Erzwingungsstreik bei MATA Automotive in Istanbul

27.03.2023, Lesezeit 6 Min.
1
Foto: Birleşik Metal-İş / Evrin Ziriyev

Seit mehreren Wochen sind 1.200 MATA-Arbeiter:innen im Erzwingungsstreik. Sie fordern bessere Arbeitssicherheit und mehr Lohn. Warum solche Streiks notwendig sind, um die sozialen Zustände in der Türkei wirklich verbessern zu können.

1.200 Arbeiter:innen von MATA Automotive streiken seit mittlerweile einem Monat. Sie wollen bessere Arbeitsbedingungen, vor allem Arbeitssicherheit und mehr Lohn. Anfangs haben sie während ihrer Schichten jeweils eine Stunde die Arbeit niedergelegt. Darauf reagierte der Betrieb mit der Schließung der Teestube und der Sanitäranlagen. Außerdem wurden 40 Sicherheitsbeamt:innen bzw. Polizist:innen eingestellt, die die Arbeiter:innen bei der Arbeit überwacht und damit unter Druck gesetzt haben. Die Arbeiter:innen haben zusammen mit der Gewerkschaft Birleşik Metal-İş (Vereinigte Metallarbeit) einen Erzwingungsstreik begonnen, nachdem die Geschäftsführung jegliche Verhandlungen mehrfach ablehnte. Seit ungefähr anderthalb Wochen sind alle Angestellten von MATA Automotive am Standort Tuzla täglich vor dem Betrieb und streiken den ganzen Tag. Heute, am 27. März, entschieden sich die Gewerkschaft und die Arbeiter:innen, eine Demonstration von Tuzla nach Ankara zu beginnen, nachdem 600 Streikende letzte Woche fristlos gekündigt worden waren. Sie werden derzeit von der türkischen Polizei gekesselt und am Protest gehindert.

Politische Lage der Türkei und die Rolle des Streiks

In der Türkei lag die Inflationsrate zuletzt im Februar bei über 57 Prozent. 1 Euro entspricht derzeit 20,48 Türkische Lira. Auch weiterhin gibt es wöchentliche Preiserhöhungen, vor allem bei Lebensmitteln. Die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie in der Türkei liegt bei 26.994 TL (1.319 Euro), was mehr als dem dreifachen Mindestlohn von 8.500 TL (415 Euro) entspricht. Allein die Hungergrenze, also die Kosten für eine ausreichende Ernährung, liegt bei 9.059 TL (442 Euro). Die Mieten schießen seit Oktober 2022 in die Höhe und liegen in Istanbul aktuell im Durchschnitt bei 12.416 TL.

Die aktuellen Proteste in der Türkei tragen auch die Probleme der wirtschaftlichen Krise auf die Straße. Bei den Demonstrationen am 8. März wurden neben feministischen Forderungen auch welche nach dem Rücktritt der Regierung gestellt. Ebenso wurde die geschlossene Solidarität zur kurdischen Bevölkerung in der Türkei bekundet, die neben den sozialen Problemen auch von der chauvinistischen Politik der AKP-Regierung betroffen ist. Gerade nach den Skandalen, die nach den beiden Erdbeben in der Osttürkei ans Tageslicht kamen, ist eine deutliche Mehrheit für den Rücktritt der AKP und des türkischen Präsidenten Erdoğan.

Gerade in dieser Situation ist dieser unbefristete Erzwingungsstreik ein vorangehendes Beispiel. Streiks und Proteste dürfen nicht durch Kompromisse der Regierung beschwichtigt werden. Es darf der Illusion, dass die Regierung im Interesse der Arbeiter:innen handelt, kein Platz gegeben werden. Im Kapitalismus haben Reformen nicht erheblich bessere Lebensumstände für alle als Ziel, denn im Kapitalismus kann die Arbeiter:innenklasse nie wirklich gerecht behandelt werden. Genau jetzt vor den Wahlen, in der auch linke Parteien wie die HDP (Demokratische Partei der Völker) und die TIP (Türkische Arbeiter:innenpartei) mit Wahlbündnissen zu einer Volksfront gegen die AKP-Regierung aufrufen, sind Streiks und Proteste das notwendige Mittel des Kampfes gegen ein kapitalistisches System, gegen eine bonapartistische Regierung und gegen eine leere Hoffnung der Veränderungen durch ein neues Parlament. Und trotz der Repression, die die Arbeiter:innen von MATA erfahren, lassen sie sich nicht unterkriegen. Ihr Kampf muss unser Kampf sein. Denn wenn die MATA-Angestellten diesen Kampf für sich gewinnen und ihre Forderungen durchsetzen, werden auch andere Menschen in der Türkei merken, dass sich das Kämpfen lohnt und dass keine Besserung ohne kämpferische Proteste kommen wird.

