Fast 100 Streiktage. Und nun?

06.01.2016, Lesezeit 9 Min.
1

Amazon: Im Frühjahr 2013 fand in Bad Hersfeld der weltweit erste Streik beim Online­händler statt. Seitdem haben die Arbeiter*innen unschätzbare Erfahrungen gemacht und viele Teilerfolge errungen. Die Journalisten Jörn Boewe und Johannes Schulten legten nun eine Zwischenbilanz vor.

Fast 100 Tage – so häufig wurde inzwischen bei Amazon in Deutschland gestreikt, entweder an einem Standort oder an mehreren gleichzeitig. Eine gewaltige Kampfbereitschaft der Kolleg*innen – ein Leuchtturm aller Amazon-Beschäftigten weltweit. Die Geschichte dieses langjährigen Organisierungs- und Kampfprozesses zu schreiben, ist eine große Aufgabe. Jörn Boewe und Johannes Schulten vom Journalistenbüro work in progress haben es versucht. Im Dezember 2015 veröffentlichten sie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Broschüre mit dem Titel „Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigen“.

Ihre Broschüre ist eine wertvolle Ressource für all diejenigen, die sich von Grund auf mit dem Amazon-Kampf beschäftigen wollen. Detailliert beschreiben sie einerseits die Funktionsweise von Amazon als tayloristische „Dienstleistungsfabrik“ (S. 8 ff.) und andererseits die Schritte zum Aufbau gewerkschaftlicher Gegenmacht: von den Anfängen der Organisierung, über die anti-gewerkschaftliche „Counter-Organizing“-Strategie von Amazon, bis hin zu strategischen Fragen, die im Tarifkampf bisher noch ungelöst sind.

Fast drei Jahre Arbeitskampf an einigen Standorten sind ein Erfahrungsschatz, den wenige Kolleg*innen, ja selbst wenige hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionär*innen vorweisen können. Kaum eine Arbeitskampftaktik, die noch nicht zur Anwendung kam, kaum eine Reaktion der Bosse, die es noch nicht gab. Diese Erfahrungen auszuschöpfen und strategische Lektionen nicht nur für den Kampf bei Amazon zu ziehen, sondern für die Wiederherstellung des Bewusstseins der Arbeiter*innenklasse in Deutschland und international – um nichts weniger handelt es sich.

Die Arbeiter*innen von Amazon sind prädestiniert für eine solche Aufgabe – nicht nur, weil Sieg oder Niederlage bei Amazon Auswirkungen auf Millionen Beschäftigte haben werden, sondern auch, weil bei Amazon Erfahrungen mit der Selbstorganisation der Beschäftigten gemacht werden, die anderswo kaum existieren. Welche Bilanz bieten Boewe und Schulten mit ihrer Broschüre für die kämpferischen Arbeiter*innen an?

Ein unbezwingbarer Gegner?

Lange Zeit galt Amazon als eine für Gewerkschaften undurchdringliche Festung. 2011 – zwölf Jahre nach Eröffnung des ersten deutschen Amazon-Versandzentrums in Bad Hersfeld und 17 Jahre nach der Gründung des Riesenkonzerns – gab es in Bad Hersfeld gerade einmal 79 Gewerkschaftsmitglieder. Als dort 2013 der weltweit erste Amazon-Streik stattfand, waren fast 1.000 der 3.400 Beschäftigten dort bei ver.di organisiert. Heute gibt es mehrere Tausend Mitglieder an allen Amazon-Standorten in Deutschland. Auch wenn diese bisher keinen Tarifvertrag erringen konnten, sind jedoch substantielle Lohnerhöhungen, ein – wenn auch „freiwilliges“ – Weihnachtsgeld, sowie unzählige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wie Pausenregelungen, Gesundheitsschutz und Ähnliches nicht ohne den Tarifstreit zu erklären.

