Fast 40 Prozent der Post-Beschäftigten gegen mieses Tarifangebot
Obwohl 85,9 Prozent der Postler:innen im März für einen Erzwingungsstreik stimmten, wurde nun ein Angebot angenommen, das deutlich hinter den Forderungen zurückblieb. Wie können wir innerhalb der Gewerkschaften mehr Demokratie erkämpfen?
Die bei der Deutschen Post beschäftigten ver.di-Mitglieder haben in einer Urabstimmung darüber entschieden, ob sie das Mitte März vorgelegte Tarifangebot annehmen wollen. 61,7 Prozent stimmten dafür, somit ist das Angebot angenommen.
Der neue Tarif sieht 11,5 Prozent Lohnerhöhung vor, mit einer Laufzeit von 24 Monaten. Ver.di war mit der Forderung nach 15 Prozent Lohnerhöhung und 12 Monaten Laufzeit in die Tarifverhandlungen gestartet. Die nun beschlossene lange Laufzeit des Tarifvertrages bedeutet, dass die Gehaltserhöhung aufgestückelt wird: bis April 2024 erhalten die Kolleg:innen lediglich 180 Euro zusätzlich im Monat, erst danach gibt es für ein Jahr eine Lohnerhöhung von 340 Euro pro Monat. Im April 2023 soll es eine steuerfreie Einmalzahlung von 1020 Euro geben. Zwar ist die Lohnerhöhung auf dem Papier höher als die derzeitige Inflationsrate, jedoch bleibt durch die Aufteilung über die lange Laufzeit am Ende davon weniger übrig, ein echter Inflationsausgleich sieht anders aus.
Die stellvertretende ver.di-Vorsitzende und Verhandlungsführerin Andrea Kocsis sieht es dennoch positiv: „Das ist ein gutes Ergebnis, das ohne den Druck und die hohe Streikbereitschaft unserer Mitglieder nicht hätte erreicht werden können“. Im März zeigte sich die hohe Streikbereitschaft der Post-Kolleg:innen dadurch, dass 85,9 Prozent nach der dritten Verhandlungsrunde dafür stimmten, angesichts des schlechten Angebots in den unbefristeten Streik zu treten. Die Tarifkommission schenkte diesem starken Zeichen wenig Beachtung und begab sich in eine vierte Verhandlungsrunde, die nur minimal bessere Ergebnisse erzielte. Nach dieser Verhandlung wurde eine erneute Urabstimmung eingeleitet, deren Ergebnisse nun bekannt wurden.
Das Verhalten der ver.di-Verhandlungsführung ist zutiefst antidemokratisch. Statt sich dem Votum der Mitglieder für den Abbruch der Verhandlungen und einen Erzwingungsstreik zu beugen, wurde weiter verhandelt und kurz darauf neu abgestimmt. Dass 61,7 Prozent der Beschäftigten nun für die Annahme des Ergebnisses stimmten, heißt umgekehrt auch, dass 38,3 Prozent nicht dafür waren.
Der ver.di-Arbeitskampfrichtlinie zufolge müssen mindestens 75 Prozent der von einem Tarifvertrag betroffenen ver.di-Mitglieder innerhalb einer Urabstimmung für einen Erzwingungsstreik stimmen, danach entscheidet der Bundesvorstand darüber, einen solchen einzuleiten. Für den Abbruch eines Erzwingungsstreiks genügt hingegen das Votum von nur 25 Prozent der betroffenen ver.di-Mitglieder. Somit sind die Hürden für einen Erzwingungsstreik sehr hoch im Vergleich zu denen für die Annahme eines schlechten Angebots, wie in diesem Fall geschehen.
Das Ergebnis bei der Post bietet Grund zur Sorge, dass die Gewerkschaft in dern aktuell laufenden Verhandlungen im öffentlichen Dienst (TVöD) ebenfalls einknicken könnte. Aus diesem Anlass wurde unter dem Slogan „Tarifrunden 2023 – Die Chance nutzen!“ eine Petition gestartet, dass es diesmal anders läuft. Über 260 Gewerkschafter:innen unterschrieben bisher dafür, keine Abschlüsse unter einem Inflationsausgleich anzunehmen, bei höchstens zwölf Monaten Laufzeit. Zudem sollen keine Angebote angenommen werden, ohne eine Urabstimmung für einen Erzwingungsstreik durchzuführen und diesen gegebenenfalls durchzusetzen.
Um wirklich unsere volle Kampfkraft entfalten zu können, brauchen wir nicht nur neue Regelungen für Urabstimmungen über Erzwingungsstreiks, die mit den undemokratischen Hürden Schluss macht. Eine einfache Mehrheit, also mehr als die Hälfte der Stimmen, sollte ausreichen, um in den Erzwingungsstreik zu gehen. Zudem müssen alle Mitglieder der Tarifkommissionen nach dem imperativen Mandat agieren. Das heißt, die Abstimmungen, die in Streikversammlungen durchgeführt werden, müssen für sie bindend sein. Wir dürfen uns in Tarifverhandlungen nicht mehr mit Einmalzahlungen und minimalen Lohnerhöhungen abspeisen lassen und müssen bereit sein, für die volle Durchsetzung der Forderungen in den Erzwingungsstreik zu gehen.