Europa: Krieg, Inflation und Streiks

29.06.2022, Lesezeit 25 Min.
Übersetzung:
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Quelle: IzquierdaDiario.es

Ein Generalstreik in Belgien, der größte Verkehrsstreik in Großbritannien seit Jahrzehnten und zahlreiche Arbeitskämpfe in anderen Ländern zeigen einen Stimmungswandel in der Arbeiter:innenklasse. Streiks wegen Lohnerhöhungen oder Arbeitsbedingungen sind eine Reaktion auf die hohe Inflation, die durch die Folgen des Krieges in der Ukraine noch verschärft wird.

Steuern wir auf einen Sommer der Unzufriedenheit in Europa zu? Kommt ein heißer Herbst auf dem Kontinent? Eine solche Schlussfolgerung wäre noch voreilig, aber in Teilen der Arbeiter:innenklasse in mehreren Ländern beginnen sich neue Streikaktivitäten zu entfalten. Die Inflation erreichte im Mai im europäischen Durchschnitt 8,8 Prozent (mit höheren Raten in Ländern wie Großbritannien und Spanien). Nach Jahren schleichender Inflation von unter 1,5 Prozent ist dies eine bedeutende Veränderung, die zu einem Rückgang der Kaufkraft der Bevölkerung führt, insbesondere in der Arbeiter:innenklasse. Viele Analyst:innen sprechen bereits von einer wahrscheinlichen Stagflation: einer Kombination aus Rezession und Inflation.

Dies trägt zur politischen Instabilität mehrerer Regierungen und zu einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit den traditionellen Parteien bei. Dies kam in Frankreich bei den letzten Wahlen zum Ausdruck, mit einer sehr geringen Wahlbeteiligung, dem Erstarken der extremen Rechten von Le Pen und der Mitte-Linken um Jean-Luc Melenchon. Emmanuel Macron hat seine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verloren und steht nun vor einer fünfjährigen Periode großer politischer Unsicherheit. Eine weitere Regierung in der Krise ist die von Boris Johnson in Großbritannien, die nur knapp einem Misstrauensantrag entgangen ist.

In diesem Zusammenhang fanden in den letzten Wochen Streiks in Schlüsselsektoren (Verkehr, Stahl, Häfen, öffentlicher Dienst) und in eher prekären Sektoren statt. Auch wenn sie von Land zu Land unterschiedlich ausfallen, stellen sie einen Bruch im Klima der „nationalen Einheit“ dar, das die Regierungen vor einigen Monaten, als der Krieg in der Ukraine begann, zu erzwingen versuchten. In diesem Artikel befassen wir uns mit einigen dieser Arbeitskämpfe in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und anderen Ländern.

Ein Sommer der Unzufriedenheit in Großbritannien

Vergangene Woche rief die RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers) in Großbritannien mehr als 50.000 Eisenbahner:innen zu einem dreitägigen Streik auf. Die Arbeiter:innen brachten das Schienennetz praktisch zum Stillstand, zeitgleich mit einem 24-stündigen Streik in der Londoner U-Bahn, an dem sich weitere 10.000 Arbeiter:innen beteiligten. Es ist der größte Streik im öffentlichen Nahverkehr seit der Regierung von Margaret Thatcher, wie Alejandra Ríos, Korrespondentin von Klasse Gegen Klasse in England, erklärt.

In der britischen Presse ist der Gedanke an einen Sommer der Unzufriedenheit alltäglich geworden. Die Rede ist vom Winter 1978-1979, als eine Welle von Streiks im öffentlichen und privaten Sektor mit steigender Inflation, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Stagnation einherging. Die derzeitige Situation ist nicht mehr so akut wie damals, als eine Welle von Arbeiter:innenstreiks Großbritannien von Nord bis Süd erschütterte. Im Mai erreichte die Inflation in Großbritannien jedoch 9,1 Prozent – ein Vierzigjahreshoch – und die Bank of England geht davon aus, dass sie in den kommenden Monaten 11 Prozent erreichen wird. Zu den allgemeinen Inflationstendenzen kommen noch Brexit-bedingte Schocks (die Lebensmittelpreise sind in den letzten zwei Jahren um 6 Prozent gestiegen). Aus diesem Grund weisen viele Analyst:innen darauf hin, dass das Gespenst der 1970er Jahre umgeht – etwas, das die britische Regierung wiederum nutzt, um ein gewerkschaftsfeindliches Narrativ gegen die Streikenden aufzubauen. Dies war der Fall bei Finanzminister Simon Clarke, der behauptete, dass zweistellige Lohnerhöhungen „eine Wiederholung der 1970er Jahre“ wären und dass es daher nicht „nachhaltig“ wäre, die Löhne entsprechend der Inflation anzuheben.

