Eskalation in der Ukraine
// Ein Land zwischen den Mühlsteinen geopolitischer Interessen //
Seit November letzten Jahres gingen hunderttausende Menschen in Kiew und anderen Städten auf die Straße, um gegen den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und seine Regierung zu protestieren. Einige Wochen später ist der Präsident geflüchtet, seine Residenzen zu Museen deklariert, die Sondereinheiten der Polizei aufgelöst. Auf der Krim gibt es Zusammenstöße zwischen AnhängerInnen der neuen ukrainischen Übergangsregierung und pro-russischen DemonstrantInnen. Am ersten Märzwochenende reagierte Moskau mit einem Schritt der Eskalation und sendete Truppen auf die Krim-Halbinsel, woraufhin auch die Ukrainische Regierung mobil machte. Möglicherweise steht nun die Spaltung der Ukraine bevor. Selbst ein Krieg scheint nicht unmöglich. Damit hat sich die Ukraine zu einem Dreh- und Angelpunkt der internationalen Situation entwickelt, die schärfere geopolitische Auseinandersetzungen im Rahmen der Krise erwarten lässt.
Auslöser der Proteste war die Abstimmung ukrainischer PolitikerInnen gegen einen Vertrag, der eine engere Zusammenarbeit der Ukraine mit der EU vorsah. Die Ablehnung des sogenannten „Assoziierungsabkommens“ geschah auf Druck Russlands, das Kiew Milliardenkredite sowie deutlich günstigere Gaspreise als marktüblich in Aussicht gestellt hatte. Eine Annäherung Kiews an die EU hätte Russlands geostrategisches Interesse torpediert, eine „Eurasische Union“ aufzubauen. Der ganze Prozess geschieht im Rahmen des andauernden Niedergangs der US-Hegemonie, was Russland ausnutzt, um seine regionale Macht zu festigen und auszudehnen.
Für Deutschland und Frankreich dagegen stellt die Ukraine eine geostrategisch wichtige Durchgangsstation für Energielieferungen in die EU dar, da diese für das Funktionieren der imperialistischen Industrien unerlässlich sind. Zudem würden sich durch die weiterhin von den zentralen europäischen Ländern vorangetriebene EU-Osterweiterung weitere Möglichkeiten eröffnen, an noch billigere und gut ausgebildete Arbeitskräfte zu kommen. Bereits jetzt ist Russland mit einem Anteil von knapp 34 Prozent der wichtigste Gaslieferant der EU. Beim Öl stammen knapp 30 Prozent der Ölimporte aus den Ölquellen Russlands.1 Eine gefährliche gegenseitige Abhängigkeit, denn auch Russland muss alles Mögliche tun, will es seine HauptkundInnen nicht verprellen.
Während der Imperialismus also einen Regimewechsel anstrebt, um jene Länder an sich zu binden, die nach wie vor und in verschiedenen Graden unter dem Einfluss Russlands stehen, versucht Russland, sein historisches Einflussgebiet zu erhalten und zu vertiefen. US-amerikanische Interessen, die sich nicht mit den Interessen der EU decken, verkomplizieren die Situation noch weiter, denn auch wenn die USA auf der Abkehr der ukrainischen Bourgeoisie von Russland bestehen, wollen sie doch nicht unbedingt eine bessere Anbindung an die EU mit Deutschland an der Spitze. So unterstützen die USA auch eher die Washington-treue Julia Timoschenko, während die deutsche Bourgeoisie auf Figuren wie Vitali Klitschko setzt, die eine engere Bindung an die BRD propagieren.
Soziale Grundlagen des Protestes
Der zu Beginn noch friedliche Protest von Teilen der Mittelschicht, dessen Programm im Wesentlichen die Annäherung an die EU vorsah, wurde angeführt von reaktionären Kräften, von liberalen Parteien bis hin zu offen rechtsextremen und nationalistischen Gruppierungen und paramilitärischen faschistischen Milizen. Diese Bewegung entwickelte sich schnell zu einem unkontrollierbaren Feuer. Dieses hinterließ ein vorübergehendes Machtvakuum, das nun sowohl die imperialistischen Länder als auch Russland zu ihren Gunsten füllen möchten. Mit anderen Worten: Bei den Protesten auf dem Maidan-Platz in Kiew handelt es sich um eine radikalisierte Bewegung des Kleinbürgertums und der Mittelschichten, die ihre völlige Verarmung fürchten und sich dabei der einen oder anderen Fraktion des Kapitals, in diesem Fall des imperialistischen, anbiedern.
