Erdoğan gewinnt, Rechte feiern, Scholz klatscht

29.05.2023, Lesezeit 6 Min.
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Foto: United Nations Alliance of Civilizations (UNAOC) Rio Forum

Erdoğan hat einen Pyrrhussieg errungen. Er hat mit einer knappen Mehrheit gewonnen, die politische Spaltung ist nach wie vor groß und tief. Die wirtschaftliche Krise ist noch Lebensrealität. Trotzdem wollen die türkische Bourgeoisie und die Mehrheit einen Bonaparte an der Staatsspitze, weil sie noch Chancen sehen, in der Region die eigene Macht auszubauen, weil die Nachbarländer immer noch sehr instabil sind.

Erdoğan gewinnt mit über 52 Prozent die Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Zwar gewinnt Kılıçdaroğlu jeweils in Istanbul und in Ankara mit über 51 Prozent, doch das ändert nichts am Gesamtergebnis. Erdoğan gewinnt ausnahmslos in allen Städten in der Nordtürkei mit über 60 Prozent in jeder Stadt, in Bayburt sogar mit über 82 Prozent. Ebenso konnte Erdoğan auch in der Zentraltürkei in fast allen Städten gewinnen, außer in Eskişehir und in Ankara. Dafür konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit der Küstenstädte von Çanakkale bis Adana für sich behaupten. In den kurdischen Städten konnten beide verschiedene Teile für sich gewinnen. Während Erdoğan in der kurdischen Region wieder die zentraleren und südlichen Städte wie Kahramanmaraş, Şanlıurfa und Elazığ für sich entscheiden konnte, behauptete sich Kılıçdaroğlu in den östlichen Städten und Dersim (Tunceli) mit deutlicher Mehrheit in fast jeder Stadt.

Die Linke ist mit ihrer Unterordnung unter Kılıçdaroğlu gescheitert

Erdoğan wird also weiterhin regieren und die politische Situation in der Türkei bleibt weiterhin sehr gespalten. Die Polizeidiktatur und die Vetternwirtschaft werden beibehalten, ebenso die Militärpolitik gegen die kurdische Bevölkerung. Linke Oppositionsparteien wie HDP und TİP haben währenddessen bedingungslos für eine Wahlunterstützung Kılıçdaroğlus geworben, während die rechtesten Parteien Bedingungen, beispielsweise die Abschiebung von Millionen Geflüchteten, an beide Kandidaten aufgestellt und entsprechende Versprechen dafür bekommen haben. Dieses Wahlergebnis ist eine Pleite für die linke Opposition, aber auch ein Ausdruck ihrer kläglichen Volksfrontpolitik. Diese Strategie war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Die türkische Bourgeoisie freut sich mehrheitlich über das Ergebnis, da sie mit Erdoğan und seiner bonapartistischen Politik noch Chancen sehen, ihre außenpolitische und militärische Macht in der Mittelmeerregion auszubauen. Nachbarländer wie Syrien sind immer noch sehr instabil aufgrund von Kriegen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen. Das Wahlbündnis der AKP stellt immer noch die Mehrheit im Parlament, die auch mit einem Sieg Kılıçdaroğlus weiterhin viele institutionelle Bereich der Politik einnehmen würde, wenn Kılıçdaroğlu nicht wie Erdoğan eine bonapartistische Politik vorangetrieben hätte. Das heißt, damit die tief verwurzelten AKP-Mitglieder in den Behörden und Institutionen weniger bis keine Entscheidungsgewalt mehr haben, müsste Kılıçdaroğlu – wie bereits Erdoğan auch – sich über parlamentarische Beschlüsse und Entscheidungen hinwegsetzen und alleinherrschaftlich entscheiden. Auch er hätte den Konzernen Profite durch Waffenhandel, Krieg und Ausbeutung verschafft. Und dadurch, dass das Wahlbündnis der CHP weniger Stimmen erreichte als die der AKP, hätte sich sowieso nicht viel geändert. Der einzige Unterschied ist nun die weitere Schwächung der türkischen und kurdischen Linken und eine womöglich härtere Repression gegen linke Strukturen.