Die Wiederbelebung der Arbeitskämpfe in Großbritannien könnte über den Verkehrssektor hinausgehen. Lehrer:innen, Postangestellte, Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen im nationalen Gesundheitsdienst erwägen Streiks.1

Tatsache ist, dass der Verkehrsstreik eine große politische Wirkung hat. Der Gewerkschaftsvorsitzende der RMT, Mick Lynch, ist in den sozialen Medien zu einem Star der Gewerkschaften geworden, und jeder seiner Fernsehauftritte geht viral. Er bestreitet die Vorstellung, dass Lohnerhöhungen zu einer Inflationsspirale führen würden. Er weist darauf hin, dass große Unternehmen ein Vermögen gemacht haben, und im Falle der Transportunternehmen haben sie während der Pandemie mehr als 500 Millionen Pfund vom Staat als Hilfe erhalten. Was sie nicht wollen, ist, dass ihre Gewinne geschmälert werden. Als er vor einigen Tagen nach der Möglichkeit einer Ausweitung des Konflikts gefragt wurde, spielte er sogar mit dem Gedanken an einen Generalstreik: „Ich würde einen Generalstreik akzeptieren, wenn wir ihn bekommen könnten.” Eine landesweite Streikmaßnahme, wie sie in Großbritannien seit dem Generalstreik von 1926, dem einzigen in der Geschichte des Landes, nicht mehr stattgefunden hat. Lynch, der von der konservativen Presse als „Marxist“ beschuldigt wird, der die Produktionsmittel verstaatlichen will, stellt klar, dass es ihm darum geht, die Einkommensverteilung „wieder ins Gleichgewicht zu bringen“, da die Superreichen viel mehr verdienen als früher, während die Inflation zu einem Rückgang der Löhne führt.

Die Krise der Lebenshaltungskosten betrifft verschiedene Arbeiter:innen im privaten und öffentlichen Sektor. Die Nationale Lehrer:innengewerkschaft (NASUWT) und die Nationale Bildungsgewerkschaft (NEU) mit 460.000 bzw. 510.000 Mitgliedern haben angekündigt, dass sie über die Möglichkeit eines Streiks beraten werden. „Die Lehrer:innen leiden nicht nur unter der Krise der Lebenshaltungskosten, mit der das ganze Land zu kämpfen hat, sondern auch unter 12 Jahren realer Gehaltskürzungen“, sagte Patrick Roach, Generalsekretär der Lehrergewerkschaft NASUWT. Er wies darauf hin, dass viele Lehrer:innen gezwungen sind, mehr als einen Job zu haben oder auf Tafeln zurückzugreifen, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu bewältigen. Am 18. Juni nahmen beide Gewerkschaften zusammen mit anderen an einer Demonstration in London teil, zu der der TUC (Großbritanniens größter Gewerkschaftsbund) aufgerufen hatte. Sie forderten Lohnerhöhungen, ein Ende der Null-Stunden-Verträge (flexible Arbeit), ein Ende des Rassismus am Arbeitsplatz, die Entkolonialisierung des Lehrplans in den Schulen und höhere Steuern für Energieunternehmen. Unter den Transparenten der Demonstrant:innen befanden sich auch einige kriegsbezogene Banner wie: „Kürzung der Kriegshaushalte, nicht der Sozialdienste“, obwohl dieses wichtige Thema nicht zu den Forderungen des Gewerkschaftsaufrufs gehörte. Unterstützung erhalten die Gewerkschaften von sozialen Bewegungen wie Umweltgruppen, die Unternehmenssteuern zur Eindämmung des Klimawandels fordern.

