Erklärung der FT-CI: Brasilien als schwaches Glied der internationalen Krise
Wir veröffentlichen den ersten Teil einer Erklärung der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale über die aktuelle Situation in Brasilien. Morgen veröffentlichen wir an dieser Stelle Teil 2 der Erklärung.
Die damalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff und ihre Partei, die PT, wurden durch eine breite Front aus Justiz, Oppositionsparteien, Sektoren ihrer eigenen Basis, die zum Putsch-Lager übertraten, und den großen Medien des Landes gestürzt. Es war ein institutioneller Putsch, der die Korruptionsskandale der PT um den Erdölkonzern Petrobras nutzte, um damit die anderen Parteien zu schützen, obwohl diese immer schon an derselben „Party“ beteiligt waren. Daraufhin wurde der als neuer Präsident Michel Temer eingesetzt. Nach einem Jahr Temer-Regierung nutzt nun eine Fraktion des Putsch-Lagers, angeführt von der Justiz, die aufkommenden Korruptionsanzeigen im Fall JBS-Fribol, um gegen die früheren Verbündeten einen Putsch innerhalb des Putsches durchzuführen.
Das neue Manöver eines Flügels der Putschist*innen eröffnet eine Krise, die nur schwer gelöst werden kann. Sie haben die Weiterführung der Temer-Regierung untragbar gemacht, ohne dass eine Alternative entstanden wäre. Dadurch entsteht praktisch ein Machtvakuum. Die Kombination aus der abenteuerlichen Anti-Korruptions-Operation „Lava Jato“ [die Reaktion auf den Petrobras-Skandal, A.d.Ü.], Temers Weigerung zurückzutreten, der Stärkung der extremen Rechten, der Offensive der reaktionären Kürzungs- und Reformpolitik, sowie der anhaltenden Massenbewegung gegen diese Angriffe und der beginnenden Politisierung der Streitkräfte sorgen für eine vorrevolutionäre Konjunktur, in der die Monate in Tagen und die Tage in Stunden gezählt werden.
Diese Konjunktur könnte zu einer neuen Regierung führen, die auf „indirektem“ Wege durch den Kongress gewählt wird, um dann mit den Reformen voranzuschreiten und gleichzeitig die politische und soziale Polarisierung zu bremsen. So könnte sie versuchen die vorrevolutionären Elemente zurückzudrängen, die heute am dynamischsten erscheinen. Im Gegenteil könnte sich die Konjunktur auch zur Vertiefung der Tendenzen zu Revolution und Konterrevolution weiterentwickeln, indem sie eine neue Situation des Klassenkampfes im Land eröffnet.
Im Folgenden wollen wir eine strukturelle Analyse der Situation und der Politik entwickeln, mit deren Hilfe Revolutionär*innen auf diese Situation antworten müssen.
1) Der „Putsch innerhalb des Putsches“ versucht, die soziale Polarisierung zu vermeiden, während er gleichzeitig strategisch ein neues, offener pro-imperialistisches Herrschaftsregime durchsetzen will.
Während des Wirtschaftswachstums der Lula-Regierung – als die Zeitschrift The Economist das Bild der Christus-Statue von Rio de Janeiro als Rakete stilisierte, die in Richtung des Himmels abhob – erlangte eine lange Liste „translateinamerikanischer“ Firmen, sogenannte „global player“, internationale Ausstrahlung. Es entwickelten sich große Konzerne, deren Mehrheitsanteile in den Händen des brasilianischen Kapitals blieben, trotz der Beziehung zu internationalen Kapitalen, und die auf Augenhöhe mit imperialistischen Konzernen auf dem Weltmarkt konkurrierten. Der Akteur des aktuellen Skandals, der den Präsidenten Temer betrifft, JBS-Fribol, hatte sich in den wichtigsten Fleischproduzenten der Welt verwandelt, nachdem er die Swift Foods Company gekauft hatte. Der Konzern Vale do Rio Doce wurde zum zweitgrößten Minenkonzern der Welt, nachdem er die kanadische INCO und die australische AMCI Holdings erworben hatte. Embraer wurde zum viertwichtigsten Flugzeughersteller. Petrobras wurde nach der Entdeckung riesiger Ölvorkommen unterhalb dicker Salzschichten zum sechstgrößten Ölproduzenten weltweit. Die Liste der zwanzig wichtigsten multinationalen brasilianischen Konzerne ist noch länger: Odebrecht, Camargo Correia, Gerdau, Votorantim, Aracruz, Weg, Marcopolo, Andrade Gutierrez, Tigre, Usiminas, Natura, Itautec, ALL, Ultrapar, Sabó und Lupatech. Im Jahr 2007 betrug der Umsatz dieser „ausgewählten“ Gruppe 30 Milliarden US-Dollar im Ausland, sie hielten 56 Milliarden US-Dollar in Aktienanteilen auf der gesamten Welt verteilt, und beschäftigten 77.000 Arbeiter*innen außerhalb des Landes.
