Europawahlen: Die extreme Rechte wächst, während die Regierungen auf Militarismus setzen

10.06.2024, Lesezeit 15 Min.
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Erste Analyse der Ergebnisse der Europawahlen: Das Wachstum der extremen Rechten und die militaristische Politik der "extremen Mitte".

Im Vorfeld der Europawahlen am vergangenen Wochenende sagten alle Prognosen ein Wachstum der extremen Rechten voraus, und so kam es auch. Die Parteien, die Teil der beiden extrem rechten Fraktionen im EU-Parlament sind, zusätzlich zu Parteien, die keiner Fraktion angehören, wie zum Beispiel die Alternative für Deutschland, vereinen rund 25 Prozent der Gesamtstimmen auf sich (2019 hatten sie 18 Prozent erhalten).

Die Ergebnisse sind gemischt. Die extreme Rechte ist in Frankreich, Italien, Österreich, Ungarn und Belgien zur führenden Kraft geworden. In Deutschland ist sie auf den zweiten Platz vorgerückt und hat die SPD überholt. Mit anderen Worten: Sie ist in den drei bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich bedeutendsten Ländern der EU zu einer entscheidenden politischen Kraft geworden. Der Sieg von Le Pen in Frankreich hat bereits eine schwere politische Krise ausgelöst. Ein in die Enge getriebener Macron hat die Nationalversammlung aufgelöst und vorgezogene Parlamentswahlen angesetzt, um eine „Anti-Le Pen“-Front zu schaffen, der sich die übrigen politischen Kräfte anschließen sollen.

Das neue Europäische Parlament mit insgesamt 720 Abgeordneten setzt sich wie folgt zusammen: 185 für die traditionelle rechte Europäische Volkspartei (plus 3 gegenüber 2019), 137 für die Sozialdemokraten (minus 17 gegenüber 2019), 80 für die Liberalen (minus 28), 52 für die Grünen (minus 22). Auf der extrem rechten Seite gewann die Fraktion der „Konservativen und Reformisten“ – eine von Giorgia Meloni geführte Fraktion, der auch die extrem rechte spanische Partei VOX angehört, –73 Sitze (11 Sitze). Die von Marine Le Pen geführte Fraktion „Identität und Demokratie“ erhielt 58 Sitze (sie verlor 15 Sitze, was sich jedoch dadurch erklärt, dass die Alternative für Deutschland ausgeschlossen wurde und nun eine fraktionslose Partei ist). Die Zahl der fraktionslosen Abgeordneten beträgt 46 (17 gehören der Alternative für Deutschland an). 36 Abgeordnete gehören zur Linksfraktion, die 5 verliert.

Die Krise des pro-europäischen Projekts

Auf den ersten Blick ist klar, dass die größten Verlierer die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Grünen sind. Mit anderen Worten: der „liberale und progressive“ Flügel der Parteien der „extremen Mitte“, die in den letzten Jahren neben der traditionellen Rechten in den europäischen Institutionen regiert haben. Dieser Sektor verliert insgesamt 67 Sitze im Europäischen Parlament. Unter Berücksichtigung der Sitze der beiden extrem rechten Fraktionen und der Alternative für Deutschland verfügt die extreme Rechte über insgesamt 148 Sitze, 10 mehr als die europäischen Sozialdemokraten.

Die Koalition aus Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen kann mit 63 Prozent der Stimmen weiterhin die EU regieren. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Politik der „Eindämmung der extremen Rechten“, indem sie deren rassistische und fremdenfeindliche Agenda aufgreift, nicht funktioniert hat. Im Gegenteil, sie hat der extremen Rechten Tür und Tor geöffnet.

Vor 10 Jahren war die „Neuheit“ der Europawahlen der Aufstieg von Podemos, Syriza und der reformistischen Linken, die es geschafft hatten, die Prozesse des Klassenkampfes zu kanalisieren und auf den Wahlweg zu lenken. Seitdem hat ihre Integration in die kapitalistischen Staaten der EU während des letzten politischen Zyklus zu großer Enttäuschung geführt. Enttäuschung, die sich in vielen Fällen in Wahlenthaltung oder einem Rechtsruck eines Teils der Wähler:innenschaft äußerte.

Andererseits, und das ist vielleicht das Wichtigste, deuten die Ergebnisse von Marine Le Pen in Frankreich und der AfD in Deutschland auf eine „Abstrafung“ (von rechts) für die Regierungen der deutsch-französischen Achse hin. Diese haben die EU auf eine bedingungslose Ausrichtung auf die NATO, den Krieg in der Ukraine und die militaristische Aufrüstung eingeschworen. An diesem Punkt kommt eine sehr wichtige Krise des europäischen Projekts zum Ausdruck.

