Fängt der schlafende Riese an, sich zu bewegen?
// Notizen zu Tendenzen in der deutschen ArbeiterInnenklasse //
Die Welt befindet sich im Umbruch. Es handelt sich um eine historische Zäsur, die die Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung ankündigt. Beflügelt vom arabischen Frühling beginnt die ArbeiterInnenbewegung in verschiedenen Teilen Europas, ihr Haupt zu heben. Die Schärfe der Wirtschaftskrise und die Möglichkeit, viele Errungenschaften zu verlieren, nähren den Widerstand. Die Streiks in Ägypten, Indien, Portugal, Spanien und andern Orts zeigen die ersten – noch sehr widersprüchlichen – Schritte der ArbeiterInnenbewegung in Richtung einer neuen Subjektivität. Dieser Prozess kündigt verschärfte Auseinandersetzungen zwischen den Klassen an.
Im Vergleich zu anderen Ländern scheint sich in Deutschland jedoch kaum etwas zu bewegen. Die Wirtschaftsinstitute der herrschenden Klasse vermitteln den Eindruck, als wäre die Krise spurlos an der Bundesrepublik vorbei gegangen. Es gibt höchstens die üblichen, ritualisierten Tarifrunden, die üblichen Kompromisse hinter dem Rücken der Beschäftigten, die üblichen Manöver zwischen den Fraktionen im Parlament usw.
Doch es lassen sich Tendenzen hin zu einer Krise des Regimes beobachten. Mehrere Regierungskrisen hintereinander deuten auf zunehmende Schwierigkeiten der herrschenden Klasse in Deutschland hin, sich über ihre Strategie zu einigen und diese gegen das Proletariat im eigenen Land und in Europa durchzusetzen.
Heute drücken sich diese Tendenzen auf der Ebene der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit in Überlegungen aus, die Tarifeinheit per Gesetz zu etablieren. Denn die starke Zersplitterung der Tariflandschaft hat ironischerweise dazu geführt, dass sich kleine aber für das Kapital wichtige Sektoren der ArbeiterInnenklasse eigenständig für ihre korporativen Interessen einsetzen (in den letzten Monaten waren es die VorfeldarbeiterInnen am Frankfurter Flughafen). Das Kapital will verhindern, dass die Beschäftigten in diesen wichtigen Bereichen der kapitalistischen Produktion eine Vorbildfunktion für andere Sektoren einnehmen könnten. Die Rufe nach Beschränkung des Streikrechts richten sich jedoch in ihrem Kern nicht nur gegen kleine Spartengewerkschaften sondern gegen alle Gewerkschaften, um die Verhandlungsposition der Beschäftigten zu schwächen.
Zersplitterung der Tariflandschaft
2011 gab es – nach einem drastischen und kontinuierlichen Rückgang seit Beginn der Krise im Jahr 2008 – einen ersten Anstieg der Streiktage in der BRD. Das leicht gesteigerte Konfliktpotential ist Ausdruck des Willens von einigen Beschäftigten im Dienstleistungssektor, der sich vertiefenden Prekarisierung Einhalt zu gebieten. Dabei hat die Zersplitterung der Tariflandschaft, anders als vom Kapital gehofft, zu einem gewissen Anstieg der Arbeitskämpfe geführt. Dies geschieht vor allem vor dem Hintergrund eines drastischen Mitgliederschwunds bei ver.di: Seit der Gründung im Jahr 2001 verlor die Gewerkschaft rund ein Viertel ihrer Mitglieder. Bezeichnenderweise wurden die bedeutendsten Kämpfe der letzten Jahre von Sektoren getragen, die den DGB-Gewerkschaften aufgrund ihrer Zähme den Rücken gezeigt hatten und zu direkten Konkurrenten wurden. So zum Beispiel die Gewerkschaft der Lokführer (GdL), die Vereinigung Cockpit (VC) der Piloten oder die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF).