Die Besitzer*innen oder Manager*innen von einigen dieser Firmen sitzen heute durch die „Lava Jato“ genannte „Anti-Korruptions“-Operation im Gefängnis. Parallel zu dieser Operation gab es in den letzten Jahren immer größere Proteste von Fraktionen des imperialistischen Kapitals, die sich gegen die Privilegien wandten, die das brasilianische Kapital bei den Petrobras-Erkundungen genoss. Interessanterweise wurde bei „Lava Jato“ niemals nachgeforscht, inwiefern die imperialistischen Konzerne in die Korruptionsskandale verwickelt waren. Von den vier Bereichen, in die der halbstaatliche Gigant Petrobras aufgeteilt ist, wurde gerade derjenige mit dem größten Umsatz – in dem auch am meisten ausländisches Kapital vertreten ist – nie untersucht.
Die strategische Funktion der „Lava Jato“-Operation ist es, den Weg für die imperialistischen Monopole zu öffnen und sich gegen ihre „translateinamerikanische“ Konkurrenz hinwegzusetzen, indem die Beziehung zwischen dem brasilianischen Staat und den Privatunternehmen neu gestaltet wird. Gleichzeitig soll ein neues politisches Regime mit ausreichender Legitimität geschaffen werden, um strukturelle Reformen durchzuführen, die eine größere Menge des Vermögens von der arbeitenden Bevölkerung in Richtung des Kapitals überträgt.
Die Demonstrationen von Juni 2013 zeigten der Bourgeoisie, dass die PT nicht mehr ihre historische Vermittlungsfähigkeit besaß. Dilma wurde abgesetzt, weil sie von der illegalen Finanzierung der brasilianischen „Global Players“ abhing, um ihre Wähler*innenstruktur zu erhalten und Regierbarkeit herzustellen. Gleichzeitig war der Druck ihrer Basis in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ein Widerspruch dafür, mit den Kürzungen und Reformen – die Dilma selbst 2015 durchzusetzen begann – so stark voranzuschreiten, wie es die Tiefe der Wirtschaftskrise erforderte.
Die Regierung Temers mit der PMDB (eine der drei großen politischen Parteien, die aus Oligarchen und Regionalfürsten besteht und auf staatlichem Klientelismus beruht), der PSDB (des ehemaligen neoliberalen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso), und der DEM (Erbin der Militärdiktatur), behält grundsätzlich dieselben Abhängigkeiten bei, die die PT von den Geldströmen der „Global Players“ hatte – obwohl sie eine rechtere soziale Basis hat und eine stärkere Unterordnung unter den Imperialismus vertritt. Gleichzeitig hat die Regierung bisher nicht die nötige Stärke gezeigt, um die Maßnahmen durchzusetzen, die am meisten von der Bevölkerung abgelehnt werden, ohne dabei größere Krisen zu eröffnen.
Um die Auslandsinvestitionen zu erneuern und die öffentlichen Kassen zu füllen, aus denen sich die Kapitalist*innen bedienen, hat Temer versucht, eine drakonische Haushaltskürzung durchzuführen. Sie sollte die grundlegendste öffentliche Daseinsvorsorge streichen, sowie noch reaktionärere neoliberale Reformen durchzusetzen, wie es sie so nur in den 90er Jahren gab. Im Rahmen einer Wirtschaftskrise, die schon zum Fall des BIP um 8 Prozent und zu einem schnellen und massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit auf mehr als 15 Millionen Arbeitslose (15 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung) geführt hat, hat die Politik der Putschregierung zu einer wachsenden politischen und sozialen Polarisierung geführt.
