Europawahl 2019 in Deutschland: eine „Schicksalswahl“?
In den deutschen Medien werden die Wahlen zum EU-Parlament als "Schicksalswahl" dargestellt. Was steht für den deutschen Imperialismus wirklich auf dem Spiel? Welche Wahl haben die Arbeiter*innen, die Frauen, die Jugend und die Migrant*innen?
Die immer noch anhaltende Brexit-Krise, die Stärke ultrarechter Anti-EU-Parteien und der wachsende Unmut breiter Teile der Bevölkerung in verschiedenen europäischen Ländern: Gründe für ein Kräftemessen um die Zukunft Europas gibt es bei den diesjährigen Wahlen zum EU-Parlament allemal.
Doch traditionell sind die Europawahlen in puncto Wahlbeteiligung eher ein Trauerspiel. Gerade einmal 48% der Wahlberechtigten in Deutschland haben bei der letzten Europawahl 2014 ihre Stimme abgegeben (im Vergleich zu 76% bei der letzten Bundestagswahl). Kein Wunder: Das Europaparlament hat weitaus weniger Macht als die nationalen Parlamente – und vor allem als die EU-Kommission, eine antidemokratische Institution par excéllence, deren Zusammensetzung von den Regierungen der Mitgliedsstaaten bestimmt wird.
Oberflächlich betrachtet wirkt es deshalb eher peinlich, wenn in Zeitungen, Fernsehsendungen usw. in ganz Deutschland die bevorstehende Europawahl auf Schritt und Tritt als „Schicksalswahl“, das Wahldatum 26. Mai als „Schicksalstag“ bezeichnet wird.
Die Rede der „Schicksalswahl“ zielt dabei vor allem auf den europaweiten Rechtsruck ab, der sich in der ein oder anderen Form in fast allen europäischen Ländern im Aufstieg ultrarechter Parteien und in Ländern wie Ungarn, Italien oder Österreich in deren Eintritt in nationale Regierungen ausdrückt. Die Parteien des imperialistischen Blocks EU – allen voran in Deutschland Union und SPD, aber auch die Grünen und die FDP –, sehen sich der Ausbreitung ultrarechter Parteien im EU-Parlament gegenüber, was sich potenziell in einer noch größeren Bedeutungslosigkeit des EU-Parlaments manifestieren könnte. Viel wichtiger für die EU sind aber die Kommissionsposten, die von den nationalen Regierungen eingesetzt werden – und die Ende Mai gerade nicht zur Wahl stehen. Dort werden die rechten Regierungen der genannten Länder ihre Posten ganz sicher entsprechend besetzen.
Ist das Gerede von der „Schicksalswahl“ also nur Schall und Rauch? Keineswegs. Was trotz der seit Jahren schwelenden Krise auf dem Spiel steht, ist aber (noch) nicht die Existenz der EU – auch wenn die Stärkung ultrarechter Anti-EU-Parteien vor allem für den deutschen Imperialismus immer größere Hürden für seine Hegemonie in diesem imperialistischen Staatenblock bedeutet. Was auf dem Spiel steht, ist eher insgesamt die Legitimität der jeweiligen nationalen Regierungen, die vielerorts in tiefen Repräsentationskrisen stecken und wo die Europawahl einen Legitimitätstest darstellt. An vielen Orten wird erwartet, dass die regierenden neoliberalen Parteien bei der Europawahl abgestraft werden.
Besonders gilt das sicherlich für Frankreich und den seit Monaten mit sozialen Protesten – allen voran der Gelbwesten-Bewegung – konfrontierten Macron. Doch auch die deutsche Regierung sieht sich immer stärker in ihrer Legitimität in Frage gestellt. Die „GroKo“ aus Union und SPD wird bei den Europawahlen aktuellen Umfragen zufolge nur noch auf zusammen 48% kommen1, während es 2014 noch 62% waren (53% bei der Bundestagswahl 2017, der bis dato schlechteste Wert der beiden ehemaligen „Volksparteien“). Zusammen mit der voraussichtlich geringen Wahlbeteiligung wird das einen Schlag für die Unterstützung der Regierung bedeuten. Das könnte sowohl innenpolitische Konsequenzen haben, als auch außenpolitisch die Position der Bundesregierung gegenüber den anderen EU-Staaten weiter untergraben.
In den Debatten rund um die Europawahl stellt sich diese Legitimitätskrise so dar, als ob eine Stimme für die Regierungsparteien eine Stimme „für Europa“ darstelle, die Wahl „für“ oder „gegen“ Europa sei. Doch so einfach ist das nicht. Es geht nicht einfach um Europa versus Nationalismus.
Sicher: Die AfD – wie ihre Pendants in anderen Ländern – versucht weiterhin, auf der Grundlage der Ablehnung der EU und eines ultrarechten, nationalistischen Gegenentwurfs die Krise der Regierung zu vertiefen. Bei der vergangenen Bundestagswahl stellte sie mit 13% der Stimmen die größte Opposition zum Merkelismus und ist heute die größte Oppositionspartei im Bundestag. In Umfragen zur Europawahl kommt sie aktuell auf etwa 12%. Besonders für die Union wird die Europawahl ein erster Testballon für die anstehenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern – Brandenburg, Sachsen und Thüringen – im Herbst sein. Dort ist die AfD die wichtigste Oppositionskraft zur Union und kommt auf 19 bis 26%. Sollten sich diese Umfrageergebnisse bei den Landtagswahlen bestätigen – oder sollte die AfD gar stärkste Partei werden, was besonders in Sachsen eine reale Möglichkeit darstellt – , wäre das ein schwerer Schlag für die Große Koalition und besonders für Angela Merkel. Seit ihrem Rücktritt als Parteichefin und der Vorbereitung ihrer Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf den Posten als Bundeskanzlerin sind zwar die Umfragewerte der Union wieder gestiegen, doch die Krise des Merkelismus schwelt weiter. Schlechte Wahlergebnisse für das EU-Parlament könnten die notdürftig geflickten Risse wieder stärker aufreißen – eine interne Rebellion und ein vorgezogener Rücktritt von Angela Merkel als Bundeskanzlerin wären zumindest nicht auszuschließen.
