der einen Sprung ins Ungewisse bedeutete, und in dem auch die Gewohnheiten, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Sexualität und das Alltagsleben sich neugestalteten. Die Frauen erhielten das Recht, ein Ausweisdokument zu besitzen, das Recht auf Scheidung, auf Abtreibung. Die Ungleichheit zwischen ehelichen und unehelichen Kindern wurde aufgehoben, Frauen erhielten Zugang zu Bildung und Arbeit in allen Berufen, die Kriminalisierung der Homosexualität wurde aufgehoben. Das Recht der Frauen, zu wählen und gewählt zu werden, wurde eingeführt, fortschrittliche Maßnahmen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit wurden unternommen… und all dies, während »nicht nur die Revolution, sondern auch der Weltkrieg, der Bürgerkrieg, die Dürre und die Plagen das alte Russland vollständig auf den Kopf stellten. Die Kräfte aller sozialen Klassen, die untereinander gekämpft hatten, erschöpften sich oder erloschen. (…) Ende der 1920er-Jahre hatten Krankheiten, Hunger und niedrige Temperaturen allein siebeneinhalb Millionen Russ*innen getötet, während der Krieg vier Millionen Opfer gekostet hatte.«9 Es ist klar, dass wir die Bedingungen, in denen wir kämpfen müssen, nicht selbst wählen können. Aber es macht einen großen Unterschied, ob man auf diesen Moment vorbereitet ist oder nicht.

Diese proletarische Revolution, die von den Textilarbeiterinnen ausging – eine der am stärksten unterdrückten Schichten der russischen Arbeiter*innenklasse –, richtete sich gegen das autokratische Zarenregime und entwickelte sich weiter zur bis dahin radikalsten Transformation der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihr Echo hallt nach in den Stimmen der Frauen, die heute auf ihren Demonstrationen – in den unterschiedlichsten Sprachen und mit den verschiedensten Ausdrücken – anprangern, dass die »Gleichheit vor dem Gesetz (…) noch nicht Gleichheit im Leben«10 bedeutet. Schlimmer noch: dass sogar die »Gleichheit vor dem Gesetz« ein Versprechen ist, dass die kapitalistischen Demokratien nicht mehr abgeben können, ohne sich zutiefst dafür schämen zu müssen. Denn Millionen von Menschen ohne Papiere sind neuen Formen der Versklavung unterworfen, leben unter Bedingungen extremer Prekarisierung, werden verfolgt, kriminalisiert oder wie Abfall behandelt – wenn sie nicht ihr Grab in der mexikanischen Wüste finden, die bereits jetzt schon von Leichen gepflastert ist, oder im kristallklaren und finsteren Grund des Mittelmeers. Das Paradies liegt nie auf der anderen Seite der Grenze. Es gibt einige, die den Schiffsbruch oder die Repression der Grenzpolizei überleben, aber es gibt keine kollektive Rettung.

Daher reicht ein nahezu unbegrenztes Vertrauen in die pure Kunstfertigkeit der sozialen Bewegungen nicht aus, die versuchen, unbeschmutzt von einer ›ungesunden‹ Einmischung in die verrostete Politik zu agieren. Ebenso genügt es nicht, sich auf eine Abgrenzung von der Marktlogik durch die solidarische Ökonomie, die feministische Selbstverwaltung oder ähnliche Varianten zu stützen, um sich vor den Gräueltaten des Kapitalismus zu bewahren. Denn es ist für uns klar, dass es keine Möglichkeit des Ausbruches aus der geschlechtlichen Unterdrückung und der Ausbeutung der Klassengesellschaft geben kann, die beide dieses verfaulte System strukturieren, in dem wir leben. Doch wenn es keinen möglichen Ausweg für Millionen Menschen gibt und wir gleichzeitig nicht akzeptieren wollen, die naturalisierte Rolle als Opfer, die (nur) Widerstand leisten können, einzunehmen, müssen wir notwendigerweise diskutieren, wie wir den patriarchalen Kapitalismus zerstören, bevor er uns und den gesamten Planeten zerstört.

