Erdogans Feldzug gegen Rojava
Am 24. August marschierte die türkische Armee in die Stadt Jarablus an der syrisch-türkischen Grenze ein. Ihr Vorstoß war nur scheinbar gegen den Islamischen Staat (IS) gerichtet. In Wirklichkeit war es der Auftakt zu einer Offensive der Türkei gegen die selbstverwaltete kurdische Region Rojava.
Einen Ort vom IS zu befreien, ist meist eine blutige Angelegenheit: Die IS-Kommandeure sind nicht nur bereit, ihre Milizen in den sicheren Tod zu schicken. Bei ihrem Rückzug hinterlassen sie der Bevölkerung zum Abschied noch Sprengfallen. So auch in Manbij, wo einst 75.000 Menschen lebten. Nach dreimonatiger Belagerung wurde die Stadt vor zwei Wochen durch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und ihrer Koalition der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) befreit. Die Bevölkerung feierte, Frauen verbrannten ihre schwarze Verschleierung und rauchten auf der Straße. Ganz anders die Bilder von der Ankunft der türkischen Armee in Jarablus. Der IS übergab die Stadt ohne größere Gefechte. Die türkischen Panzer rollten durch weitgehend leere Straßen. Seit 2013 wurde Jarablus vom IS kontrolliert. Bisher war das der Türkei aber herzlich egal. Erst nach der Eroberung des 40 Kilometer südlich gelegenen Manbij durch die YPG beschloss der türkische Staat zu intervenieren.
Die Ziele der türkischen Intervention
Nach der Eroberung von Manbij durch YPG und SDF verstärkten sich in Ankara die Sorgen vor einem zusammenhängenden kurdischen Territorium in Nordsyrien. Die Türkei fordert YPG und SDF auf, sich aus Manbij nach Osten über den Euphrat zurückzuziehen. Dies will sie mit ihrer Militäraktion unter dem Namen „Schutzschild Euphrat“ durchsetzen. 450 türkische Soldat*innen beteiligten sich am ersten Tag der Offensive, zusammen mit mindestens 1.500 Kämpfer*innen aus überwiegend jihadistischen Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA).
Bei ihrem Vorstoß haben die türkischen Kräfte durch Artillerie- und Luftschläge dutzende Menschen getötet. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach von mindestens 40 toten Zivilist*innen, kurdische Vertreter*innen von 75 Toten. Die YPG hat sich bereits nach eigenen Angaben aus Manbij zurückgezogen und die Kontrolle über die Stadt einem lokalen, selbstverwalteten Militärrat der SDF übergeben. Dennoch rückt die Türkei von Norden weiter auf die Stadt zu, während Manbij gleichzeitig wieder aus südlicher Richtung vom IS bedroht wird.
Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen den türkischen Präsidenten Erdogan, versucht dieser in der Innenpolitik durch die Verhängung des Ausnahmezustandes und die Säuberungswelle seine Macht zu stabilisieren. Außenpolitisch will er mit seiner militärischen Intervention in Nordsyrien die Isolation durchbrechen und in eine aktive Rolle kommen. Viele Tausend Offiziere und einfache Soldat*innen hat Erdogan in der Säuberungswelle verhaften lassen, ebenso wie fast die Hälfte seiner Generäle, die eher für eine NATO-orientierte Politik standen und sich gegen eine militärische Intervention in Syrien positionierten.
Zu Beginn des Bürger*innenkrieges in Syrien hatte sich Erdogan noch hochgesteckte Ziele gesetzt. Der Sturz Assads sollte es der Türkei ermöglichen, den Einfluss in Syrien deutlich auszuweiten und so zu einer bedeuteten Regionalmacht aufzusteigen. Dafür unterstützte er die jihadistischen Milizen der FSA. Doch diese Politik ist krachend gescheitert. Assad konnte sich mit russischer Hilfe halten, trotz Zerstückelung des Landes. Das Chaos in Syrien kommt wie ein Bumerang zurück in die Türkei. Um aus der Sackgasse herauszukommen, hat Erdogan einen radikalen Kurswechsel beschlossen. Mit einer Normalisierung des Verhältnisses zu Russland erlangt er eine Handlungsfähigkeit in Bezug auf Syrien zurück, mit der er nun in erster Linie Schadensbegrenzung betreiben will. Denn ein zusammenhängendes kurdisches Territorium an seiner Südgrenze wäre eine Katastrophe für ihn.
Der türkische Verteidigungsminister Fikri Işık sagte offen, die oberste politische und strategische Priorität bestehe darin, den Traum der syrischen Kurd*innen zu verhindern, „ihre östlichen und westlichen Kantone miteinander zu verbinden.“ Dies würde es der PYD, dem politischen Arm der YPG, erlauben, in den internationalen Verhandlungen eine bedeutende Position einzunehmen und könnte auch die Autonomiebestrebungen im türkischen Teil Kurdistans weiter anfachen. Ein zusammenhängendes Gebiet in Rojava würde der Türkei zudem geografisch von Interventionsmöglichkeiten in Syrien abschneiden.