Aufgrund des obszönen Ausmaßes an Korruption und Vetternwirtschaft in der Ukraine fühlen sie sich meist von den nationalistischen und rechtsradikalen Führungen angezogen, weil diese noch nicht im Verdacht stehen, korrupt zu sein. Auch deshalb zieht der Maidan an einem Strang mit Frankreichs Premier Hollande und Bundeskanzlerin Merkel, die ein elementares Recht wie das Recht auf nationale Selbstbestimmung der BewohnerInnen der Krim zugunsten der „Wahrung der Einheit des Landes“ opfern wollen. Mehr noch, der Maidan unterstützt sogar reaktionäre Forderungen, wie das Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine oder die Abschaffung des Russischen als zweiter Amtssprache. Der „demokratische“ Imperialismus, glühender Verfechter der „Menschenrechte“, schweigt darüber, da er eine Möglichkeit sieht, den begonnenen Prozess der Semikolonialisierung seines historischen Hinterhofes zu vertiefen. Dabei greift er auf ein altbewährtes Rezept zu: die „demokratische Konterrevolution“.
Viele Menschen in der Westukraine haben die Illusion, dass eine Annäherung an die EU Wohlstand, Freiheit und Demokratie wie in einem zentralen Land bringen wird. Darauf gestützt verschleiert der Imperialismus seinen räuberischen Charakter und ermöglicht die Ausdehnung seiner Herrschaft. Verdeckt mit wohlklingenden Begriffen fordert die Bundesregierung „transparente, freie, faire, demokratische Wahlen“.2 Doch dies ist nur der Versuch des Imperialismus, eine Legitimation für ein neues Regime zu erreichen, das sich seinem Diktat voll und ganz unterordnet.
So versuchten es die ImperialistInnen zunächst mit mahnenden Worten: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier versuchte gemeinsam mit seinem Amtskollegen aus Paris beide Seiten dazu zu drängen, „die Gewalt zu beenden“. Als es damit nicht so recht klappte, gingen sie zu Drohungen über: François Hollande und Angela Merkel sprachen immer deutlicher davon, Sanktionen gegen die Ukraine, bzw. gegen die Verantwortlichen für die staatliche Gewalt anzuwenden. Kurz darauf meldete sich die EU zu Wort, die bei einer Sondersitzung in Brüssel Einreiseverbote sowie das Einfrieren von Konten beschlossen hatte. Das hat für die OligarchInnen, deren Gelder meist außer Landes geparkt sind, und die das Parlament weitestgehend kontrollieren, gereicht, um ihre „Loyalität“ gegenüber Janukowitsch aufzukündigen. Die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments sprachen sich daraufhin für ein Ende des „Anti-Terror-Einsatzes“ aus, der sich gegen die Opposition richtete. Dies ist nur eines der Beispiele, die die Abhängigkeit der 445 Abgeordneten des ukrainischen Parlaments von den OligarchInnen des Landes verdeutlichen.
Ukrainische Wirtschaft: Staatspleite oder völlige Unterwerfung
Laut Angaben der Übergangsregierung benötigt die Ukraine 35 Milliarden US-Dollar (25,5 Milliarden Euro) an Finanzhilfen, um eine Staatspleite abzuwenden. Bis vor kurzem hatte Russland eine Finanzspritze von 15 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt, jedoch stornierte es die erste Überweisung von zwei Milliarden aufgrund der für Russland ungünstigen Entwicklung der Ereignisse. IWF-Chefin Christine Lagarde ihrerseits stellte der Ukraine zwar Finanzspritzen in Aussicht, machte diese jedoch von der Bildung einer Zwischenregierung abhängig, mit der sie verhandeln könne. Die USA ihrerseits boten ihre Hilfe an, sogar in Zusammenarbeit mit anderen Ländern inklusive Russland, um der Ukraine bei „demokratischen Reformen“ und der Wiederherstellung von wirtschaftlicher Stabilität beizustehen.
Wie die Hilfe der verschiedenen imperialistischen Mächte und Organisationen wie dem IWF aussieht, können die Massen in vielen Ländern beobachten – heute am schmerzhaftesten in Griechenland. Bereits jetzt macht der IWF klar, dass die Hilfen an Wirtschaftsreformen gekoppelt sind. Zu den Forderungen gehören Maßnahmen wie die Erhöhung der Gaspreise, die Abwertung der Landeswährung und Einsparungen im Staatshaushalt. Nichts außer Armut und Leid erwartet die UkrainerInnen, wenn sie dem Sirenengesang der imperialistischen Länder folgen.