Vor einem Jahrhundert war eine Revolution notwendig, um am Ende einige Reformen zu erreichen, die das Leben der Frauen tiefgreifend veränderten – und die selbst für die damals fortgeschrittensten kapitalistischen Demokratien unerhört waren. Welchen effizienteren und realistischeren Weg gibt es heute, wenn es noch nicht mal mehr Raum zu geben scheint, um lediglich einen Kapitalismus ›mit menschlichem Antlitz‹ zu verwirklichen?

Wenn die Perspektive der sozialistischen Revolution die einzige wirklich realistische ist, um die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen grundlegend zu ändern, ist es notwendig zur Frage der Strategie zurückzukehren. Denn es gibt keine Erfahrung, die uns aufzeigen würde, dass wir den Sozialismus mit der schrittweisen Eroberung von Räumen, Institutionen und kleinen Nischen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft selbst erschaffen könnten. Genauso wenig können sich die Aufstände, Ausschreitungen und Massenaktionen allein in dauerhafte Siege verwandeln, zu denen in den sozialen Medien von allen und niemandem aufgerufen wird.

Anders als die Bourgeoisie, die ihre wirtschaftliche Kraft entwickelte, bevor sie dem Ancien Régime die politische Macht entriss – wobei sie sich auf die Allianz mit den armen Massen stützen konnte –, müssen die vom Kapitalismus ausgebeuteten und unterdrückten Massen jeden Versuch der Sabotage des herrschenden Systems, jedes Stück verweigerten Mehrwert, jede illegale Aktion in Verteidigung legitimer Rechte teuer bezahlen. Deshalb benötigt die sozialistische Revolution die vorherige Organisierung der Ausgebeuteten und der Unterdrückten, die sich für genau dieses Ziel vereinen müssen. Es bedarf des Bewusstseins über diese Ziele: Es bedarf der Strategie.

Vom ›was‹ zum ›wie‹ übergehen

Um auf die erwähnte Parole der argentinischen Frauen zurückzukommen: Es erscheint uns notwendig, auf die vagen Bedeutungsinhalte hinzuweisen, die dieses »Hoch mit dem Feminismus, er wird siegen, er wird siegen« annehmen kann. Auch wenn dieser Slogan auf den Demonstrationen immer wiederholt wird, ist unklar, was dieser »Sieg« für die heutige Frauenbewegung sein soll, die auf der ganzen Welt für so unterschiedliche und diverse Ziele auf die Straßen geht: gegen die geschlechtliche Lohnlücke, gegen die Feminizide und die Gewalt aufgrund des Geschlechts, für das Recht auf Abtreibung, gegen die Wahlerfolge der politischen Rechten, gegen Zwangsräumungen und Arbeitslosigkeit, für den Sturz einer Regierung oder um das Justizsystem zu kritisieren, gegen die Kriminalisierung der Proteste und der Migration, für die Anerkennung der Reproduktionsarbeit und gegen die Belästigung am Arbeitsplatz…

Dabei gibt es durchaus Fortschritte. So wird beispielsweise die Idee eines automatischen Sturzes des patriarchalen Systems – ganz so als ob dieser objektiv im Ablauf der Ereignisse vorprogrammiert wäre – von der Bewegung intuitiv und ironisch infrage gestellt. Auf Demonstrationen, auf denen die Mehrheit noch vom unausweichlichen Niedergang des Patriarchats summt, gibt es auch Schilder, auf denen zu lesen ist: »Es [das Patriarchat] wird nicht fallen, wir werden es stürzen«. Dies ist ein flashforward auf den Straßen, noch lange bevor die Debatten des antikapitalistischen Feminismus zu dieser Frage vorgedrungen sind.

Diese elliptische Aussage lässt sich leicht nachempfinden, sie ist für die Frauen klar verständlich, die in den letzten Jahren auf die Straßen gegangen sind. Sie weist bereits auf die Existenz eines aktiven kollektiven Subjekts hin, muss aber noch in Programm und Strategie übersetzt werden. Das heißt, es muss vom ›was‹ zum ›wie‹ übergegangen werden. Das Patriarchat wird nicht fallen, wir müssen es niederreißen. Aber wie machen wir das? Wie die Geschichte zeigt, fiel der Sieg im Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten nie vom Himmel und wenn der Sieg eine Aufgabe ist, braucht es die subjektive Bereitschaft, ihn bewusst vorzubereiten.

