Erdoğan gewinnt das Referendum: Manipulation und Repression im Vordergrund

17.04.2017, Lesezeit 7 Min.
1

Beim historischen Verfassungsreferendum in der Türkei haben gestern nach vorläufigen Angaben knapp 51 Prozent mit „Ja“ gestimmt. Allerdings streiten die oppositionellen Parteien und Wahlbeobachter*innen die Gültigkeit der Wahlen ab und werfen dem türkischen hohen Wahlausschuss YSK, der AKP-nahen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi und vor allem der AKP schwere Manipulation vor.

Am Abend erklärten Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Yildirim das Referendum für gewonnen. 51,3 Prozent stimmten laut der Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi für die Einführung des Präsidialsystems. Die Teilnahme am Referendum war hoch: 86 Prozent der über 55 Millionen Wahlberechtigten stimmten über das Schicksal des Regimes ab.

Nun plant Erdoğan schon die nächsten Schritte seines inneren Krieges gegen die Opposition: Er will die Todesstrafe wieder einführen.

Das Referendum im Schatten der Manipulation und der Repression

Das Referendum fand besonders in den kurdischen Städten unter großer Repression statt. Bewaffnete Regierungskräfte waren um die Wahllokale positioniert, in denen ein hoher Anteil von Nein-Stimmen wahrscheinlich war. In der kurdischen Stadt Diyarbakır (Amed) wurden drei Wähler*innen von einem AKP-Anhänger erschossen, weil sie sich gegen die Gesetzesverstöße ausgesprochen hatten. Gesetzesverstöße wurden im Laufe des Tages immer wieder gemeldet. Viele Menschen in den kurdischen Gebieten hatten erst am Tag der Abstimmung erfahren, dass die Wahllokale, in denen sie wählen sollten, verlegt wurden. Um die Schulen, in denen gewählt wurde, gab es illegale Propagandatätigkeit seitens der AKP. Wahlhelfer*innen der HDP wurden schikaniert und es wurde versucht, sie aus den Wahllokalen herauszuwerfen.

Noch vor Beendigung der Abstimmung wurde eine skandalöse Meldung vom türkischen Hohen Wahlausschuss (YSK) bekannt, die unbestritten ein Verstoß gegen eigene Gesetze darstellte: Auch die ungestempelten Stimmzettel sollten anerkannt werden. Der YSK rechtfertigte mit dieser skandalöse Entscheidung die Wahlmanipulation der AKP im Dienste des „Evet“ (Ja).

Die Ergebnisse aus den nordkurdischen Städten waren für Erdoğan alles andere als zufriedenstellend. Trotz der militärischen Belagerung, den Zwangsvertreibungen, den Inhaftierungen, den Bombardierungen und der Massaker seit Sommer 2015 ist es der AKP nicht gelungen, die kurdischen Städte zu paralysieren. Das Nein war in Nordkurdistan deutlich stärker. Die Terrorherrschaft Erdoğans, die sich in Nordkurdistan in einer Kriegspolitik ausdrückt, wurde dort beim gestrigen Referendum infrage gestellt.

Später abends, nachdem die Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi das Ja als Sieger präsentierte, nahmen die Spannungen zu. Die Oppositionellen aus dem Nein-Lager protestierten gegen die Willkür der YSK. Nach aktuellen Meldung der HDP soll es eine Manipulation in der Größenordnung von 3 bis 4 Prozent der Stimmen gegeben haben. Sowohl die HDP als auch die CHP haben angekündigt, dagegen zu klagen.

Terrorherrschaft als Vorbedingung des Referendums

Es gab eine enorme Ungleichheit im Kräfteverhältnis zwischen den Kampagnen. Die AKP-Regierung und Erdoğan haben die ganzen Ressourcen des Staatsapparates für ihre Ja-Kampagne genutzt, während eine Nein-Kampagne de facto verboten war.

HDP-Abgeordnete wurden festgenommen, um die parlamentarische Opposition zu entmachten. Die gewählten Bürgermeister*innen wurden durch AKP-Beamt*innen ersetzt, um der HDP ihre politischen Ressourcen auch auf der kommunalen Ebene zu entziehen. Auch wurden Büros der HDP zur Zielscheibe von faschistischen und militärischen Angriffen. Ihre Büros wurden ausgeplündert und in Brand gesetzt, während gleichzeitig kurdische Aktivist*innen kriminalisiert wurden.

Sogar das Verteilen von Flyern oder der Aufbau von Infotischen für die Nein-Kampagne waren Gründe für eine Festnahme. Auch die von Gewerkschaften geführten Nein-Kampagnen wurden von der Polizei schwer angegriffen. Während des Ausnahmezustandes, in dem sich das Land immer noch befindet, wurden gleichzeitig weiterhin Streiks für illegal erklärt. Außerdem wurden jegliche Versammlungen und Demonstrationen verboten.