Die Regierung Johnson reagiert darauf mit einer Thatcherisierung ihres Diskurses, indem sie versucht, die Verkehrsbeschäftigten gegen den Rest der Arbeiter:innenklasse und der Mittelschichten auszuspielen2, als ob die ersteren „privilegiert“ wären, die ihre besonderen Interessen dem Rest aufzwingen, indem sie sie nicht zur Arbeit gehen lassen. Die konservativen Tories argumentieren, dass eine Lohnerhöhung in der von den Gewerkschaften geforderten Höhe nicht möglich ist, und versuchen, ein Gesetz zu verabschieden, das es ihnen ermöglicht, Streikende durch Leiharbeiter:innen zu ersetzen. Die Regierung befindet sich nach dem Misstrauensantrag gegen Johnson in einer schweren Krise und hat gerade Nachwahlen in zwei Wahlkreisen, Wakefield und Tiverton und Honiton, verloren. Mit ihrer gewerkschaftsfeindlichen Haltung gegenüber den Streikenden versuchen sie, die Figur Johnsons zu stärken. Ein Analyst schrieb jedoch vor einigen Tagen im Guardian: „Johnson wirkt wie Margaret Thatcher, die sich mit den Gewerkschaften anlegt, um eine größere Ähnlichkeit mit einem ohnmächtigen Jim Callaghan zu verbergen“, womit er sich auf den Labour-Führer bezieht, der vor Thatcher während des „Winters der Unzufriedenheit“ regierte. Was die Labour-Partei selbst angeht, bringt der Streik ihre Spaltung ans Licht. Ihr Vorsitzender Keir Starmer hat argumentiert, dass Streiks „keine gute Idee“ seien, was zu Spannungen mit den Gewerkschaften führte. Sie haben sogar Labour-Abgeordneten, die sich mit den Streikposten solidarisiert haben, mit Disziplinarmaßnahmen gedroht.

„Preise blockieren, nicht Löhne“: Streiks im öffentlichen Sektor und in strategischen Sektoren

Die Streiks gegen die Folgen der Inflation hatten in der vergangenen Woche einen weiteren Schwerpunkt in Belgien. Am 20. Juni fand ein Generalstreik mit Auswirkungen auf den öffentlichen Sektor statt, zu dem mehrere Gewerkschaften aufgerufen hatten. Die Inflation erreichte im Mai 8,97 Prozent und damit den höchsten Wert seit vierzig Jahren. Der Streik betraf vor allem die Bereiche Verkehr, öffentliches Bildungswesen und Flughäfen (der Flughafen Brüssel musste alle Flüge streichen). Die zentrale Demonstration in der Hauptstadt stand unter dem Motto „Preise blockieren, nicht Löhne“, da die steigenden Preise das Thema sind, das die Konflikte anheizt. Belgien ist ein Land mit einer langen Tradition von Generalstreiks und hatte in den letzten Jahren zusammen mit Frankreich die höchste Zahl von Streiktagen zu verzeichnen. Aber es hat auch eine lange Tradition, dass die Gewerkschaftsbürokratien Streiks aufrufen, um Druck aufzubauen, nur um sich dann zu Verhandlungen mit der Regierung und den Bossen zusammenzusetzen, um den Unmut der Arbeiter:innen einzudämmen.

Einer der Sektoren, in denen in den letzten Wochen die meisten Streiks stattgefunden haben, ist der Verkehrssektor, einschließlich Eisenbahnen und Flughäfen. Auf vielen europäischen Flughäfen kommt es aufgrund von Arbeitskämpfen und Personalmangel zu großen Verspätungen. Es kommt zu Flugausfällen und langen Warteschlangen für das Boarding, während Fluglots:innen, Pilot:innen oder Reinigungspersonal an verschiedenen Stellen mit Streiks drohen. Einigen Analyst:innen zufolge zeichnet sich ein Engpass ab, da sich der Reise- und Tourismussektor schneller als erwartet von der Pandemie erholt und es zu Personalengpässen kommt, da er zu den Sektoren gehörte, die während der Covid-Jahre die meisten Arbeiter:innen entlassen haben. In der letzten Woche fanden Streiks des Personals der Billigfluggesellschaft Ryanair statt (in Belgien, Spanien, Frankreich, Italien und Portugal am Wochenende des 25. und 26. Juni). Die Streiks betrafen auch das Personal von Brussels Airline, British Airways, EasyJet und Volotea.