Deshalb glauben wir, dass die derzeitige neue feministische Welle mit ihren Massendemonstrationen, Streiks und anderen Massenaktionen, Debatten über das Verhältnis von Feminismus und Marxismus führen sollte. Denn die demokratischen und sozialen Forderungen, die auf den Demonstrationen der Frauen gerufen werden, die antirassistischen, antiimperialistischen und antikapitalistischen programmatischen Erklärungen einiger Bereiche der feministischen Bewegung zwingen uns ebenso wie der Klassenkampf, in dem die Frauen eine bedeutende Rolle einnehmen, dazu, einmal mehr auf Streitfragen zurückzukommen, die seit einigen Jahrzehnten ungelöst sind. Sie wurden begraben, ausgegraben und mehr als einmal wieder beerdigt.

Ebenso ist es von entscheidender Bedeutung, wie wir das Verhältnis zwischen Identitätspolitik und Klassenpolitik denken. Wie etablieren wir Allianzen zwischen der Arbeiter*innenklasse (die heute so weiblich ist wie nie zuvor) und anderen sozialen Gruppen, die auch vom Kapitalismus unterdrückt werden? Wie kämpfen wir dafür, dass demokratische Forderungen in der Arbeiter*innenklasse Gehör finden? Wir müssen auf all diese Punkte zurückkommen. Aber vor allem ist es notwendig, »wieder die Würfel der strategischen Vernunft zu werfen.«11

Den Sturz des Patriarchats vorbereiten: die Aufgabe des antikapitalistischen Feminismus

Wie muss sich nun ein antikapitalistischer Feminismus vorbereiten, der nicht das ewige Lied des Widerstands singen will, dass sich ohne eine Perspektive auf den Sieg abfindet? Zuallererst müssen politischer Freund und Feind klar bestimmt werden. In der Krise der neoliberalen Hegemonie – und damit auch der Krise des Feminismus gleicher Prägung – greifen nicht nur die Varianten des Rechtspopulismus um sich, sondern auch andere politische Initiativen, die auf die eine oder andere Weise die bürgerlichen Demokratien stützen. Angesicht dieser Krise muss man den politischen Streit mit ihnen suchen.

Die lohnabhängige Klasse wird von der Gewerkschaftsbürokratie wie von einer politischen Polizei überwacht, damit sie in der Verteidigung ihrer Rechte nicht über ihre engen Grenzen schlägt, die das Regime ihr setzt. Daran arbeiten die Bürokratien der sozialen Bewegungen zeitgleich mit, indem sie verhindern, dass sich die demokratischen Kämpfe mit der Gesamtheit der Forderungen der Arbeiter*innenklasse verbinden. Anstatt die Kräfte der Ausgebeuteten und Unterdrückten, die ja die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, zu bündeln und in eine antikapitalistische und revolutionäre Richtung zu lenken, führt die Politik der Bürokratien zum genauen Gegenteil, zur Spaltung und Befriedung.

Die lohnabhängigen Klassen bleiben somit untergeordnet unter bürgerlich-nationalistische, neoliberale oder reaktionär-populistische Führungen. Währenddessen gewinnen die Neoreformismen mit ihrem kleinbürgerlichen Charakter Einfluss innerhalb der Jugend in den urbanen Zentren, die Zugang zu einer höheren formalen Bildung haben. Aber »der Kampf um die Hegemonie setzt voraus, die klar abgegrenzten Räume zu überschreiten, die die Bourgeoisie der Arbeiter*innenbewegung ermöglicht, um dort ein für die kapitalistische Klassenherrschaft harmloses politisches Spiel zu spielen. Heute sind diese Grenzen schon zu eng, wie es durch sein Negativbeispiel das Phänomen des ›Neoreformismus‹ zeigt. In einer ›gesättigten‹ politischen Struktur wie der gegenwärtigen, ist es nur durch den Kampf, in seinem vollständigsten Sinne, möglich, dass sich eine revolutionäre Kraft den Weg bahnt.«12