Was muss nun passieren?

Die Arbeitenden dürfen sich nicht auf Kompromisse einlassen. Ein Betrieb, der Polizist:innen als Aufsicht in die Schichten stellt, sollte sehen, was kämpferische Arbeiter:innen erreichen können, wenn sie solidarisch miteinander sind und die Arbeit komplett niederlegen. Gerade in der Türkei wäre dieser Erfolg ein hoffnungsvolles Beispiel für alle Arbeiter:innen im Land, um wirkliche Veränderungen erreichen zu können.

Gleichzeitig müssen endlich flächendeckend sichere Arbeitsbedingungen gewährleistet werden. In der Türkei kommt es stetig zu schweren Arbeitsunfällen, die alle auf vernachlässigte Sicherheitsvorkehrungen zurückzuführen sind. Auch die Erdbebenkatastrophe konnte nur deshalb so viele Tote zählen, weil die Sicherheitsvorkehrungen beim Hausbau ignoriert und korrupte Deals zwischen Bauunternehmen und Staat geschlossen wurden, bei denen Lizenzen gegen hohe Geldsummen erworben wurden, egal ob die gesetzlichen Sicherheitsmaßnahmen nun gewährleistet werden konnten oder nicht. Die Korruption zeigt sich auch nicht nur beim Hausbau, sondern zieht sich durch alle Arbeitssektoren, beispielsweise auf den Teeplantagen, bei denen in den letzten zehn Jahren 16 Menschen von ungesicherten Platten in den Tod stürzten. Ebenso kam es 2014 und 2022 in zwei verschiedenen Kohleminen zu Explosionen, bei denen insgesamt 350 Menschen gestorben sind. Die Korruption in der Türkei macht damit nicht nur die Reichen reicher, sondern ist auch maßgeblich am Tod von Zehntausenden schuld.

Damit einher geht auch die Forderung der Enteignung von Großunternehmen – egal ob Bau- oder Metallindustrie, Energiekonzerne und Banken. Die Sicherheit der Zivilbevölkerung darf nicht weiter in den Händen von korrupten Politiker:innen und Bossen liegen, die für ihre kapitalistische Agenda, ohne mit der Wimper zu zucken, über Leichen gehen.

Gerade im Hinblick auf die Inflation und aktuelle Armutsgrenze müssen die Löhne drastisch steigen. Auch dies geht mit der Enteignung einher, um selbstorganisiert arbeiten und erwirtschaftetes Geld gleichmäßig unter den Arbeiter:innen aufteilen zu können.

Nicht zuletzt muss die Arbeiter:innenklasse die Illusion an ein schönes Leben in einer neuen Regierung ablegen. Denn weder eine parlamentarische Regierung mit Kılıçdaroğlu als Präsidenten, noch eine andere Wahlfront, werden die kapitalistischen Umstände drastisch verändern, um wirkliche Veränderungen mit sich zu bringen. Doch selbst in der Annahme, dass sie das alltägliche Leben von Arbeiter:innen und Marginalisierten deutlich verbessern könnte, sollte unser Ziel niemals ein angenehmes Leben im Kapitalismus für einige wenige sein, sondern ein schönes Leben im Sozialismus für alle. Es gibt auch in der Türkei keine parlamentarische Partei, die das kapitalistische System abschaffen möchte, sondern sie alle wollen ein Teil von ihr sein und das System somit aufrechterhalten. Doch dieses System ist und bleibt Ursprung der prekären Arbeits- und Lebensumstände weltweit. Wir müssen internationalistisch denken, außerhalb von gesetzlich festgelegten Grenzen. Wir müssen für ein besseres Leben für alle kämpfen!

„Die strategische Aufgabe der Vierten Internationalen besteht nicht in der Reformierung, sondern im Sturz des Kapitalismus.“ – Leo Trotzki

Mehr zum Thema