Eure Korruption tötet: Studentische Proteste in Serbien

26.12.2024, Lesezeit 6 Min.
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Studierende in Serbien, auf dem Schild stehen die Worte „Wir schweigen nicht mehr!“, Foto: Mirko Kuzmanovic, Shutterstock.com

Nachdem am ersten November bei einem Einsturz eines Bahnhofsvordaches in Novi Sad 15 Menschen starben, befindet sich Serbien im Ausnahmezustand. Hunderttausende Menschen gehen für eine vollständige Aufklärung des Falls auf die Straßen, Studierende blockieren die Universitäten.

Anfang November stürzte in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, ein Teil des Bahnhofsvordaches ein. 15 Menschen starben und viele weitere wurden verletzt. Der Bahnhof wurde erst kürzlich von einem chinesischen Generalunternehmer renoviert und vor Ablauf der geplanten Frist eröffnet. Die Protestierenden werfen der Regierung nun Nachlässigkeit beim Bau sowie Korruption vor. Zehntausende blockierten am vergangenen Sonntag das Zentrum von Belgrad und forderten eine vollständige Aufklärung des Falls.

Mit Blick auf Vučić, dem Präsident Serbiens, wird „Du hast Blut an deinen Händen“ skandiert und auf den Bannern der Protestierenden sind Sprüche wie „Eure Korruption tötet“ zu lesen. Laut dem „Archiv Öffentlicher Versammlungen“ gingen am vergangenen Sonntag 100.000 Menschen in Belgrad auf die Straße. Die Regierung versucht den Fall zu vertuschen, indem der Bevölkerung verwehrt wird, alle Dokumente einzusehen; Präsident Vučić versuchte, die Öffentlichkeit zu belügen, indem er angab, dass das eingestürzte Dach nicht Teil der Renovierungen war. Dies konnte eindeutig mit Bildern und den nun veröffentlichten Dokumenten widerlegt werden. Erst kürzlich hatte die Regierung einige Unterlagen zur Renovierung freigegeben, welche zuvor als vertraulich eingestuft waren, während weitere wichtige Dokumente noch immer unter Verschluss gehalten werden. Auch der Bauminister musste dem Druck der Protestierenden mittlerweile nachgeben und zurücktreten. Das Gebäude wurde allem Anschein nach nicht fachgerecht renoviert, indem billige Materialien benutzt und Standards nicht eingehalten wurden. 

Studierende blockieren die Universitäten 

Die Kundgebungen und Proteste, welche nun bereits seit Mitte November anhalten, sind hauptsächlich von Studierenden organisiert. Die derzeitigen Proteste stellen die größten Studierendenproteste des Landes seit 1968 dar. Über 60 Fakultäten wurden bereits besetzt und blockiert – der Lehrbetrieb ist weitgehend eingestellt. Viele Rektorate und Professor:innen unterstützen die studentischen Proteste, welche die Institutionen zu einer Aufklärung des Falls von Novi Sad auffordern. Auch Schüler:innen und Gewerkschaften des Bildungswesens haben sich mittlerweile mit eigenen Maßnahmen angeschlossen und Solidarität mit den protestierenden Studierenden verkündet. Nachdem Präsident Vučić die Studierenden zum gegenseitigen Zuhören aufforderte, entgegneten diese ihm mit der Frage, wer er denn sei, um so etwas zu fordern. Schließlich hat Vučić im Lauf seiner langjährigen Präsidentschaft immer mehr Macht an sich gezogen und Parlament, Justiz und Medien unter seine Kontrolle gebracht. Die Studierenden fordern, dass die verantwortlichen Institutionen handeln. Sie geben sich nicht mit den Beschwichtigungsversuchen des Präsidenten zufrieden und fordern Rechtsstaatlichkeit statt korrupter Autokratie. 

Auf den Instagram-Kanälen der Fakultäten stellen die Studierenden folgende Forderungen:

Veröffentlichung der Dokumentationen zur Restauration des Bahnhofs in Novi Sad; Aufhebung der Anklagen der verhafteten Protestierenden; Strafverfolgung aller Personen, die an Angriffen auf Protestierende beteiligt waren; Strafverfolgung der Polizist:innen, welche Protestierende körperlich angriffen.