Ist der antikapitalistische Feminismus für eine solche revolutionäre Perspektive bereit? Ist die Arbeiter*innenklasse bereit, die Führung in Form der Gewerkschaftsbürokratien zu überwinden, die ihr heute die Hände bindet? Für beides reicht es nicht, in kleinen Zirkeln zu feministischen Streiks aufzurufen und sich dann hinzusetzen und darauf zu warten, dass diese stattfinden. Dafür ist es notwendig, einen Kampf zu führen, der damit anfängt, revolutionäre Fraktionen in den Massenorganisationen der Arbeiter*innen aufzubauen. Diese müssen die Fähigkeit entwickeln, die Bürokratie zu besiegen und zu überwinden. So kann sich die Arbeiter*innenbewegung aus ihrem Korsett befreien und die Einheit mit anderen gesellschaftlichen Bereichen vorantreiben, im Kampf für all die Forderungen, die in der großen Mehrheit der Menschen Widerhall finden.

Solche Verbindungen müssen auch zu den sozialen Bewegungen gesucht werden. Aktuell werden diese mehrheitlich von Jugendlichen und Studierenden in den urbanen Zentren getragen. An ihren Protesten nehmen die Teilnehmer*innen vor allem als »Staatsbürger*innen« teil, das heißt, als staatlich regulierte Individuen und nicht mit der Kraft als Teil einer Klasse. Daher ist es dort notwendig, Brücken hin zu der gesellschaftlichen Mehrheit der lohnabhängigen Klasse zu schlagen, in der Frauen heute mehr als 40 Prozent ausmachen. Die Existenz dieser sozialen Bewegungen wie der Feminismus, die in den letzten Jahren weltweit die politische Bühne betreten haben, eröffnet die Möglichkeit, antikapitalistische und revolutionäre Flügel aufzubauen, die sich gegen ihre eigenen Bürokratien auflehnen. Die Bürokratien der sozialen Bewegungen sind zwar weniger sichtbar als die in den Gewerkschaften, aber sie betätigen sich auch im Feminismus, um ihn mithilfe verschiedener bürgerlicher politischer Varianten dem kapitalistischen Staat unterzuordnen.

Deshalb ist es ein politischer Kampf: »Es handelt sich um den Kampf der Bewegungen, den Klassenkampf; aber auch um den politischen Kampf, den wir heute führen müssen, indem wir diejenigen entlarven, die sich als kleinere Übel verkaufen. Sie repräsentieren das freundlichste Gesicht der kapitalistischen Demokratien angesichts der Delegitimierung der traditionellen Varianten der kapitalistischen Regime.«13 Es ist der Kampf, der verhindern will, dass das kapitalistische System die feministische Bewegung integrieren und assimilieren kann, die gerade heute beginnt, es infrage zu stellen.

Millionen lohnabhängige Arbeiterinnen und Arbeiter sind verantwortlich für die Energieversorgung und die Telekommunikation, sie fahren die Verkehrsmittel, die die Zirkulation von Waren und Arbeitskraft garantieren, sie realisieren die ›unsichtbare‹ Arbeit der Reinigung – all dies ermöglicht es dem Kapitalismus, täglich zu funktionieren. Diese ausgebeutete Klasse – die immer weiblich und ›rassifiziert‹ ist – hat nicht nur die Macht in ihren Händen, die großen Metropolen lahmzulegen, indem sie das Funktionieren der Wirtschaft unterbrechen und die kapitalistischen Gewinne schädigen kann, sondern sie ist auch in der Lage, Allianzen mit anderen Sektoren der Massen knüpfen, die vom Kapital unterdrückt werden.14

Wenn wir dieses Potential nicht nutzen, führen wir uns selbst unausweichlich in die Niederlage. Wenn wir den Kapitalismus tödlich verletzen wollen, müssen wir auf unserer Seite die Millionen Frauen (und Männer) haben, die über diese Kampfkraft verfügen.