Die Unterordnung der europäischen Geopolitik unter die USA und die NATO im Ukraine-Krieg führt zu starken Widersprüchen, die sich mit dem wahrscheinlichen Wahlsieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen verschärfen werden. Während Macron vor einigen Tagen die Möglichkeit der Entsendung französischer Armeekontingente in die Ukraine ankündigte (Äußerungen, die bei den europäischen Partnern nicht gut ankamen), ist der ungarische Premierminister Viktor Orban eher zu einer Verständigung mit Russland bereit. Auch die Alternative für Deutschland, die inzwischen zweitstärkste Partei in Deutschland ist, befürwortet ein Abkommen mit Russland und China, weil sie der Meinung ist, dass dies die deutsche Wirtschaft und den deutschen Imperialismus stärken könnte.

Politische Krise in Frankreich

Der größte Schock fand in Frankreich statt, wo Macron eine vernichtende Niederlage erlitt. Der rechtsextreme Spitzenkandidat der Partei von Marine Le Pen, Jordan Bardella, erhielt 32,4 Prozent der Stimmen und lag damit deutlich vor der Macron-Kandidatin Valérie Hayer (15,2 Prozent) und dem sozialistischen Kandidaten Raphaël Glucksmann, der 14 Prozent erhielt.

Macron reagierte sofort und zeigte damit das Ausmaß der offenen Krise: Er rief sofort zu vorgezogenen Parlamentswahlen auf. Die erste Runde wird in drei Wochen, am 30. Juni, stattfinden, die zweite am 7. Juli. Es scheint sich um eine „Alles-oder-Nichts“-Aktion zu handeln, die darauf abzielt, die französische Politik zu polarisieren. Die Idee lautet „Macron oder der Abgrund“, sodass alle Parteien ihn unterstützen müssen, um die extreme Rechte zu stoppen. Ein Ausweg, der nicht über die Legitimationskrise Macrons hinwegtäuschen kann, dessen Präsidentschaftsmandat noch bis 2027 läuft.

Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise erhielt 10,1 Prozent der abgegebenen Stimmen, während die Republikaner – eine rechtskonservative Partei, der auch der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy angehört – 7,2 Prozent der Stimmen erhielten.

Unsere französischen Genoss:innen von Révolution Permanente haben bei den Europawahlen zu einer kritischen Stimmabgabe für Lutte Ouvrière aufgerufen. Angesichts der Ankündigung Macrons betonen sie, dass sich „Aufrufe zu ‚Volksfronten‘ auf der Grundlage von Wahlbündnissen mit Kräften des Regimes wie den Écologistes oder der Sozialistischen Partei“ häuften. Doch „nur die Mobilisierung der Arbeiter:innen und der Jugend von unten und die Konfrontation mit dem Regime können einen Ausweg aus der Situation bieten.“ Und sie argumentierten: „Angesichts der Krise wird es notwendig sein, sich zu organisieren und eine entsprechende Perspektive zu tragen, die die Klassenunabhängigkeit gegenüber wahltaktischen Sackgassen verteidigt. Eine Logik, die an den Arbeitsplätzen, den Universitäten, in den Vierteln und auf der Straße, aber auch bei den kommenden Wahlen verteidigt werden muss, indem die Einheit derjenigen gesucht wird, die eine solche Logik verteidigen. Révolution Permanente wird in den kommenden Tagen ihre Verantwortung in diesem Sinne wahrnehmen und sich an Initiativen beteiligen, die darauf abzielen, angesichts der Situation eine Front von unten aufzubauen.“

Die extreme Rechte ist in Deutschland auf dem Vormarsch

Die großen Verlierer des Wahltages in Deutschland sind die Regierungsparteien, die die „Ampelkoalition“ bilden: die SPD, die Liberalen und die Grünen.

Der erste Platz ging an die konservative CDU und CSU mit 30 Prozent der Stimmen. Auf Platz zwei landete die extrem rechte Alternative für Deutschland mit 15,9 Prozent. Die SPD von Olaf Scholz fiel auf ein Allzeittief von 13,9 Prozent. Die Grünen fallen ihrerseits auf 11,9 Prozent der Stimmen zurück und verlieren damit 8 Prozent gegenüber 2019. Die FDP kommt auf 5,2 Prozent. Die populistische Sahra Wagenknecht, die Abspaltung von Die Linke, kommt auf 6,2 Prozent der Stimmen.