Ende letzter Woche veröffentlichte die Fakultät für Schauspielkunst (FDU) einen Brief an Studierende auf der ganzen Welt, in welchem sich die Studierenden erstmals auch auf englisch an die Öffentlichkeit wandten. In diesem Dokument, welches tausendfach auf Instagram geteilt wurde, fordern sie Studierende weltweit auf, ebenfalls Blockaden an ihren Universitäten zu organisieren: 

The world is on the brink of collapse, representative democracy is failing, and our future is at risk. This is the only way to take control and change the course of the world. There are countless reasons for a blockade, and you know best what yours is.

In dem Dokument nennen sie jahrzehntelange Korruption, Repression und Gewalt als Grund für die Blockaden und bezichtigen auch die Oppositionspolitiker:innen – welche Teil der Proteste gegen die Regierung sind – der Inkompetenz. Das sei der Grund, warum sie die Sache nun selbst in die Hand nehmen müssen. Laut den Studierenden seien beinahe alle Universitätsgebäude nun Zentren der politischen Selbstorganisation. Anstatt Forschung und Lehre findet man in den Gebäuden nun Küchen, Schlafplätze, Workshops, Kinos und Klassenzimmer für „self-education“. Die Blockaden sind durch Arbeitsgruppen organisiert, in denen alle Mitglieder gleichberechtigt sind und welche im offenen Plenum ihre Ideen diskutieren. In dem Dokument geben sie an, ihre Blockaden aufrechterhalten zu wollen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Die genauen Forderungen der FDU sind in diesem Dokument nicht aufgelistet. Am Ende des Dokuments rufen sie noch einmal auf, dass Studierende sich weltweit organisieren sollen, um direkte Demokratie auszuüben:

Self-organize and start practicing direct democracy now! Students of the world, join the blockades!

Die Zukunft Serbiens: ohne Korruption und Repression? 

Die Situation in Serbien erinnert, trotz unterschiedlicher Auslöser, an Georgien. Denn auch Serbien strebt seit Jahren eine Mitgliedschaft in der EU an, welche jedoch bereits seit einigen Jahren stockt. Bundeskanzler Scholz besuchte im Juli Belgrad, da der deutsche Imperialismus unabhängiger von China werden und deshalb Lithium aus Serbien bezogen werden soll. Allerdings gibt es hierbei massive ökologische und rechtliche Probleme bei dessen Abbau. Im Dezember besuchte Vučić die Bergbaustadt Freiberg, wo ebenfalls Lithium abgebaut wird. Hier kündigte Scholz an, mit Vučić zukünftig kooperieren zu wollen. Dieser dankte Scholz daraufhin kurzerhand für die „Eröffnung von Cluster 3 in den Beitrittsverhandlungen mit Serbien und für die Unterstützung Serbiens auf dem europäischen Weg“. Die EU hat jedoch noch nicht über die Eröffnung von Cluster 3 – ein Teil der EU-Beitrittsverhandlungen – entschieden und dies sei derzeit auch nicht im Gespräch. 

Weder durch die Kooperation mit Deutschland, noch durch einen EU Beitritt wird sich die Lage der arbeitenden Bevölkerung in Serbien ändern. Korruption sowie die Vernachlässigung des Wohles der Bevölkerung werden dadurch kein Ende finden. Wenn die Studierenden davon sprechen, dass die „repräsentative Demokratie“ weltweit scheitert und sie einen Kurswechsel fordern, sollten sie einen unabhängigen, sozialistischen Weg aufzeigen, der über die Minimalforderung der Rechtsstaatlichkeit hinausgeht. Repression, Korruption und Autokratie können nicht durch die alleinige Aufklärung des schrecklichen Falls von Novi Sad beendet werden, weshalb die Forderungen der Studierenden darüber hinausgehen müssen. Serbien zeigt jedoch, wie wirksam studentische Blockaden sein können und dass Studierende sich fakultätsübergreifend organisieren können, um gemeinsame Ziele zu verfolgen: „Was Streiks für die Arbeiter:innen sind, sind Blockaden für Studierende.“

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