Siegen bedeutet mehr, als sich zu widersetzen. Wir wollen nicht nur bei der Verteidigung unseres elementarsten Rechtes aufs Überleben stehenbleiben, während unser gesellschaftlicher Anteil unter den Schlägen des Kapitals immer kleiner wird. Die Bourgeoisie besitzt die Macht des Staates, um all die Ausbeutung und Plünderung hinter einer immer weiter bröckelnden Fassade zu verschleiern. Sie besitzt auch das Gewaltmonopol, um den Status quo aufrechtzuerhalten, wenn ersteres nicht mehr ausreicht. Wir müssen daran arbeiten, dass wir ›auf unserer Seite‹ auf die Kräfte der Mehrheit der Gesellschaft zählen können. Es gilt, daran zu erinnern, dass das revolutionäre Potential dieser Kräfte immer noch so bedrohlich ist, dass die herrschende Klasse ihnen nicht zu kämpfen erlaubt, damit ihr nicht die Macht entrissen wird, und es stattdessen bestenfalls zum passiven Widerstand verurteilt wird.

Unser Ziel muss es sein, die Funktionsweise der Ökonomie und die kollektive Verwaltung des Öffentlichen tiefgreifend zu demokratisieren. Dafür ist es wichtig, dass wir heute – in der Vorbereitungszeit – nicht nur Kämpfe begleiten, unsere Körper in Bewegung setzen und auf die Straßen gehen, sondern auch politische und ideologische Debatten führen, damit ein Großteil der Bewegung sich diese Perspektive zu eigen macht. Millionen Unterdrückte und Ausgebeutete wollen »die erbitterte Verteidigung einer Unversehrtheit, die von der Zerstörung bedroht ist«15 hinter sich lassen und, wenn die gesammelten Kräfte und die Bedingungen es zulassen, in die Offensive gehen, um den Sieg zu erringen.

»Where have all the Rebels gone?« Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht

Christopher Wimmer (Hg.)
»Where have all the Rebels gone?«
Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht

ISBN 978-3-89771-277-5
Erscheinungsdatum: März 2020
Seiten: 304
Ausstattung: Softcover, Klappbroschur
zur Verlagswebsite

Fußnoten

1.Bensaïd, Daniel: Résistances. Essai de taupologie générale. París 2001, S. 29. Eigene Übersetzung.

2.Albamonte, Emilio/Maiello, Matías: Estrategia socialista y arte militar. Buenos Aires 2017, S. 529. Eigene Übersetzung.

3.Anderson, Perry: In the Tracks of Historical Materialism. London 1983, S. 59. Eigene Übersetzung.

4.Bensaïd, Daniel: Elogio de la política profana. Barcelona 2009, S. 165. Eigene Übersetzung.

5.Carrillo, Santiago: Eurocomunismo y Estado. Barcelona 1977. Eigene Übersetzung.

6. Quirarte, Benjamín: Cambiar el mundo sin tomar el poder. Interview mit John Holloway. Eigene Übersetzung.

7. Vgl.: D’Atri, Andrea/Murillo, Celeste: Feminismus für die 99 Prozent: Strategien im Widerstreit.

8. Lenin, Wladimir I.: Staat und Revolution. In: Ders.: Werke, Bd. 25. Berlin 1972, S. 400. Hervorhebung im Original.

9. Andrea D’Atri, Andrea: Abrir paso a las más profundas y verdaderas reformas. Buenos Aires 2011, S. 18. Eigene Übersetzung.

10. Lenin, Wladimir I.: An die Arbeiterinnen. In: Ders.: Werke, Bd. 30. Berlin 1961, S. 363.

11. Bensaïd, Daniel: Fragmentos descreídos. Barcelona 2010, S. 18. Eigene Übersetzung.

12. Albamonte/Maiello 2017, S. 551. Eigene Übersetzung.

13. D’Atri/Murillo. A.a.O.

14. D’Atri, Andrea: Déconstruire le féminisme civilisationnel. À propos d’Un Féminisme Décolonial, de Francoise Vergès. Eigene Übersetzung.

15. Bensaïd 2001, a.a.O. Eigene Übersetzung.

Mehr zum Thema