Boewe und Schulten beschreiben das zentrale Paradoxon des Konfliktes bei Amazon folgendermaßen:

Für solidarische BeobachterInnen stellt sich die Situation eigentümlich dar: Da ist auf der einen Seite der Eindruck eines nicht enden wollenden Konflikts, in dem die Streikbewegung Gefahr läuft, den Atem zu verlieren. Hat ver.di sich verkalkuliert? Den Gegner unterschätzt? Ist die Gewerkschaft überhastet und schlecht vorbereitet in den Konflikt gegangen? Einen völlig anderen Eindruck bekommt man allerdings vor Ort, in vielen Amazon-Versandzentren. Dort herrscht ein lebendiges gewerkschaftliches Leben, wie es häufig nicht einmal in den gewerkschaftlichen Hochburgen zu finden ist – und das trotz der widrigen Bedingungen, massiven Angriffe und Einschüchterungen. (S. 3)

Dieses Einerseits-Andererseits bestimmt immer wieder den Ton der Analyse: Einerseits habe ver.di so viele Ressourcen in die Organisierung der Beschäftigten gesteckt und gehe so strategisch und systematisch vor wie keine andere Gewerkschaft (S. 25). Andererseits werden immer wieder die Schwierigkeiten hervorgehoben, die es in diesem Arbeitskampf gibt. Seien es die strukturellen Arbeitsmarktbedingungen oder die verschiedenartigen antigewerkschaftlichen Maßnahmen, die Amazon immer wieder aus dem Ärmel zieht.

Die Broschüre macht viele Facetten dieser schwierigen Auseinandersetzung greifbar, ohne in einen Pessimismus über die Perspektiven des Kampfes zu verfallen. Sogar einige wichtige strategische Lektionen werden gezogen, denen wir uns größtenteils anschließen können. Dazu gehören die Notwendigkeit der Radikalisierung von Streikaktionen (unangekündigte Streiks aus dem laufenden Betrieb heraus, Blockaden und Behinderungen der Zu- und Abfahrtswege), die Schaffung von kollektiven Erfahrungen zur Konfrontation des Fabrikregimes, die internationale Dimension des Kampfes und die Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Kampagne, ohne die der Kampf nur schwer gewonnen werden kann.

Ehrenamtliche und Hauptamtliche

Gleichwohl bleibt bei Boewe und Schulten eine wichtige Leerstelle: ihr Verständnis von den Konflikten zwischen aktiven Kolleg*innen vor Ort und dem ver.di-Hauptamt. So geht der Blick auf den wichtigsten Widerspruch des Amazon-Kampfes verloren – ein Widerspruch, der sich auch bei anderen Streiks wie beim Sozial- und Erziehungsdienst oder bei der Post ausgewirkt hat.

Boewe und Schulten lassen an verschiedenen Stellen der Broschüre ahnen, dass es zwischen aktiven Kolleg*innen und Gewerkschaftsapparat unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, wie der Kampf fortgeführt werden soll. Ihre Schlussfolgerungen daraus lassen jedoch das Heft meist in der Hand der Hauptamtlichen – und das, obwohl sie an verschiedenen Stellen in der Broschüre die Wichtigkeit der Aktivierung von Seiten der Basis betonen. So lautet eine ihrer zentralen Thesen, die wir ebenfalls unterschreiben würden:

Die auf die Entwicklung politisch starker und souveräner Vertrauensleute- und Aktiven-Strukturen in den Betrieben gerichtete Gewerkschaftsarbeit bei Amazon kann zum Vorbild für andere, insbesondere gewerkschaftlich bislang schwach organisierte Sektoren werden. (S. 47)

Die Autoren blenden dabei aber aus, dass diese betrieblichen Strukturen nicht einfach nur eine effektivere Form der Gewerkschaftsarbeit darstellen, quasi als „verlängerter Arm“ eines überlasteten Gewerkschaftsapparats. Im Gegenteil stellen diese Aktivenstrukturen in letzter Instanz die materielle Basis des Gewerkschaftsapparats in Frage. Denn wenn es Basisstrukturen gibt, die alle wichtigen Entscheidungen des Streiks selbst treffen, wozu braucht es dann noch einen großen Hauptamtlichen-Apparat?