Das Ergebnis der AfD liegt um 4,9 Prozent höher als bei der Wahl 2019. Die Alternative für Deutschland war zuvor aus der von Marine Le Pen geführten Fraktion Identität und Demokratie im Europaparlament ausgeschlossen worden, nachdem ein Parteivorsitzender Sympathien für die SS geäußert hatte, indem er sagte, dass „nicht alle Verbrecher waren“. Die ultrarechte Partei wurde auch durch Korruptionsskandale und Anschuldigungen, geheime Geschäfte mit den Russen und einem chinesischen Spion zu machen, in Mitleidenschaft gezogen. Dennoch scheint sie eine aufstrebende Kraft zu sein und könnte im Herbst die Landtagswahlen in Ostdeutschland gewinnen. Sie hat vor allem bei den unter 34-Jährigen zugelegt.

Das Gegenteil ist bei den Grünen passiert, die in diesem Segment der jungen Wähler:innen bis zu 23 Prozentpunkte verloren haben. Während die Grünen 2019 ihre beste Wahl feiern konnten, als sie auf der „grünen Welle“ der Demonstrationen gegen den Klimawandel ritten, scheinen sie für ihr Festhalten an der liberalen Politik des „Grünen Pakts“ in der EU und vor allem für ihre bedingungslose Unterstützung der Eskalation von Krieg und Völkermord in Palästina zu bezahlen.

Giorgia Meloni: neue Königsmacherin?

Die Brüder Italiens, die Partei von Giorgia Meloni, hat mit 28,8 Prozent der Stimmen erwartungsgemäß den ersten Platz in Italien belegt. Sie erhält damit 24 Sitze im Europäischen Parlament (14 mehr als 2019) und wird damit zu einer Figur, die bei der Vergabe von Posten oder beim Vorantreiben von Initiativen neben der traditionellen Rechten eine Schlüsselrolle spielen kann.

Meloni strebt an, eine wichtige Kraft bei Verhandlungen mit der Rechten zu bestimmten Themen zu werden. In den Wochen vor den Wahlen ließ die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula Von Der Leyen, diese Möglichkeit offen, indem sie sagte, sie habe „sehr gut mit Meloni zusammengearbeitet“. Manche sehen in ihr daher eine neue Königsmacherin, deren Unterstützung bei den Verhandlungen entscheidend sein könnte. In den letzten zwei Jahren, seit sie an der Regierung ist, hat sich Meloni im Gegensatz zu Parteien wie der deutschen AfD oder Ungarns Viktor Orbán als überzeugte Verbündete der NATO und ihrer kriegstreiberischen Linie in der Ukraine erwiesen.

Marine Le Pen hat die Idee geäußert, die beiden extrem rechten Fraktionen zu vereinen, um sich mit Giorgia Meloni zu verbünden. Dies ist Teil einer Operation zur „Normalisierung“ der Partei von Le Pen, die 2027 Präsidentin Frankreichs werden will.

Das Zweiparteiensystem behauptet sich in Spanien

Die Volkspartei (PP) hat wie erwartet den ersten Platz bei den Europawahlen errungen, allerdings mit einem geringeren Ergebnis als von ihren Anführer:innen erwartet, die versucht haben, die Wahlen in ein „Plebiszit“ gegen den Sozialdemokraten Pedro Sánchez zu verwandeln. Die PP erhielt 34,18 Prozent und die sozialdemokratische PSOE 30,18 Prozent. Die extrem rechte Partei VOX wurde mit 9,62 Prozent dritte Kraft, doch die Neuheit dieser Wahl ist der Aufstieg eines neuen politischen Akteurs rechts der extremen Rechten ist: die Partei „Se acabó la fiesta“ („Die Party ist vorbei“) von Alvise Pérez mit 4,59 Prozent. Der Abstand zu den 4,91 Prozent der Pro-Unabhängigkeits-Linken Ahora Repúblicas („Republiken jetzt“) und den 4,61 Prozent der progressiven Regierungspartner der PSOE, Sumar, ist sehr gering. Podemos erhielt 3,28 Prozent und damit zwei Abgeordnete.