Einerseits hat sich eine extreme Rechte gestärkt, die vom Kongressabgeordneten Jan Bolsonaro angeführt wird, der aktuell 16 Prozent in den Umfragen erreicht. Bolsonaro hat vielfältige Beziehungen zur Polizei und den Streitkräften. Es handelt sich um eine faschisierende Rechte, die offen die Militärdiktatur verteidigt. Andererseits haben sich die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gestärkt, die sich gegen den Putsch gestellt hatten und sich jetzt den neoliberalen Reformen in den Weg stellen. Das wird politisch von Lula kapitalisiert, der in Umfragen auf mehr als 30 Prozent kommt – Tendenz steigend.
Die Demonstration in Brasilia im vergangenen November gegen das Gesetz, das den öffentlichen Haushalt begrenzte, die landesweiten Streiks am 15. März und am 28. April (die stärkste und bedeutendste Aktion bisher) und die Demonstration am 24. Mai, die Brasilia in einen Kriegsschauplatz verwandelte, drücken die Kontinuität einer Massenbewegung aus, die den neoliberalen Reformen widersteht, welche im Kongress durchgesetzt werden sollen. Diese Bewegung wird angefeuert durch den wachsenden Unmut der Massen über die Arbeitslosigkeit und den Kaufkraftverfall der Löhne. Besonders gegen die Rentenreform, die in Brasilien als „Mutter aller Reformen“ angesehen wird, sind die Arbeiter*innenklasse und die Gewerkschaften mit ihren eigenen Kampfmethoden auf die politische Bühne getreten, wie wir es seit den 80er Jahren nicht mehr gesehen hatten. Die Reform ist so unpopulär, dass sie selbst in der sozialen Basis des Putsches Unmut schafft, was für eine große Massensympathie für die Streiks sorgte.
Der Putsch innerhalb des Putsches, für den der Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot federführend verantwortlich ist, hat zum Ziel, die Eskalation der politischen und sozialen Polarisierung zu verhindern, um auf friedliche Weise ein weiter rechts stehendes Kräfteverhältnis durchzusetzen und ein neues kapitalistisches Akkumulationsmodell zu schaffen, welches dem Imperialismus stärker untergeordnet ist. Das erklärt, warum eine nicht gewählte Regierung, die gewillt ist, die härtesten Angriffe durchzuführen, gerade in dem Moment von einer „Verschwörung“ innerhalb der „Justizpartei“ [Begriff für eine politische Koalition unter Führung der Justiz, A.d.Ü.] – die sie an die Macht gebracht hat und weiterhin fast wie ein kleiner „Staat im Staat“ agiert – angegriffen wird, in dem sie sich zu schwach für die Durchsetzung dieser Angriffe beweist. Auch wenn die Verschwörung nicht unmittelbar erfolgreich war, hat sie einen gefährlichen Sprung in der „Krise von oben“ provoziert.
2) Der x-te gescheiterte Versuch, eine „nationale Bourgeoisie“ mit größerer Eigenständigkeit zu schaffen
Nach dem berühmten „Wunder“ des brasilianischen Wirtschaftswachstums in den 70er Jahren mit Zahlen wie in China, etablierte sich seit dem sogenannten „verlorenen Jahrzehnt“ der 80er Jahre eine tiefgründige Schwäche der kapitalistischen Akkumulation in Brasilien. Damals explodierten die Staatsschulden, verbunden mit einer Hyperinflation. Diese Schwäche zeigte sich in einer relativen Deindustrialisierung und dem Fall der Produktivität der Wirtschaft. Zwischenzeitlich wurde sie durch Nischen der spezialisierten Produktion kompensiert, die sich aus der Verbindung zwischen den staatlich geförderten „Global Players“ und den natürlichen Rohstoffen des Landes ergaben. So reihte sich Brasilien untergeordnet in den Weltmarkt als Quelle für Rohstoffe und Niedrigtechnologie-Produkte ein, angespornt durch den chinesischen Boom. Diese Spezialisierung sorgte für eine Verschiebung zurück zur Rohstoffproduktion in der brasilianischen Wirtschaft. In Kombination mit den prekären Arbeitsbedingungen bot das die Grundlage dafür, dass der letzte Wachstumszyklus den Arbeitsmarkt ausdehnte und die extreme Armut relativ senkte. Widersprüchlicherweise sorgte das aber auch dafür, dass die Wirtschaft geschwächt wurde für schwierigere internationale Krisen wie die aktuelle.