2011 stiegen die Zahlen der Streikenden und der durch Arbeitskämpfe ausgefallenen Arbeitstage gegenüber 2010 deutlich an. Wie die WSI-Arbeitskampfbilanz[1] zeigt, beteiligten sich 2011 circa 180.000 Beschäftigte an Streiks und Warnstreiks. 2010, als die Schockwellen der Krise noch stark zu spüren waren, waren es rund 120.000 Streikende. Dennoch ist dieser Anstieg vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die Kampfbereitschaft in den Jahren zuvor stark abgenommen hatte. Denn für die großen Massen schwebte in Anbetracht der Höhe der Arbeitslosigkeit die Gefahr der Entlassung und des sozialen Absturzes, den viele Millionen Menschen in der BRD tagtäglich in Form von Hartz IV erleben.
Die Gewerkschaftsspitzen sehen sich angesichts einer steigenden Kampfbereitschaft gezwungen, rhetorisch etwas radikaler aufzutreten. Ihre Strategie bleibt jedoch die gleiche: ein bisschen Druck ausüben, um besser verhandeln zu können. ver.di-Boss Frank Bsirske drohte im Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst mit einem unbefristeten Streik und der Unmöglichkeit einer Schlichtung, ja sogar von einem gemeinsamen Streikaufruf von ver.di und IG-Metall und dem größten Ausstand seit 20 Jahren. Vor der entscheidenden Verhandlungsrunde traten bundesweit rund 300.000 Beschäftigte in den Ausstand, nachdem es in der Vorwoche etwa 130.000 waren. Viele „gingen von einer längeren Tarifauseinandersetzung aus. Es gab erste Anzeichen und Absprachen, dass ver.di und IG Metall bereit waren, gemeinsame Aktionen in den Tarifkämpfen zu organisieren.“[2] Genau dort ließ die ver.di-Führung die Kernforderung einer Lohnerhöhung von 200 Euro fallen und ging auf einen Kompromiss ein, der weit hinter dem lag, was sie selbst gefordert hatte.
Diese hinter dem Rücken der Beschäftigten ausgetragenen bürokratischen Manöver bedeuten jedoch Gesichtsverlust für die großen Apparate. Doch aufgrund der in den letzten zehn Jahren erlittenen Reallohnverluste, sind sich alle AnalystInnen einig, dass das von ver.di erzielte Ergebnis eine Signalwirkung für andere Sektoren der ArbeiterInnenschaft haben wird. „Die anderen Gewerkschaften stehen nun unter Druck, einen ähnlichen Abschluss wie der öffentliche Dienst zu erreichen“, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)[3].
Gerade deshalb verschärft die herrschende Klasse in Deutschland den Klassenkampf von oben. Dem entsprechen aktuelle Diskussionen darüber, das ohnehin sehr restriktive Streikrecht in Deutschland weiter einzuschränken. Die der herrschenden Klasse dienliche ProfessorInnen-Initiative der Carl Friedrich v. Weizsäcker-Stiftung plädiert für „gesetzliche Schranken für Arbeitskämpfe etwa im Luft- und Schienenverkehr, in der Gesundheitsversorgung, der Telekommunikation sowie im Erziehungswesen“.[4] Der Chef der so genannten „Fünf Wirtschaftsweisen“, Wolfgang Franz, forderte ausdrücklich das Eingreifen der Bundesregierung, um „Warnstreiks per Gesetz einschränken“ zu können[5]. Berufsgewerkschaften im Besonderen sind für die Herrschenden ein Dorn im Auge, weil sie die strategische Ausrichtung der Gewerkschaftsführungen auf die Sozialpartnerschaft und den sozialen Frieden hinterfragen.
Kommende Auseinandersetzungen
Der von der ver.di-Bürokratie erzielte Abschluss kann jedoch nicht mal die Inflation ausgleichen. Aufschwungszeiten wie diese müssten dagegen von den Lohnabhängigen genutzt werden, um eine Arbeitszeitverkürzung zu erreichen, denn andernfalls wird die Steigerung der Produktivität zu einer strukturellen Erhöhung von Erwerbslosigkeit führen. Die Gewerkschaftsführungen haben die historische Forderung nach Arbeitszeitverkürzungen jedoch komplett fallen gelassen.