Santiago Lupe, Redakteur der spanischen Zeitung IzquierdaDiario.es, wies in einer ersten Analyse der Daten darauf hin: „Obwohl die europäischen Ergebnisse nicht das von der Rechten erwartete Erdbeben auszulösen scheinen, befindet sich die Koalitionsregierung auch nicht in einer sehr stabilen Position. Neben der Instabilität, die in Europa entstehen wird, versprechen auch andere innenpolitische Elemente Wochen der Unbeständigkeit.“

Vergleicht man die Situation der reformistischen Linken mit der vor zehn Jahren, als Podemos große Hoffnungen weckte und mit fünf Abgeordneten ins Europäische Parlament einzog, so stellt sich die Lage heute ganz anders dar. Sumar ist zu einem Anhängsel der PSOE in der Regierung geworden, und Podemos versucht, seine Position nach einem großen Rückschlag wiederzuerlangen. In der Opposition stellt Podemos nun alles in Frage, was sie in der Regierungszeit selbst mit durchgeführt haben.

In diesem Zusammenhang stellten unsere spanischen Genoss:innen von der Strömung Revolutionärer Arbeiter:innen (CRT) zum ersten Mal eine Liste auf, die sich aus jungen Leuten und Arbeiter:innen zusammensetzte, um eine antikapitalistische und sozialistische Alternative vorzuschlagen. In einem schwierigen Szenario, ohne staatliche Finanzierung und ohne Sendezeit in den Medien, ist das Ergebnis zufriedenstellend. Eine intensive aktive Kampagne in Madrid, Barcelona und Zaragoza hat es uns ermöglicht, Zehntausende von Menschen mit den Ideen der sozialistischen und revolutionären Linken zu erreichen. Dies ist ein weiterer Schritt zum Aufbau einer revolutionären Linken im spanischen Staat, als Teil der trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale.

Die Krise der EU und die Notwendigkeit eines antikapitalistischen Auswegs

Das Erstarken der extremen Rechten und die Krise der Regierungen der deutsch-französischen Achse zeigen die tiefen Widersprüche in der Europäischen Union. All das in einem Kontext, der von militaristischer Aufrüstung, dem Krieg in der Ukraine und dem Völkermord in Palästina geprägt ist.

Vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Krise der „neoliberalen Weltordnung“, die sich in den letzten Jahrzehnten auf die Hegemonie der USA gestützt hat, weist die Europäische Union als imperialistischer Block gravierende Risse und Bruchstellen auf. Sie sind letztlich Ausdruck der Widersprüche zwischen ihrer supranationalen Struktur und den Interessen der einzelnen Nationalstaaten, die sich in einem konflikthaften internationalen Szenario, in dem protektionistische Tendenzen und Auseinandersetzungen zwischen den Großmächten zunehmen, noch verschärfen.

In Europa sagen die Organisationen, die der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale in Frankreich, Spanien, Deutschland und Italien angehören, dass die Varianten des „kleineren Übels“ keine Alternative darstellen, um die kriegerischen Tendenzen und den Aufstieg der extremen Rechten zu bremsen. Es geht stattdessen darum, die Kräfte der Arbeiter:innenklasse, der Frauen, der Migrant:innen und der Jugend zu mobilisieren. Die Tendenzen des Klassenkampfes, die sich in den großen Streiks in Frankreich oder im Vereinigten Königreich, in den Solidaritätsdemonstrationen mit dem palästinensischen Volk und in vielen Demonstrationen und Mobilisierungen der letzten Jahre gezeigt haben, müssen genutzt werden. In dieser Perspektive greifen wir in die Streikprozesse und Mobilisierungen, in die Kämpfe der Jugend, der Frauenbewegung oder gegen den Polizeirassismus ein. Wir vertreten ein Programm der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, der Entwicklung der Selbstorganisation und der Einheit der Arbeiter:innenklasse mit allen unterdrückten Sektoren. So beteiligen wir uns auch stark an den Mobilisierungen und Lagern zur Unterstützung des palästinensischen Volkes und prangern die Komplizenschaft der imperialistischen Regierungen mit dem Völkermord an. Denn diese Kämpfe von unten zeigen eine Gegentendenz gegen das Anwachsen der extremen Rechten und des Militarismus. Die Möglichkeit eines neuen Internationalismus der Arbeiter:innenklasse, den Frauen und der Jugend.

Um zu verhindern, dass diese Kräfte erneut von den Gewerkschaftsbürokratien gespalten oder von reformistischen Strömungen an die Wahlurnen kanalisiert werden, ist es dringend notwendig, den Aufbau starker revolutionärer und sozialistischer Strömungen voranzutreiben. Denn angesichts des Europas des Kapitals und der Kriege ist der einzige fortschrittliche Ausweg der Kampf für ein sozialistisches Europa der Arbeiter:innen, basierend auf Arbeiter:innenregierungen, die der imperialistischen Ausplünderung der Völker der Welt ein Ende setzen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Spanisch bei La Izquierda Diario.

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