Auch in Deutschland kommt es in einigen strategischen Sektoren wie Häfen, Stahl und Krankenhäusern zu größeren Arbeitskonflikten. Wir sprachen mit Stefan Schneider, Redakteur des Online-Mediums Klasse Gegen Klasse des internationalen Netzwerks Izquierda Diario. Er berichtet uns, dass es in den letzten Monaten vier größere Streiks gegeben hat.

Am Donnerstag, dem 23. Juni, fand zum ersten Mal seit vierzig Jahren ein gemeinsamer 24-stündiger Streik der größten deutschen Häfen statt, an dem sich 12.000 Beschäftigte beteiligten. Die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen von 14 Prozent (über der Inflation), und der Streik betraf die Häfen von Hamburg, Emden, Bremerhaven, Bremen, Brake und Wilhelmshaven. Mehr als 4.000 Hafenarbeiter:innen marschierten am Streiktag in Hamburg, umgeben von der Polizei. Der Arbeitgeberverband des Hafens hält dies für ein „völlig unverantwortliches Vorgehen“ angesichts der Krise in der Lieferkette und der Blockaden im Containerverkehr. Aber genau diesen Vorteil der Feuerkraft könnten die Hafenarbeiter:innen nutzen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Vor einigen Wochen hatten die Gewerkschaften zu einem mehrstündigen „Warnstreik“ aufgerufen, um Druck auf die Verhandlungen auszuüben, was jedoch nicht gelang. In diesem Sektor besteht ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad von etwa 70 Prozent.

Ein weiterer starker Streik fand im Stahlsektor statt, wo sich die deutschen Gewerkschaften der mächtigen IG Metall auf eine Lohnerhöhung von 6 Prozent einigten, die zwar immer noch unter der Inflationsrate liegt, aber die höchste in diesem Sektor seit 30 Jahren ist. Der Streik im Bereich der sozialen Dienste und dem Erziehungssekor hatte hingegen einen bitteren Ausgang, denn es wurde eine Erhöhung vereinbart, die ebenfalls unter der Inflationsrate lag, was zu Unmut unter den Beschäftigten führte. Dort setzte die Gewerkschaftsbürokratie auf Demobilisierung und weigerte sich, Massenversammlungen abzuhalten, um über die Fortsetzung des Konflikts zu entscheiden. Schließlich wird in den Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen seit mehr als sieben Wochen für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Personal und weniger Arbeitsbelastung gestreikt, nachdem die Belastung in der Pandemie unerträglich war.

Wenden wir uns nun Frankreich zu, wo der Klassenkampf in den letzten Jahren ein fast ständiger Bestandteil der politischen Szene war, so ist auch hier eine „Epidemie“ von Streiks für Lohnerhöhungen zu beobachten. Die Inflation erreichte zum ersten Mal seit 1985 5,2 Prozent pro Jahr. Laut einer Studie der Banque de France wurden im Jahr 2022 Lohnerhöhungen zwischen 2,5 und 3,5 Prozent und seit 2014 im Durchschnitt rund 1 Prozent ausgehandelt. Dies führt dazu, dass die Löhne hinter der Inflation zurückbleiben, während die steigenden Preise vor allem bei Strom- und Gasrechnungen, Lebensmitteln und Dienstleistungen zu spüren sind.