Angetrieben von den guten Konjunkturdaten, welche das Gespenst der Arbeitslosigkeit und des Elends vorübergehend in weite Ferne gerückt haben, steigt die Kampfbereitschaft von einigen Beschäftigten, um einen Teil des Verlorenen zurückzuerobern. Angesichts der anstehenden, großen Tarifrunden in diesem Jahr[6] und der stärkeren Streikbereitschaft im Vergleich zu vergangenen Jahren besteht die Möglichkeit, dass die Lohnabhängigen in Deutschland wieder aus der Logik des Verzichts herauskommen. Die gesellschaftliche Stimmung ist im Vergleich zu den letzten Jahren etwas anders, denn heute befürworten viele Menschen höhere Abschlüsse. Für viele Menschen im Land geht es nun darum – wie eine Zeitschrift für KapitalistInnen attestiert –,„Standards im Arbeitsleben zu setzen und etwas gegen die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zu tun. Öffentliche Milliardenausgaben für Bankenrettung oder in der Eurokrise verstärken diesen Trend. Frei nach dem Motto: Wenn wir dafür so viel Geld ausgeben, sollen die Beschäftigten auch wieder mehr Geld verdienen.“[7]
Bisher hat sich die wieder etwas gesteigerte Kampfbereitschaft bei einigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse jedoch nicht in der Etablierung von antibürokratischen Tendenzen innerhalb der Gewerkschaften ausgedrückt, die den demobilisierenden Kurs der Gewerkschaftsbürokratie offen in Frage stellen würden. Dennoch: Mit jedem erneuten Verrat, wie kürzlich bei der Tarifauseinandersetzung von ver.di, kann der Unmut der KollegInnen steigen.
Um ihre Stellung zu sichern, vertiefen die BürokratInnen die Spaltungen in der ArbeiterInnenklasse und forcieren damit den Preisverfall der Ware Arbeitskraft. So hat ver.di, statt den Kampf der VorfeldarbeiterInnen der GdF zu unterstützen, offen dazu aufgerufen, diesen Kampf zu sabotieren. Statt gemeinsam mit der GdF für die Rechte der verschiedenen Sektoren eines und desselben Unternehmens zu kämpfen, trägt sie zur Untergrabung der Kampfkraft der Beschäftigten bei.
Noch hat die herrschende Klasse die Kosten der Wirtschaftskrise auf die Lohnabhängigen in Griechenland, Spanien, Italien, usw. abgeladen. Noch war sie imstande, ihre eigene ArbeiterInnenklasse in weiten Teilen zu verschonen. Die Entwicklungen beschleunigen sich. Die Rufe nach präventiven Maßnahmen gegen die ArbeiterInnenbewegung werden lauter. Deshalb haben die Bosse, wie die FAZ schreibt, die GewerkschaftsführerInnen erneut schätzen gelernt, „weil [der Flächentarifvertrag] zumindest eine Zeitlang für Ruhe sorgt. Auch wenn vielen Städten und Gemeinden der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst zu hoch ist – Guerilla-Streiks unzufriedener Splittergewerkschaften fürchten sie noch mehr.“[8]
Diese Welle der Sympathie von oben nutzen die Gewerkschaftsbosse dazu, das Modell des „rheinischen sozialpartnerschaftlichen Kapitalismus“ wieder zu beleben – wobei es offensichtlich ist, dass die objektiven Bedingungen, die dieses Modell ermöglichten, nicht mehr vorhanden sind. Die materielle Grundlage für den Aufstieg eines neuen Reformismus, der sich auf eine ausgedehntere und verbreitete soziale Schicht der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Ländern wie Deutschland stützen würde, wurde durch das partielle Wachstum der Produktivkräfte nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ermöglicht. Heute stagnieren die Produktivkräfte jedoch. Der Spielraum für weitgehenden Zugeständnisse an die ArbeiterInnenklasse ist nicht mehr wirklich vorhanden. Die reformistischen Führungen sind dadurch weniger in der Lage, die Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zu verteidigen.
Diese Situation begünstigt die Entstehung von kämpferischen Flügeln innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, die die zersetzende Politik der Gewerkschaftsführungen offen in Frage stellen – sonst drohen Demoralisierung und chauvinistische sowie xenophobe Lösungen der Krise.
