Es reicht! – Abschiebungen nach Afghanistan stoppen und zwar sofort

09.12.2017, Lesezeit 5 Min.
Gastbeitrag

Khatera Shamel, Aktivistin aus Afghanistan, war bei den Protesten gegen die Massenabschiebung in Frankfurt am Main dabei. Sie fordert in einem Gastbeitrag auf Klasse Gegen Klasse einen vollständigen Abschiebestopp.

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Ein Jahr ist es her, seitdem die Bundesregierung damit begann, Sammelabschiebungen nach Afghanistan durchzuführen. Ein Jahr, in dem viele afghanische Geflüchtete sich entschieden, ihrem Leben lieber selbst ein Ende zu setzen, als in ein Land zurückzukehren, in dem jeden Tag elf US-amerikanische Bomben abgeworfen werden und wo auch die Bundeswehr nun schon seit 15 Jahren im „Friedenseinsatz“ ist. Am 6. Dezember wurde gegen die Deportationspraxis der Regierung demonstriert — während ein weiteres Flugzeug mit etwa 20 Personen Richtung Kabul abflog.

Um 18:15 Uhr begannen im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens etwa 600 Personen ihrem Protest bezüglich der Sammelabschiebungen nach Afghanistan lautstark Ausdruck zu verleihen. Afghan Refugees Movement ist ein Zusammenschluss von Geflüchteten aus Afghanistan, die im Rhein-Main-Gebiet leben, genug davon hatten in eine Situation der politischen Inaktivität gesteckt worden zu sein und sich nun klar zu Deportationen positionieren und dabei regelmäßig Demos organisieren, sich mit Abgeschobenen solidarisieren und Aufklärungsarbeit leisten. Auch die Demo am Mittwochabend haben sie organisiert und sie fordern ganz klar: Die deutsche Regierung und die EU müssen sofort die Abschiebungen nach Afghanistan stoppen!

Innerhalb der ersten neun Monate dieses Jahres warfen allein die USA 3.238 Bomben auf Afghanistan ab. Nicht eingeschlossen sind hierbei die Bomben und Anschläge der anderen Konfliktparteien oder die zahlreichen und regelmäßig stattfindenden Entführungen, Enthauptungen und Bodenkämpfe. 1.662 Tote and 3.581 Verletzte hat es laut dem UN- Halbjahresbericht vom Juni 2017 in Afghanistan dieses Jahr gegeben. Beim bisher schwersten Anschlag am 31. Mai in Kabul, bei dem auch die deutsche Botschaft schwer beschädigt wurde, zählte der UN-Bericht mindestens 92 Tote und 491 Verletzte. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt.

Historisch war auch der Abwurf der Massive Ordnance Air Blast, von Präsident Trump liebevoll als „Mother of all bombs“ bezeichnet, in Nangarhar am 13. April 2017. Laut US-Regierung sollen hierbei 94 IS-Kämpfer*innen getötet worden sein, die Zahl der zivilen Opfer, der langfristigen ökologischen und gesundheitlichen Folgen, ganz zu schweigen von dem psychologischen Trauma für die Bevölkerung und dem Verlust von Ackerland als Lebensgrundlage sind weder einschätzbar, noch hierbei von großem Interesse.

Institutioneller Rassismus

Die Sicherheitslage Afghanistans sei laut Zwischenbericht des Auswärtigen Amtes vom August diesen Jahres von vielen individuellen Faktoren abhängig und sehr volatil, eine klare Abgrenzung von wirklich sicheren Gebieten kann selbst dieser Bericht nicht ausmachen. Dennoch ist es scheinbar wieder vertretbar, Geflüchtete nach Afghanistan zu deportieren. Aktuell würden lediglich sogenannte Straftäter*innen, Gefährder*innen und die, die „hartnäckig ihre Mitarbeit an der Identitätsfeststellung verweigern“ abgeschoben, und auch nur nach angeblich ausführlicher Einzelfallprüfung. Nicht überraschend ist allerdings, dass man bereits bei mehrmaligem Fahren ohne Fahrkarte bereits als Straftäter*in gilt. Dies spricht Bände über diese vermeintliche Begrenzung der deutschen Abschiebepraxis und enttarnt diese als politische Farce.

Während der Kundgebungen kamen endlich auch die afghanischen Geflüchteten selbst zu Wort. Sie beklagten die mangelnde Zugänglichkeit zu Rechtsbeistand, zu Bildung sowie zu menschenwürdigen Wohnmöglichkeiten. Einer der Sprecher erzählte von seinen Bekannten, die er am Hauptbahnhof in Frankfurt kennenlernte. Diese bekämen ihre Ablehnungsbescheide und würden dann, aufgrund von mangelndem Wissen um den deutschen bürokratischen Apparat und fehlender Zugänglichkeit zu Rechtsanwält*innen die knappen juristischen Fristen verpassen und deshalb keinen Einspruch gegen die Ablehnung ihres Asylantrags einlegen können. So wird ihnen selbst die kleinste Chance auf ein Bleiberecht praktisch unmöglich gemacht.

Dieser Zustand der Ungewissheit und des Wartens, die konstante rassistische Kriminalisierung von nicht-weißen Menschen in der Öffentlichkeit und die Belastungen von Flucht und Krieg wiegen schwer und führen letztlich zu einem langwierigen psychologischen Trauma, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Jeder Mensch, der schon einmal einen Test beim Arzt gemacht hat, auf dessen lebenswichtiges Ergebnis er warten musste, kann sich vielleicht ansatzweise vorstellen, wie sich das anfühlt. Beim Anstimmen eines afghanischen Liedes, welches den Zustand des Heimatlandes betrauert, ist dieser Schmerz deutlich zu spüren. Es zu übersetzen wäre müßig, es ändert ja doch nichts.

Nichtsdestotrotz waren Vertreter*innen mehrerer politischer Parteien in vermeintlicher Solidarität mit den afghanischen Geflüchteten vor Ort. Neben ein paar Abgeordneten und Mitarbeiter*innen der Linken-Fraktion, waren interessanterweise auch die Jungsozialist*innen und der hessische Landesverband der Grünen vertreten. Die Tatsache, dass ihre Parteien dabei nicht genug politischen Druck auf parlamentarischer Ebene aufbauen, um die Abschiebungen zu stoppen oder sich sogar teilweise der rechten Rhetorik zu bedienen, schien ihnen kein Widerspruch. Dass sie somit indirekt dafür verantwortlich sind, dass eine weitere erfolgreiche Deportation die traurige Bilanz des Abends war, störte sie scheinbar auch nicht. Politisches Handeln auf jeglicher Ebene ist jetzt bitter nötig. Performative Lippenbekenntnisse kann jeder.

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