Die Aggression nach Außen drückt sich auch nach Innen aus: Ministerpräsident Binali Yilidirim sprach davon, man werde jetzt einen „totalen Krieg“ gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK im Südosten der Türkei führen. Eine ähnlich brachiale Rhetorik stimmte Erdogan an, der alle „Terroristen“, ob nun IS, PKK, YPG oder die religiöse Gülen-Bewegung, „wie ein Krebsgeschwür“ beseitigen will.
Offiziell sind das Assad-Regime und Russland über Erdogans Offensive nicht erfreut. Das syrische Außenministerium forderte die Türkei auf, die „Unabhängigkeit und Integrität“ des syrischen Staates zu achten. Doch Machthaber Assad und sein wichtigster Verbündeter Putin nehmen die türkische Offensive durchaus in Kauf, um den Vorstoß der mit den USA verbündeten YPG zu bremsen. Erst in der Woche zuvor hatten sich Truppen des syrischen Regimes Kämpfe im kurdischen Hasake geliefert.
Die Heuchelei des Imperialismus und die Lehren für die kurdische Bewegung
Die Bundesregierung erklärte zum Beginn der Intervention ihre Unterstützung: „Ankara handelt“, betonte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, „im Einklang mit den Zielen und Absichten der internationalen Koalition gegen den IS“ und fügte hinzu, dass „die Sorgen des Landes wegen der syrisch-kurdischen Gruppierungen in der Region ebenfalls anerkannt werden müssen.“
Deutschland hat eine enge militärische Kooperation mit der Türkei. Die türkische Armee besitzt über 750 Kampfpanzer aus Beständen der Bundeswehr. Zudem beteiligt sich letztere an der „Operation Inherent Resolve“, der internationalen Allianz gegen den IS. Dafür sind Tornado-Aufklärungsflugzeuge, Tankflugzeuge und ein Kommandostab am NATO-Luftwaffenstützpunkt Incirlik in der Südtürkei stationiert.
Am Tag des Beginns der türkischen Offensive war US-Vizepräsident Joe Biden zu Besuch in Ankara. Dem Vorstoß auf Jarablus stimmten die USA zwar zu, lehnten aber die Kämpfe zwischen Türkei und YPG als „inakzeptabel“ ab. Vorrang habe der gemeinsame Kampf gegen den IS. Diese Botschaft entlarvt in aller Deutlichkeit die Heuchelei des US-Imperialismus: Er will die YPG nur auf den Kampf gegen den IS beschränken, um sie daran zu hindern, eine für die USA unkontrollierbare Kraft zu werden. Denn auch wenn sich die PYD über die militärische Ebene hinaus eine politische Kollaboration wünscht, kann Washington die Sorgen eines ihrer wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten, der Türkei, nicht ignorieren. Deshalb appellieren die USA an die YPG, sich nach Osten über den Euphrat zurückzuziehen. Zudem lehnt sie heute die Ansätze zur Konstituierung einer kurdischen Föderation durch Vereinheitlichung der Kantone in Rojava ab.
In diesem Sinne wurde unsere These erneut bestätigt, dass die Kollaboration mit den Imperialismen nicht als taktisches Mittel zur Befreiung Rojavas dient, sondern ein Hindernis dafür darstellt. Nähert sich Rojava dem Imperialismus weiter an, werden die Selbstverwaltungsstrukturen von Grund auf zerstört und die nationale Unterdrückung bleibt bestehen. Die autoritäre Barzani-Verwaltung im irakischen Kurdistan zeigt, wie eine pro-imperialistische Ausrichtung die demokratischen Errungenschaften zunichte machen kann. Der kurdische Widerstand braucht weiterhin Waffen, um zu kämpfen. Doch für die Befreiung braucht er vor allem ein Programm, das sich zum Ziel setzt, den Imperialismus und seine Verbündeten aus der Region zu vertreiben, die existierenden fortschrittlichen Ansätze in Rojava unter die Kontrolle des Proletariats und der Bauern*Bäuerinnen zu stellen und das Privateigentum an Produktionsmitteln zu verstaatlichen. Nur mit einem solchen sozialen Programm können die Massen in Syrien, der Türkei und dem Nahen Osten gegen ihre Regime und den Imperialismus aktiviert werden.
Das Gebot der Stunde ist es, gemeinsam mit Gewerkschaften und linken Kräften für die Verteidigung demokratischer Rechte, die Abschaffung des Ausnahmezustands in der Türkei und gegen Erdogans Kriegstreiberei in Syrien zu mobilisieren.