Ein Programm für den Kampf
Diese Situation erfordert eine klare Perspektive von RevolutionärInnen. Es reicht nicht, zu sagen, dass der Kapitalismus der Grund des Übels ist und dass er überwunden werden muss. Genauso wenig reicht es, zu erkennen, dass die Gewerkschaftsbürokratie den Kampf nicht aufnehmen will. Wir müssen einen revolutionären Flügel in der ArbeiterInnenbewegung aufbauen und die Gewerkschaften durch eine kühne Politik – besonders bei Arbeitskämpfen – von der Bürokratie zurückerobern und zu kämpferischen Organen der ArbeiterInnenklasse machen.
Der strategischen Ausrichtung der Bürokratie auf eine illusorische Sozialpartnerschaft muss mit der Forderung nach der gleitenden Skala der Löhne und der Arbeitszeit entgegengetreten werden. Angesichts von steigenden Preisen müssen wir die Forderung nach einem Mindestlohn aufstellen, der an die Preisentwicklung gekoppelt ist. Sollten die Unternehmen auf ihre schlecht laufenden Geschäfte hinweisen, um Entlassungen zu rechtfertigen (wie im Falle Schleckers), dann müssen wir die Forderung nach der gleitenden Skala der Arbeitszeit aufstellen und zu einer Enteignung dieser Betriebe ohne Entschädigung und unter Kontrolle der ArbeiterInnen vorantreiben.
Noch vor 10 Jahren wurden die Gewerkschaften als Sündenböcke für so ziemlich alles verantwortlich gemacht, was in der BRD schief lief: Es hieß, die Gewerkschaften hätten Deutschland ins Krankenbett gebracht und die Medizin kam in sozialdemokratischer Gestalt mit der Agenda 2010. Heute werden die Gewerkschaftsführungen von den KapitalistInnen hofiert. Wir wollen diese BürokratInnen umso stärker bekämpfen. Die ArbeiterInnenklasse muss sie aus den Gewerkschaften jagen, um diese zu wahren Organen des Kampfes zu formen. Anstelle der Behauptungen von Sozialpartnerschaft und sozialem Frieden setzen wir die Parole des Klassenkampfs mit dem strategischen Ziel einer Regierung der ArbeiterInnen und der verarmten Massen als des einzigen progressiven Auswegs aus der kapitalistischen Krise.
Fußnoten
[1] WSI-Arbeitskampfbilanz, 28. März 2012.
[2] Netzwerk-Info Gewerkschaftslinke Nr. 41, April 2012.
[3] manager magazin online: Die neue Streikmacht, 16. April 2012.
[4] junge Welt: Professoren wollen Streiks erschweren, 20. März 2012.
[5] WIWO: Warnstreiks per Gesetz einschränken, 21. März 2012.
[6] Im Banksektor stehen Tarifverhandlungen vor die Tür. Der Deutschen Bank droht eine Auseinandersetzung mit den Beschäftigten bis hin zum Streik. Am 31. März lief die Laufzeit des Lohntarifvertrags für 3,6 Millionen Lohnabhängige in der Metall- und Elektroindustrie aus. Nun will sich die IG Metall in der laufenden Tarifrunde am Verhandlungsergebnis des öffentlichen Dienstes orientieren, wobei ein solcher Abschluss „sogar enttäuschend“ wäre, wie der Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Ferdinand Fichtner, sagte. Dabei ist der Ton zwischen den GewerkschaftsführerInnen und den VertreterInnen des Kapitals ebenfalls sehr rau. UnternehmerInnenboss Kannegiesser beschreibt die jetzige Stimmung zutreffend, indem er die IG-Metall „auf einer düsteren Stimmungswolke“ reiten sieht. Bei Volkswagen läuft Ende Mai der Haustarifvertrag aus. Im Chemiesektor sowie im Bereich des Nahrungs- und Gaststättengewerbes stehen ebenfalls Tarifverhandlungen an.
[7] manager magazin online: Die neue Streikmacht, 16. April 2012.
[8]FAZ: Gewerkschaften im Aufwind, 03. April 2012.