Gaëtan Gracia, CGT-Delegierter und Mitglied der Redaktion von Révolution Permanente, dem digitalen Medium des Netzwerks La Izquierda Diario in Frankreich, erklärte kürzlich in einem Artikel, dass „die Diskrepanz zwischen Inflation und Löhnen immer mehr zu einem zentralen politischen Thema wird. Die Frage der Kaufkraft ist seit Monaten die Hauptsorge in Frankreich. Es ist das Zeichen einer wachsenden Wut, die sich unter anderem in der Epidemie von Lohnstreiks ausdrückt“. Gracia weist darauf hin, dass es sich um partielle und kurzlebige Streiks handelt, die jedoch an Orten stattfinden, an denen es lange Zeit keine gewerkschaftlichen Aktivitäten gab, was auf ein tiefgreifendes Phänomen, ein „Erwachen der Arbeiter:innen“, hindeuten könnte. Es gab Streiks dieser Art bei Decathlon, Leroy Merlin, in Luftfahrtunternehmen wie Daher Aerospace oder in den Werkstätten der Haute-Garonne, die seit fünfzig Jahren nicht mehr bestreikt worden waren. Die Journalistin Khedidja Zerouali veröffentlichte Ende 2021 in Mediapart eine Reihe von Artikeln über so genannte „Niedriglohnstreiks“, die sich auf prekäre Niedriglohnsektoren beziehen, die während der Pandemie weiterarbeiten mussten und nun bessere Bedingungen fordern. Die Streiks beschränken sich jedoch nicht auf diese Sektoren, denn in den letzten Wochen haben auch andere Sektoren gestreikt, wie z.B. die Eisenbahner:innen, das Personal des städtischen Nahverkehrs (RATP), die Parfümkette Marionnaud, die Lehrer:innen und das Flughafenpersonal. Zuletzt rief die CGT die 35.000 Beschäftigten von Total Energies am 24. Juni zu einem 24-stündigen Streik auf.

In Italien ergibt sich ein gemischtes Bild. Giacomo Turci von La Voce delle Lotte verweist auf den Generalstreik der gesamten gewerkschaftlichen Basisbewegung am 20. Mai. Am 30. Mai fand ein Streik im Bildungswesen statt, der auf ein gemischtes Echo stieß, und am 17. Juni gab es einen Streik im Verkehrswesen, der von verschiedenen gewerkschaftlichen Basisorganisationen unterstützt wurde. Aber im Falle Italiens ist vielleicht das Interessanteste die von mehreren Basisgewerkschaften angeführte Mobilisierung, in der sie den Kampf gegen die Inflation und den Kampf gegen den Krieg und die Waffenlieferungen an die Ukraine mit dem zentralen Slogan „Waffen runter, Löhne rauf“ vereinten.

Schließlich finden auch in Spanien einige wichtige Streiks in Sektoren wie der Metallindustrie, dem Gesundheitswesen und anderen Bereichen statt. Der Metallarbeiter:innenstreik in Cádiz Ende 2021, der 9 Tage andauerte, hatte große nationale Auswirkungen. Die Bilder von der Repression der Streikposten durch die Nationalpolizei der „fortschrittlichsten Regierung der Geschichte“ vervielfachten sich in den sozialen Netzwerken. Im gleichen Sektor endete in der vergangenen Woche ein 16-tägiger Metallstreik in Kantabrien, während gleichzeitig in Bizkaia ein Metallstreik begann. Eine landesweite Koordinierung der Streiks in der Metallbranche und anderen Sektoren gegen die eskalierende Inflation mit gemeinsamen Demonstrationen nach Madrid (wie 2012 bei den Bergarbeiterstreiks) könnte das nationale politische Klima radikal verändern und eine enorme Solidarität hervorrufen. Aber die Bürokratien der Mehrheitsgewerkschaften CCOO und UGT sind in einem totalen Pakt mit der PSOE-Unidas-Podemos-Regierung und den Bossen, so dass sie bisher ihr ganzes Gewicht in die Vermeidung eines solchen Szenarios legen.

Ein Programm für Lohnerhöhungen, gegen die Inflation und den Krieg

Die Inflation in Europa blieb in den letzten 10 Jahren unter 2 Prozent, mit mehreren Perioden unter 1,5 Prozent und zeitweise sogar 0,0 Prozent. Der Aufwärtstrend begann im Jahr 2021 und erreichte im Oktober desselben Jahres 4,1 Prozent und im Januar 2022 5,1 Prozent. Analyst:innen führten dies auf das Ende der Pandemie, die Lieferkettenkrise, die Energiekrise und andere Faktoren zurück. Die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine und der Sanktionen sind seither spürbar. Die Preise sind seit Februar dieses Jahres steil angestiegen und erreichen derzeit Werte, die nur mit der Kurve der 1970er Jahre vergleichbar sind. Höhere Inflationswerte als heute wurden nur zwischen 1974-1977 und 1980-1983 verzeichnet.

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Inflationsindex Europäische Union, letzte 25 Jahre.