Im vergangenen Jahr wurden auch zahlreiche oppositionelle und kritische Zeitungen und Nachrichtenagenturen, Fernsehsendungen und Vereine geschlossen, um die Öffentlichkeit zu monopolisieren. Journalist*innen wurden unter lächerlichen Vorwürfen verhaftet und zu Feind*innen des Staates erklärt. Die restlichen Medien, die nicht direkt unter der Kontrolle der AKP standen, wurden entweder gekauft oder so eingeschüchtert, dass sie als Propagandamittel für die AKP und die Ja-Kampagne dienten. Kritische oder linke Stimmen waren kaum mehr in den Medien zu hören.

Was drücken die Ergebnisse aus?

Die Koalition zwischen AKP und MHP, die sich in den militarisierten Zeiten des Landes konstituiert hatte, hat sich auf der Wahlebene als nicht besonders erfolgreich erwiesen. Bei den Parlamentswahlen im November 2015 kamen sie noch gemeinsam auf 62 Prozent der Stimmen. Aber gestern konnte diese Koalition nur noch 51 Prozent der Stimmen erreichen, trotz der massiven staatlichen Ressourcen und des Ausnahmezustandes. Im Vorfeld des Referendums waren die Risse innerhalb der MHP deutlich geworden: Eine Fraktion innerhalb der ultranationalistischen Partei hat eine Nein-Kampagne organisiert. Diese Risse werden sich nach dem Referendum vertiefen.

Zum ersten Mal hat die AKP bei Wahlen die Großstädte Istanbul und Ankara verloren. Während Istanbul als Hauptstadt der Wirtschaft gilt, ist Ankara die Hauptstadt der Exekutive. Angesichts der Tatsache, dass in diesen beiden Großstädten die AKP den Oberbürgermeister stellt und aus Wahlen bisher immer als die stärkste Partei hervorging, ist das Ergebnis sicherlich ein Ausdruck einer aufkommenden und sich verbreitenden Unzufriedenheit mit Erdoğan. Diese Abweichung an der Basis der AKP hat allerdings noch keine organisierte Form und ist bislang kopflos.

Die Krise der Opposition ist heute anhand der Ergebnisse des Referendums deutlich zu erkennen. Da sich die Verfassungsreform auch gegen die bürgerlichen Sektoren richtet, hatte sich ein weites politisches Spektrum zur Kampagne für das Nein zusammengefunden. In diesem Sinne war die Nein-Kampagne im Vergleich zur Ja-Kampagne heterogener. Sie basierte letztlich nur auf dem Konsens, die Machtkonzentration bei Erdoğan und seine Angriffe abzulehnen.

Der Nein-Kampagne fehlten allerdings die sozialen Forderungen, mit denen die armen Schichten der Bevölkerung und die Arbeiter*innen um das Nein herum hätten organisiert werden können. So hätte die Kampagne die organisierte Unzufriedenheit mit Erdoğan repräsentieren können. Stattdessen wurde die Kampagne sehr liberal geführt und konnte so trotz Militarisierung und Polarisierung kaum Bedeutung erlangen. Man kann in dieser Situation also nicht von einem organischen Erfolg der Opposition sprechen, sondern von einer Hälfte der Bevölkerung, die vom Ausnahmezustand und der Kriegspolitik erschöpft ist und die sich von der kommenden wirtschaftlichen Krise bedroht fühlt.

Erdoğan zittert nach wie vor, auch wenn die Wahlen mit Ja ausgegangen sind. Die große Herausforderung für die oppositionellen Kräfte beginnt jetzt in der Phase nach dem Referendum. Akzeptiert die Opposition den Sieg Erdoğans, wird sie von der Bildfläche verschwinden. Geht sie weiterhin allein den parlamentarischen Weg, wird sie gegen eine Mauer stoßen. Denn die heutigen Wahlen haben erneut gezeigt, dass allein der Parlamentarismus und die Wahlen dem Bonapartismus nichts entgegensetzen können.

So wichtig es ist, sich gegen die fortwährenden undemokratischen Angriffe des Erdoğan-Regimes zu stellen, mit denen demokratische Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, kann dies nicht nur aus einer Position der „Verteidigung der parlamentarischen Demokratie“ heraus geschehen. Denn dieser Konsens folgt der Logik der Volksfront und bedeutet nichts anderes als Unterordnung der Arbeiter*innenklasse unter bürgerliche Führungen. Er schürt die Illusion, dass das Modell der türkischen Demokratie ohne Erdoğan erstrebenswert wäre. Dabei beruht diese Demokratie auf dem Genozid an den Armenier*innen, der inneren Kolonialisierung Kurdistans und Zyperns und stützt sich auf eine arbeiter*innenfeindliche Politik. Dieses Modell ist verfault. Die einzige sichtbare Antwort kommt vom rechten Lager. Dies zeigt deutlich die Krise der Linken in der Türkei. Entscheidend ist heute nach dem Referendum, Massenmobilisierungen voranzutreiben und sie in Form von Basisorganisierungen und Streiks zu organisieren. Der Zweck der Nein-Kampagne sollte es sein, die Unterdrückten und Ausgebeuteten an ihre Kampffähigkeit zu erinnern und basisdemokratische und klassenkämpferische Strukturen aufzubauen.

Mehr zum Thema