Internationale Vernetzung

Am deutlichsten wird dieses Unverständnis in der Auseinandersetzung um die Frage der internationalen Vernetzung, genauer um die Beziehung zu der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza im polnischen Poznań:

Seit Anfang 2015 finden – selbst organisiert und bislang ohne direkte Unterstützung aus ver.di-Ressourcen – regelmäßige Treffen zwischen ver.di-Aktiven aus Bad Hersfeld und Brieselang mit den KollegInnen bei Amazon Poznań statt. Aufgrund der spezifischen polnischen Situation – gespanntes Verhältnis zwischen der nicht bei UNI organisierten OZZ Inicjatywa Pracownicza und der UNI-Mitgliedsorganisation NSZZ Solidarność – bergen diese Kooperationen zweifellos Konfliktpotenzial auch für ver.di. (S.25)

Ihr Lösungsvorschlag: Ver.di tue

gut daran, in der Auseinandersetzung zwischen den beiden bei Amazon Polen engagierten Gewerkschaften keine Partei zu ergreifen, sondern Hilfe anzubieten, das Verhältnis der beiden Organisationen zu entkrampfen, um negative Auswirkungen der unterschiedlichen politisch-strategischen und organisationspolitischen Konzepte auf die Auseinandersetzung mit dem Unternehmen möglichst zu begrenzen. (S. 26)

Boewe und Schulten erkennen an, dass es sich um „unterschiedliche politisch-strategische und organisationspolitische Konzepte“ handelt. Dennoch tun sie so, als ob es sich um eine „spezifisch polnische Situation“ handle, die nichts mit der Debatte um die Strategie von ver.di zu tun habe.

Natürlich betonen die Journalisten die Wichtigkeit „direkter horizontaler Kontakte zwischen gewerkschaftlich Aktiven an verschiedenen Amazon-Standorten, sowohl national als auch grenzübergreifend“. Sie argumentieren jedoch im Anschluss, dass diese Kontakte „keine Konkurrenzaktivität zur Kooperation auf Ebene des Dachverbandes UNI und der nationalen Gewerkschaftsorganisationen“ seien (S. 26).

Doch das Gegenteil ist der Fall. In letzter Instanz ist die direkte Vernetzung und Koordinierung gewerkschaftlicher Basisaktivist*innen eine große Gefahr für die Autorität der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsapparate über die Streikführung. Ver.di und Solicarność wissen das sehr gut, weshalb sie auf diesem Gebiet so gut wie möglich das Heft in der Hand behalten wollen. Dass ihnen das bisher nicht gelingt, ist eine große Errungenschaft der kämpferischsten Arbeiter*innen in dem multinationalen Konzern.

Basisdemokratische Streikführung

Immer wieder hat es in den vergangenen drei Jahren Konflikte zwischen Kolleg*innen und Funktionär*innen gegeben – sowohl, was konkrete taktische Schritte des Streiks betrifft, als auch, wenn es um strategischere Fragen geht.

Am deutlichsten wird das bei der standortübergreifenden und der internationalen Koordinierung. Immer wieder mussten die Hauptamtlichen zu weitergehenden Schritten und häufigeren Koordinierungstreffen gedrängt werden. Die direkte Koordinierung zwischen Vertrauensleute-Strukturen auf internationaler Ebene wie mit Poznań – völlig ohne ver.di-Apparat – ist nicht ohne Grund entstanden; sie ergab sich aus der Notwendigkeit, der bremsenden Gewerkschaftsbürokratie eine eigene Struktur entgegenzusetzen.

Diese Struktur ist noch in ihren Anfängen. Sie ist bisher zuallererst ein Ort des Austauschs über konkrete Bedingungen, aber auch über Ideen für eine gemeinsame Streikführung. In einem offenen und demokratischen Prozess die fortgeschrittensten Arbeiter*innen voranzubringen, um über die Zukunft des Kampfes zu diskutieren – eine bessere Schule des Klassenbewusstseins gibt es nicht.

Die Herausforderung ist es, dieses Bewusstsein derart zu erweitern, dass sie – falls nötig – auch gegen den ver.di-Apparat eine offensivere Streikführung durchsetzen können.

Wenn das gelingt, kann eine Grundlage für eine klassenkämpferische Basisgewerkschaftsbewegung entstehen, die nicht nur Amazon-Streikende, sondern die erfahrensten Kämpfer*innen unserer Klasse vereinigt, und innerhalb der großen Gewerkschaften für eine Alternative kämpft, die unabhängig von der Bürokratie ist.

Jörn Boewe und Johannes Schulten: Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigen. Herausgegeben von der Rosa-Luxem­burg-Stiftung. Berlin 2015. Kostenlos. Erste Auflage vergriffen. Online: www.rosalux.de

Mehr zum Thema