Beide Kandidaten versprachen rechten Kurs

Die Wahlkampagnen wurden in den letzten zwei Wochen seit der ersten Runde deutlich chauvinistischer und rassistischer. Die Stimmen von Sinan Oğan, dem dritten Kandidaten aus der ersten Runde, verteilten sich womöglich deshalb gleichmäßig unter beiden Kandidaten. Die Wähler:innenschaft Oğans hat sich wohl nur noch zwischen den Versprechungen der Abschiebungen entschieden, wer nun am Ende mehr und am ehesten abschieben würde. Denn dies wurde von beiden Kandidaten versprochen. Die Abschiebung von Millionen Geflüchteten wurde bei beiden in den Vordergrund gerückt. Ebenso war die Zerschlagung und Repression der kurdischen Bewegung auch eines der vorausgesetzten Bedingungen der ultranationalistischen Kräfte, die dafür ihre Unterstützung für die zweite Runde versicherte.

Am Sonntagabend fanden in Istanbul etliche Autokorsos, Versammlungen und Feierlichkeiten in Stadtteilen wie Üsküdar statt. Vereinzelte Kleingruppen und Autokorsos streiften auch provokativ durch den linken Stadtteil Kadıköy. Vor dem HDP-Büro positionierte sich die Polizei, es kam jedoch bisher zu keinen Auseinandersetzungen. Auch in Deutschland fanden in fast allen Großstädten Autokorsos und Versammlungen zur Feier des Wahlergebnisses statt. Was auch nicht verwundert: 65 Prozent aller Stimmen aus Deutschland gingen an Erdoğan, in anderen Ländern wie Frankreich und Holland sogar über 70 Prozent.

Olaf Scholz, Bundesjockel Deutschlands, gratulierte mit folgenden Worten: „Deutschland und die Türkei sind enge Partner und Alliierte – auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sind wir stark miteinander verbunden. Gratulation an Präsident Erdoğan zur Wiederwahl. Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben.“ Mit gemeinsamen Themen sind dann vermutlich die Waffenlieferungen für den Angriffskrieg gegen Kurdistan und das Migrationsabkommen gemeint, das die Einreise von Millionen Geflüchteten nach Europa verhindert und nicht zu vergessen die Anwerbung von Fachkräften zu niedrigen Löhnen, die in Deutschland ja fehlen.

Widerstand auf den Straßen statt Illusionen in die Wahlen

Nun sollte es allen klar sein: Erdoğan ist nicht mit scheindemokratischen Wahlen zu besiegen. Auch nicht durch die Volksfront, die reformistische Hoffnungen und gleichzeitig Zugeständnisse an islamische und rassistische Kräfte machte. Die Demoralisierung der Massen, die sich vor allem über die politische Linke in der Türkei zieht, darf sich nicht fortsetzen. Genau jetzt ist es Zeit, zusammen und vereint gegen dieses Regime anzukämpfen. Mit Demonstrationen, Massenprotesten und mit dem Generalstreik.

Trotz seines Sieges kann Erdoğan nicht damit rechnen, ohne Widerstand durchregieren zu können. Vor den Wahlen war die weit verbreitete Meinung, Inflation, Erdbeben und politische Skandale würden reichen, um Erdoğan abzuwählen. Aber seine Beziehungen zu den Massen reichen tief. Dennoch handelt es sich um einen Pyrrhussieg, nicht weil abzusehen wäre, dass er von nun an scheitert, sondern weil seine Kraft geschwächt ist. Die Hälfte der Bevölkerung hält ihn für einen Diktator, seine Hegemonie ist fragil.

Für uns ist klar: Weder Erdoğan, noch Kılıçdaroğlu. Kein Politiker wird die Arbeiter:innen, die Frauen, die Migrant:innen, die queeren Menschen oder die Jugend von der Inflation, der Wirtschaftskrise und dem Krieg befreien. Das können nur wir selbst. Wir müssen uns organisieren und zusammen gegen Staat, Kapital und Patriarchat kämpfen. Gegen die rassistische Politik, gegen Abschiebungen von Geflüchteten, gegen Kriminalisierung von Queeren, Kurd:innen und Linken.

Kurtuluş yok tek başına – Ya hep beraber, ya hiçbirimiz!

Alleine gibt es keine Befreiung – entweder alle oder keine:r!

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