Durch die geographische und wirtschaftliche Größe und die große Bevölkerungszahl Brasiliens konnte der Neoliberalismus der 90er Jahre, den Fernando Henrique Cardoso umsetzte, trotz der relativen Deindustrialisierung eine aktive staatliche Politik fördern, die den Grundstein für die Entwicklung der „nationalen Schwergewichte“ legte. Mittels der öffentlichen Banken, sowie mit gewährten Vorteilen in den Privatisierungsprozessen und unterstützenden Dienstleitungen für Unternehmen, die staatlich blieben, ermöglichtes es der Staat, dass Sektoren des nationalen Kapitals die Mehrheitskontrolle der großen Monopole behielten, auch wenn sie mit dem ausländischen Kapital verbunden waren; andere Sektoren wurden währenddessen vollständig an das imperialistische Kapital verkauft (wie zum Beispiel Teile des Kommunikationssektors).
Die Arbeiter*innenpartei PT, die als politischer Ausdruck der großen Streikwelle gegen die Diktatur Ende der 70er und während der 80er Jahre entstand, bildete sich als „linkes Feigenblatt“ des bürgerlich-demokratischen Regimes, anstatt den Kampf für den Sturz der Diktatur aufzunehmen und den neoliberalen Reformen mit den Methoden des Klassenkampfes entgegenzutreten. Sie nutzte ihr Gewicht in der Arbeiter*innenklasse, um als Vermittlerin eines Neoliberalismus mit sozialerem Antlitz aufzutreten.
Die Lula-Regierung stützte sich auf den außergewöhnlichen weltweiten Wachstumszyklus, der mit der US-Immobilienblase zusammenhing, und auf den Rohstoffboom, der mit dem chinesischen Wachstum verbunden war. Dadurch konnte sie – gemeinsam mit der neoliberalen Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung PMDB und auf der Grundlage dessen, was die sozialdemokratische PSDB geschaffen hatte – ein Wirtschaftsmodell fördern, welches sich auf die brasilianischen „Global Players“, die Ausdehnung der prekären Arbeit, den Konsum mittels billiger Kredite sowie den staatlichen Klientelismus stützte. So wurde eine Synergie zwischen dem exportorientierten Wachstum und der Dynamisierung des Binnenmarktes geschaffen.
Unter dem Wirtschaftsboom der Lula-Ära wurde die einsame Hegemonie des Finanzkapitals der 90er Jahre langsam mit aufsteigenden Sektoren der Industrie, des Dienstleistungssektors, des Bergbaus und der Landwirtschaft geteilt – jeweils unterstützt von öffentlichen Banken und staatlichen Firmen. Millionen Menschen, die arbeitslos waren und in absolutem Elend lebten, erlangten ein gewisses Niveau des Konsums. In diesem Rahmen entwickelte Brasilien auch Ambitionen für einen gewissen Handlungsspielraum auf internationalem Parkett als Teil der BRICS-Staaten. Dazu nutzte die Regierung einen Moment, in dem die USA sich auf die Probleme im Nahen Osten konzentrierte. Diese Hoffnungen gelangten an ihren Höhepunkt, als man eine „Achse“ mit der Türkei und dem Iran aufbauen wollte, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats werden wollte und gemeinsam mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Union Südamerikanischer Staaten UNASUR aufbauen wollte. Brasilien wollte sich als notwendiger „Stabilisator“ für die USA positionieren, um die „linkeren Populisten“ wie die Chávez-Regierung und andere in der Region zu mäßigen.