Doch es wäre falsch, dies als ein Szenario „für“ oder „gegen“ Europa auszulegen. Denn Union, SPD, FDP und Grüne stehen zwar „für Europa“ – jedoch ein Europa des Kapitals, und zwar nicht irgendeines Kapitals, sondern des deutschen imperialistischen Kapitals, wie der Wahlslogan der Union ganz eindrücklich zeigt („Für Deutschlands Zukunft. Unser Europa.“). Wenn die AfD dem einen expliziter nationalistischen Gegenentwurf entgegensetzt, ist es deswegen nicht weniger ein neoliberales, arbeiter*innenfeindliches Projekt.
Zudem ist die große Neuerung bei diesen Wahlen nicht der Aufstieg der extremen Rechten, der zumindest auf Bundesebene eine Art vorläufige „Grenze“ erreicht hat, sondern der Aufstieg der Grünen. Seit Monaten bewegen sie sich von Umfragehoch zu Umfragehoch. Aktuell sind sie mit 19% für das EU-Parlament noch vor der SPD und sind auf dem besten Weg, sie langfristig als zweitgrößte Partei abzulösen – und nicht nur das, ihr kontinuierlicher Rechtstrend in den vergangenen Jahren macht sie für eine Koalition mit der Union immer attraktiver. Einen möglichen frühen Zusammenbruch der GroKo könnten in der aktuellen Situation vor allem die Grünen nutzen – und als Juniorpartner der Union in eine Regierungskoalition eintreten.
Es gibt vor allem zwei Gründe für diese Entwicklung: Zum Einen positionieren sich die Grünen immer stärker als eine Partei der bürgerlichen Erneuerung – sie rückt immer weiter nach rechts und verhält sich mitunter offen rassistisch, vor allem jedoch bietet sie dem deutschen Kapital mit ihrer Vision eines „Green New Deal“ einen strategischen Ausweg zur Wahrung der Profite an. Zum Anderen ist durch die wachsende Beschäftigung mit den dramatischen Folgen des Klimawandels – besonders im Kontext der Fridays for Future-Proteste von hunderttausenden Schüler*innen – das „umweltbewusste“ Image der Partei als Alternative stärker in den Fokus geraten.
Besonders bei der letzten FFF-Großmobilisierung in Berlin im März – und sicherlich noch mehr am kommenden 24. Mai, wo es einen internatonalen FFF-Streiktag anlässlich der Europawahlen geben soll – zeigte sich deutlich, wie sehr die Grünen und ihr nahestehende NGOs die FFF-Proteste für ihren eigenen Europawahlkampf nutzen. Trotz der Anschlussfähigkeit weitergehender Systemkritik bei den FFF-Protesten und der Gründung antikapitalistischer Strömungen innerhalb der Bewegung werden die Proteste den Grünen weiterhin Auftrieb geben – was die Partei potenziell zukünftig in die Regierung bringen kann. Doch die Grünen können die Klimakatastrophe nicht lösen – und schon gar nicht die EU, die selbst Teil der Klimakrise ist.
Wenn die EU-Parlamentswahl heute eine Schickswahl ist, dann nicht wegen des Kampfes „für“ oder „gegen“ Europa, sondern deshalb, weil heute Millionen von Menschen in ganz Europa in verschiedenen Formen – Gelbwesten, Fridays for Future, Mieter*innen-Proteste, Streiks – aufzeigen, dass dieses System – und diese EU – sie nicht mehr repräsentieren. Die EU kann die Klimakrise, die soziale Krise, die wirtschaftliche Krise etc. nicht lösen – die entstehenden Massenbewegungen auf der Straße schon, wennn sie sich mit den Kampfformen der organisierten Arbeiter*innenklasse verbinden. Es geht nicht um Europa ja oder nein – es geht um die Frage, welches Europa wir wollen.
Leider bieten die traditionellen reformistischen Parteien SPD und Linkspartei auf genau diese Frage keine Antwort: Zwar setzt vor allem die Linkspartei im Wahlkampf auf progressive soziale Themen, aber sie schüren Illusionen in die Reformierbarkeit der EU und wollen letztlich den imperialistischen Staatenblock mit einem sozialeren Inhalt füllen. Und auch wenn die Flügelkämpfe in der Linkspartei seit dem Rückzug von Sahra Wagenknecht ein wenig abgeklungen sind, können wir nicht ignorieren, dass in der Linkspartei neben dem führenden Pro-EU-Flügel auch ein souveränistischer Flügel existiert, der einen Weg der protektionistischen Abschottung des Wohlfahrtsstaats propagiert. Doch die EU ist nicht reformierbar, der nationale Wohlfahrtsstaat ist eine Illusion. Gegen die falsche Wahl EU versus Nationalismus kann die einzige Alternative für die Arbeiter*innen, die Frauen, die Jugend und die Migrant*innen nur der Aufbau einer politischen Kraft sein, die für ein ganz anderes Europa streitet – ein sozialistisches sein, indem nicht die Bosse, sondern die Arbeiter*innen demokratisch regieren.
Fußnote
1 Diese und alle weiteren aktuellen Umfragezahlen laut Forschungsgruppe Wahlen, 10.5.2019, wahlrecht.de.