In einem kürzlich erschienenen Artikel erklärt der Journalist Rafael Poch, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland „für die angekündigte Zunahme des Welthungers weitaus schädlicher sind als die russische Blockade der ukrainischen Häfen“. Sie treiben bereits die Preise für Lebensmittel, Gas, Öl und Düngemittel in die Höhe, was sich am stärksten in den ärmsten Ländern auswirkt und zu Engpässen und höheren Preisen für Grundnahrungsmittel führt. Einem Bericht des UN-Ernährungsprogramms (WFP) zufolge wird die Zahl der Hungernden in der Welt in diesem Jahr von 276 Millionen (Vorkriegsniveau) auf 323 Millionen ansteigen, was auf die offene Krise zurückzuführen ist. Dies führt zu sozialen Unruhen und zum Ausbruch neuer Revolten gegen Regierungen, wie wir kürzlich in Sri Lanka gesehen haben. Die Zeitschrift The Economist titelte kürzlich „Von der Inflation zum Aufstand“. Der Artikel beleuchtet die Situation in Ländern wie Sri Lanka, aber auch in anderen wie Pakistan und Tunesien. Er verweist auch auf die ernste Lage in der Türkei, wo die Inflation 70 Prozent erreicht hat und die Kosten für Lebensmittel seit Monaten in die Höhe geschnellt sind.

Während dies in den reicheren Ländern Europas nicht der Fall ist, wirken die gegen Russland verhängten Sanktionen auch hier wie ein Bumerang, indem sie frühere Inflationstendenzen beschleunigen und die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung schmälern. Die Inflation schlägt nach zwei Jahren Pandemie zu, die für viele Arbeiter:innen große Opfer bedeutete, aber auch zeigte, wer für das Funktionieren der Gesellschaft „unverzichtbar“ ist, und so das Vertrauen stärkte, dass es möglich ist, sich für mehr einzusetzen.

In mehreren Fernsehsendungen auf die Möglichkeit einer Inflationsspirale angesprochen, antwortete der Anführer der britischen Eisenbahner:innen, dass es die Gewinne der Kapitalist:innen seien, die astronomisch gestiegen seien, und verwies auf die Milliardär:innen und die Subventionen, die die Unternehmen während der Pandemie erhalten haben. Im Jahr 2020 einigte sich der Europäische Rat auf den Covid-Krisenausstiegsfonds, der als Next Generation EU bekannt ist und aus 750 Milliarden Euro für alle Mitgliedsstaaten besteht. Zu diesem Sonderfonds kommen noch Mittel aus dem europäischen Haushalt hinzu, die sich auf insgesamt rund 2,018 Billionen Euro belaufen. Der größte Teil dieser Gelder, die von den Nationalstaaten in Form von Darlehen oder nicht rückzahlbaren Beihilfen umverteilt werden, geht an Großunternehmen. Nicht berücksichtigt sind dabei die Rettungsmaßnahmen, die während der Pandemie durch Mechanismen wie die vollständige staatliche Subventionierung der Löhne der Arbeiter:innen bei vorübergehenden Entlassungen und Steuerbefreiungen erfolgten. Dies ist ein gigantischer Transfer von öffentlichen Mitteln an private Unternehmen, der die Verschuldung der Staaten erhöht hat. Wenn jedoch inflationäre Tendenzen auftreten, wird die Anpassung bei den Löhnen vorgenommen.

Vor diesem Hintergrund entwickeln sich die Kämpfe der Arbeiter:innen um Lohnerhöhungen zu einem neuen Phänomen, das mancherorts, wie derzeit in Großbritannien, eine große politische Bedeutung erlangt. Dort wurden das Recht auf Streikposten, die Bedeutung von Streiks und der Verdienst der Großverdiener:innen erneut auf breiter Ebene diskutiert. Wenn die britischen Eisenbahner:innen, die Stahlarbeiter:innen in Deutschland oder die Metallarbeiter:innen in Bizkaia deutliche oder über der Inflation liegende Erhöhungen durchsetzen würden, würde dies das Selbstvertrauen vieler Arbeiter:innen stärken, und die Konflikte könnten sich ausweiten. Die Forderung nach einer Anhebung der Löhne auf das Niveau der Lebenshaltungskosten (in Frankreich werden zum Beispiel 300 Euro pro Monat als Notfallmaßnahme gefordert) zusammen mit der Forderung nach einer Lohnanpassung an die Inflation könnte die gesamte Arbeiter:innenklasse vereinen, da sie private und öffentliche Sektoren, unbefristet oder befristet, aus strategischen oder prekären Sektoren, in dieselbe Forderung einbezieht.