Gleichzeitig ist die Eskalation Russlands, das auf die Bildung der neuen Regierung mit der Besetzung der Krim-Halbinsel reagierte und so auf massiven Konfrontationskurs mit der neuen ukrainischen Regierung und den westlichen Imperialismen ging, auf das Schärfste zu verurteilen. Dieser Schritt, der zu einem Krieg um die Einflusssphäre in Osteuropa führen könnte, ist ein Zeichen für steigende geopolitische Spannungen, wo Imperialismen wie Deutschland mit mehr Ambitionen und aufsteigende Regionalmächte wie Russland um eine größere Rolle kämpfen. Diese Auseinandersetzung wird vollständig auf dem Rücken der ukrainischen Massen ausgetragen. Deswegen müssen wir sagen: Für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine! Nieder mit der imperialistischen Einmischung, allen voran Deutschlands! Russlands Einmarsch in die Krim stoppen! Kein nationaler Kampf sondern Klassenkampf!
Unlösbarer Widerspruch? Eine revolutionäre Perspektive!
Der einzige progressive Ausweg aus der verfahrenen Situation in der Ukraine liegt nicht in Neuwahlen, wie von der Bundesregierung oder der Linkspartei gefordert wird. Auch nicht in der Abspaltung des Landes, wie ein Teil der Menschen in der Ostukraine glaubt. Auch nicht in der Angliederung der Krim an Russland. Sie liegt auch nicht auf dem Maidan, wie manche Linke auch hierzulande glauben. RevolutionärInnen haben die Pflicht, stets im Klassenkampf zu intervenieren.
Doch gleichzeitig muss man erkennen, dass die Führung der Maidan-Bewegung offen reaktionäre Ziele hat und eine reale Gefahr für revolutionäre AktivistInnen darstellt. Der Hauptverantwortliche für die politische Rückständigkeit dieser Bewegung ist der Stalinismus, der den Sozialismus lange Zeit durch den Dreck des „real existierenden Sozialismus“ zog. In der Ukraine wurde die schändliche Rolle des reformistischen Stalinismus von der Kommunistischen Partei fortgeführt. Sie wurde schließlich zu einer wichtigen Stütze des Janukowitsch-Regimes und hat dafür gesorgt, dass die Anti-Demonstrationsgesetze durchgekommen sind.
Ein progressiver Ausweg aus der jetzigen Krise wird nicht dadurch erreicht, dass man für „Frieden und Völkerverständigung“ eintritt. Weder die EU mit dem IWF und der korrupten und pro-westlichen politischen Kaste des Landes (Timoschenko, Klitschko usw.), noch der flüchtige Janukowitsch und Russland werden die Interessen der ArbeiterInnenklasse und verarmten Massen zur Geltung bringen. Beide haben zur Genüge unter Beweis gestellt, dass ihnen ihre Geschäfte wichtiger sind als das Wohl der Menschen.
Revolutionäre MarxistInnen dagegen schlagen eine Perspektive vor, die die bürgerliche Demokratie mittels einer sozialistischen und proletarischen Revolution überwindet und eine Herrschaft errichtet, die in direkter Demokratie von den ArbeiterInnen und verarmten Massen ausgeübt wird, und tausendfach demokratischer ist als jede Herrschaftsform der Bourgeoisie. Um dahin zu gelangen, müssen heute Übergangsforderungen aufgestellt werden, die darauf abzielen, die KapitalistInnen zu enteignen. In Deutschland sind viele Stimmen zu hören, die einen progressiven Ausweg aus der Krise in der Ukraine fordern, oft mit einem linken Vokabular. Jedoch zielen diese Forderungen nicht auf einen Bruch mit dem Kapitalismus.
Die ukrainische ArbeiterInnenklasse muss dagegen heute ein Programm aufstellen, das die entschädigungslose Enteignung aller OligarchInnen, die Verstaatlichung des Bankwesens, die Enteignung der imperialistischen Konzerne und Firmen und den Kampf für eine Regierung der ArbeiterInnen und der verarmten Massen vorsieht. Alles andere wird nur dazu führen, die ukrainischen Massen zwischen den Mühlsteinen geostrategischer Interessen zu zermahlen.
Fußnoten
1. Deutschland bezieht circa 36 Prozent der eingeführten Menge an Gas aus Russland, sogar 39 Prozent des Öls.
2. Bundesregierung: Chance für die Demokratie.