Auf dieser Grundlage ergibt sich das Paradox, dass Monopolsektoren der brasilianischen Bourgeoisie einen gewissen Grad relativer „Autonomie“ entwickeln, um bessere Bedingungen gegenüber dem ausländischen Kapital auszuhandeln, während Brasilien gleichzeitig die größte Durchdringung mit ausländischen Kapitalen in seiner gesamten Geschichte erlebte. Einerseits wurde unter Lula ein Gesetz eingeführt, welches das einheimische Kapital in der Ausbeutung von Ölvorkommnissen bevorzugte (eines der ersten Gesetze, das Temer rückgängig machte). Eine Maßnahme des „Schutzes nationaler Interessen“, die aber zur gleichen Zeit stattfand, in der das akkumulierte Volumen des imperialistischen Kapitals, das in das Land strömte, von 168 Milliarden US-Dollar zwischen 1990 und 1999 auf 242,5 Milliarden US-Dollar zwischen 2000 und 2009 anstieg; 45 Prozent mehr als zuvor. Dieses Paradox erklärt, warum trotz des Fortschritts an imperialistischer Kapitaldurchdringung der Anteil der Firmen unter ausländischer Kontrolle unter den 500 größten Firmen des Landes von 44,7 Prozent im Jahr 1999 auf 41,5 Prozent im Jahr 2009 fiel.
Aber dieses ganze Kartenhaus fing an zu bröckeln, als die größte Weltwirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg immer größere Kreise zog. Die massiven Demonstrationen von Juni 2013 drückten den Zusammenstoß zwischen den wachsenden Hoffnungen, die durch den Zyklus des Wirtschaftswachstums der Vorjahre genährt worden waren, und den Grenzen eines Landes aus, das aufgrund seiner Abhängigkeit vom internationalen Finanzkapital keine seiner strukturellen Widersprüche überwinden konnte. Dazu gehören der schlechte Zustand der Gesundheitsversorgung, des Transportsektors und der Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig bleibt es von der großflächigen Korruption abhängt, um Regierbarkeit zu schaffen.
Der Überfluss an Kredit verwandelt sich in Überfluss an Schulden, die Versprechen gradueller und langfristiger Verbesserung der Lebensbedingungen machen Kürzungen und reaktionären Reformen Platz. Das strukturelle Außenhandelsdefizit, das im vorherigen Jahrzehnt durch den Rohstoffboom und die Exporte nach China überdeckt worden war, wird wieder spürbar. Die prekäre Arbeit macht immer mehr der Arbeitslosigkeit Platz. Die Repräsentierten identifizieren sich nicht mehr mit den Repräsentant*innen. Die Ansprüche als „Regionalmacht“, die Brasilien eine Zeit lang vor sich her trug, fallen in sich zusammen. Die Mittelschichten drücken ihren Unmut mehr oder weniger aktiv aus und sind ein Nährboden für eine große „organische Krise“ (Konzept von Gramsci, das auch als „Krise der Hegemonie“ verstanden werden kann), in der die herrschenden Klassen an der „großen Unternehmung“ scheitern, die sie nach der Militärdiktatur und der neoliberalen Offensive vorhatten (und die es ihnen ermöglicht hatte, einen sozialen „Konsens“ zu kreieren), ohne dass bisher ein neues Projekt entstanden ist, das sie ersetzen könnte.
Sektoren des imperialistischen Kapitals und der brasilianischen „Global Players“, die schon internationalisiert und weniger abhängig vom Staat sind, bringen sich in Position, um ein neues Akkumulationsmodell anzuführen, das dem internationalen Finanzkapital untergeordneter ist und sich im Rahmen eines neuen Verteilungsschemas der öffentlichen Kassen bewegt. Nichtsdestotrotz sind die Perspektive der Kontinuität der Weltwirtschaftskrise und die Unsicherheiten in Bezug auf die neue Regierung Trump in den USA ein großes Hindernis dafür, dass ein neuer Zyklus von Wachstum, Kredit und Investitionen am Horizont erscheint, der fähig wäre, Schichten der nicht-monopolistischen Bourgeoisie (diejenigen, die die Mehrheit der Bevölkerung beschäftigen), der Mittelschichten und arme Sektoren zu hegemonisieren. Ohne einen solchen Zyklus ist aber nur schwerlich eine stabile Regierbarkeit zu erreichen.
So wird angesichts der geringen Produktivität der „nationalen Industrie“ und der schwachen Akkumulation des Binnenkapitals die strukturelle Abhängigkeit der sogenannten „nationalen Bourgeoisie“ vom imperialistischen Kapital wieder wichtiger.
Diese Erklärung erschien zuerst am 30. Mai auf Spanisch und auf Portugiesisch, sowie am 2. Juni auf Französisch.