In einem kürzlich erschienenen Artikel weist der spanische Journalist Antonio Maestre darauf hin, dass „die Inflation die Regierungen zerstört“ und dass „der einzige Ausweg in einer Preiskontrolle und einer ehrgeizigen Steuerpolitik besteht, die die Steuern für Spekulant:innen und Großaktionär:innen erhöht. Das ist der einzige progressive Weg aus der Inflation. Es wird also nicht passieren. Es besteht keine Chance, dass die Regierung eine aggressive, fast konfiskatorische Steuerpolitik für die großen Vermögen und Konzerne einführt, die die Inflation bekämpfen kann. Das wird die Bescheinigung für ihre Beerdigung sein. Sie würden lieber sterben, als gegen die Macht der Oligarchien in den Krieg zu ziehen und radikal mit liberalen Dogmen zu brechen.“

Wie wir sehen, tauchen Maßnahmen wie Preiskontrollen in grundlegenden Sektoren wie Lebensmittel, Kraftstoffe und Energie allmählich in der Debatte auf. Aber die Regierungen sind nicht bereit, die Gewinne des Kapitals anzutasten. Im strategischen Energiesektor, der zu den Sektoren gehört, die am stärksten unter dem Anstieg der Preise in ganz Europa leiden, braucht es die Wiederverstaatlichung von Unternehmen unter der Kontrolle von Arbeiter:innen und Verbraucher:innen zu kämpfen. Nicht nur, um die astronomischen Preise zu senken. Sondern wie die Arbeiter:innen der Total-Raffinerie in Grandpuits, Frankreich, mitten in der Pandemie gezeigt haben, sind die Arbeiter:innen die einzigen, die bereit sind, eine echte Umstellung des Sektors und einen Übergang zu erneuerbaren Energien in Angriff zu nehmen, was der Schlüssel im Kampf gegen den Klimawandel ist, um die Zerstörung des Planeten zu vermeiden.

Zu den größten und bestverdienenden Unternehmen in Europa gehören heute Lebensmittelriesen wie Nestlé und Unilever oder Energieunternehmen wie Total und Shell. Die zehn reichsten europäischen Milliardär:innen im Jahr 2022 verfügen laut Forbes über ein kollektives Vermögen von 590 Milliarden Dollar und haben dieses im Vergleich zum Vorjahr um 40 Milliarden Dollar gesteigert. Nur ein Programm, das auf die Gewinne der multinationalen Konzerne und der Superreichen abzielt, kann die dringendsten Bedürfnisse der arbeitenden Menschen befriedigen.

Die Arbeiter:innenklasse in Europa ist eine mächtige soziale Kraft, die den Verkehr, die Häfen, die Banken, die Metall- und Telekommunikationsunternehmen, die öffentlichen Dienste und die Gebäudereinigung lahm legen könnte. Weit entfernt von den Vorhersagen derjenigen, die das Ende der Arbeit beschworen, handelt es sich um eine multiethnische und ausgedehnte Arbeiter:innenklasse, die strategische Positionen in der Produktion und im Verkehr einnimmt. Eine Arbeiter:innenklasse, die in den letzten Jahrzehnten weiblicher geworden ist als je zuvor und die mehrere Generationen von Migrant:innen in ihren prekärsten und am meisten ausgebeuteten Sektoren aufgenommen hat.

Die Gewerkschaftsbürokratien tun alles, um diese soziale Kraft durch Pakte an der Spitze oder Streiks zum Druck ablassen zu schwächen, um die Koordination und den Aufruf zu Generalstreiks zu vermeiden. Und vielerorts, wo sie an der Spitze der Lohnkämpfe stehen, versuchen sie, den Konflikt schnell zu entschärfen, indem sie Vereinbarungen über Erhöhungen unterhalb der Inflation akzeptieren. Sie sind der beste Schutz des Kapitals und der kapitalistischen Staaten innerhalb der Arbeiter:innenklasse, indem sie deren soziale Stärke passivieren und die Unzufriedenheit in Richtung Wahllokale kanalisieren. Als der Vorsitzende der spanischen Gewerkschaft CCOO vor einigen Tagen im Fernsehen gefragt wurde, ob die Möglichkeit bestehe, einen Generalstreik auszurufen (seit 2012 wurde kein Generalstreik mehr ausgerufen), verneinte er dies, da Generalstreiks „politisch sind“. In gut eingespielter Arbeitsteilung mit den Parteien der Sozialliberalen und der institutionellen Linken sorgen sie dafür, dass die Arbeiter:innenklasse ihre ganze Feuerkraft in den aktuellen Lohnkämpfen nicht einsetzen kann, und rufen dann dazu auf, bei den Wahlen für diese Alternativen als kleineres Übel gegen die Rechten zu stimmen.

Sie vermeiden es auch um jeden Preis, den Kampf gegen die steigenden Lebenshaltungskosten mit der Aussicht auf eine Massenmobilisierung gegen den Krieg und die Aufrüstung der imperialistischen Regierungen zu verbinden, die eine der schlimmsten Ursachen für die derzeitige inflationäre Situation ist. Wie anders wäre es, wenn sich die Demonstrationen oder Streiks der Gewerkschaften gegen die enormen Ausgaben der Militärhaushalte, die Sanktionen gegen Russland, die Waffenlieferungen und die militaristische Politik der imperialistischen Regierungen richten würden!

In der Situation nach der Pandemie und inmitten eines Krieges, der sich in die Länge zieht, stellt sich die Frage, ob die derzeitigen Streiks ausgeweitet, wichtige Siege errungen und in einer größeren Perspektive koordiniert werden können. Dafür wird es entscheidend sein, dass diejenigen, die auf die Arbeiter:innendemokratie der Basis, der Versammlungen und der Delegierten setzen, beginnen können, die Grenzen zu durchbrechen, die die Gewerkschaftsbürokratien ihnen setzen. Wir können es noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist eine Tatsache, dass sich die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geostrategischen Widersprüche in Europa häufen. Und diese neue Aktivität der Arbeiter:innenklasse kann, wenn sie sich entwickelt, einen Wendepunkt im sozialen Konflikt markieren. Während im vorangegangenen Zyklus des Klassenkampfes, mit dem Auftauchen der Gelbwesten, die Arbeiter:innen oft aufgelöst in staatsbürgerlichen Bewegungen zusammen mit breiteren Sektoren der Mittelschichten intervenierten, beginnen jetzt Methoden der Arbeiter:innenklasse wie Streikposten, Streiks und Streikkassen mehr Sichtbarkeit zu haben. Die Situation ist uneinheitlich, und in einigen Ländern ist es wahrscheinlicher, dass die Entwicklung in diese Richtung geht. In Frankreich zum Beispiel sind die Ausdrücke des Klassenkampfes in den letzten Jahren viel größer geworden. Nun steht die Regierung Macron vor einer fünfjährigen Periode großer politischer Instabilität. Diese Situation der Krise von oben und der enormen Unruhen von unten eröffnet der Arbeiter:innenklasse zweifellos die Möglichkeit, auf eine andere Weise in die politische Arena einzugreifen.

* Dieser Artikel wurde auf der Grundlage von Berichten von Alejandra Ríos aus dem Vereinigten Königreich, Stefan Schneider in Deutschland, Gaëtan Gracia in Frankreich und Giacomo Turci in Italien für das internationale Netzwerk Izquierda Diario verfasst. Er erschien zuerst am 25. Juni 2022 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

Fußnoten

1. Nach den von Thatcher erlassenen gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen muss eine Gewerkschaft, um einen Streik ausrufen zu können, zunächst eine Anhörung aller Mitglieder durchführen, deren Ergebnis nur dann als gültig angesehen wird, wenn eine Beteiligung von 50 Prozent erreicht wird.

2. Etwas, das Boris Johnson bereits in seiner Zeit als Bürgermeister von London getan hat, als die Beschäftigten der Londoner U-Bahn 48 Stunden lang streikten.

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