Entlassene Akademikerin spricht über politische Alternativen zum Erdoğan-Regime

27.02.2017, Lesezeit 10 Min.
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Unser Autor Baran Serhad sprach mit Güneş Gümüş, Akademikerin und Vorsitzende der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (SEP) in der Türkei, über die Entlassungen, das Referendum und die Entwicklung des türkischen Regimes sowie über linke Perspektiven. Güneş Gümüş gehört zu 115 "Akademiker*innen für den Frieden", die durch ein Notstandsdekret entlassen wurden.

Der türkische Präsident Erdoğan bereitet aktuell ein Referendum über ein Präsidialsystem vor. Dazu führt er eine vehemente Liquidationskampagne gegen die Opposition.

Es stört Erdoğan sehr, dass die Opposition bisher nicht komplett eingeschüchtert wurde. Denn sie ist ein Hindernis für den Aufbau des Ein-Mann-Regimes. In diesem Sinne eröffnete ihm der gescheiterte Putsch vom 15. Juli breite Möglichkeiten, um den Konkurrenten FETÖ (die Bezeichnung für die Gülen-Bewegung, die mit dem Putsch in Verbindung gebracht wird) und die Opposition zu liquidieren. Seit dem 15. Juli wurden mehr als drei tausend Beamt*innen entlassen, die in der Gewerkschaft KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter*innen) organisiert waren. Zeitungen, Radiosender, Verlage und Vereine wurden geschlossen, HDP-Abgeordnete wurden verhaftet. Es ging so weit, dass das Protestieren verboten wurde.

Mit dem Notstandsdekret vom 7. Februar wurden 4644 Beamt*innen entlassen. Betroffen davon sind unter anderem die 115 Akademiker*innen, die als „Akademiker*innen für den Frieden“ bekannt geworden sind. Sie unterzeichneten eine Petition gegen die Belagerung und Massaker in den kurdischen Städten mit dem Titel „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“. Du gehörst ebenfalls zu dieser Initiative und den Entlassenen.

Anfang des letzten Jahres, als die Petition mit den Unterschriften von mehr als 2000 Akademiker*innen veröffentlicht wurde, sagte Erdoğan grollend, dass wir zur Rechenschaft gezogen werden würden. Aber erst der Ausnahmezustand, der den bisherigen juristischen Rahmen sprengte, ermöglichte ihm das repressive Handeln. Doch wir geben uns nicht geschlagen: Nach der Entlassung von 115 Akademiker*innen, darunter 72 aus der Universität von Ankara, begannen wir mit der Losung „Nein, wir gehen nicht“ einen Kampf, der gegen die Angriffe von Seiten der AKP in der öffentlichen Meinung eine Unruhe geschaffen hat. So konnten wir die Ausbreitung der Liquidationswelle auf andere Universitäten wie ODTÜ und Boğaziçi verhindern.

Wie bewertest du die politische Lage in der Türkei? Es herrscht intensive Gewalt zur Durchsetzung des Präsidalsystems.

Es ist offensichtlich, dass wir durch schwere Zeiten gehen. Die AKP hat massive Macht und Möglichkeiten, die sie so in der Form bisher nie besaß, um die Türkei und die Opposition zu transformieren.

Nichtsdestotrotz dürfen wir diese Phase nicht allein mit Repression und möglichen katastrophistischen Szenarien beschreiben. Trotz des Grades an staatlicher Gewalt und Repression gehen wir nicht die dunkelsten Zeiten in der Geschichte der Türkei durch. Wir erlebten in den 80ern den Putsch, in den 90ern die Normalisierung von Morden, die nie aufgeklärt wurden. Zwar erlebte das Land in 2000ern eine gewisse Normalisierung und Stabilisierung, dennoch hat diese Phase nicht lange gedauert.

Was die heutige Zeit von der damaligen unterscheidet, ist nicht die Quantität der Gewalt, sondern wie sich die Gewalt über einen gesellschaftlichen Sektor hinaus ausbreitet und sich als untrennbarer Teil der konservativ und autoritär umorganisierten Türkei qualitativ konsolidiert.

Wie kann Widerstand unter diesen Bedingungen entstehen? Welche Rolle kommt der Jugend und der Arbeiter*innenklasse zu?

Diese Situation ruft eigene Dynamiken hervor: Es entsteht eine Wut und ein Gegenwind gegen die AKP und ihr Ziel, die Türkei nach eigenen Kriterien neu zuordnen. Wenn sich die Tendenzen dieser Phase bis zum Verunmöglichen der öffentlichen Politik nicht verschärfen und wenn die sozialistische Linke gegen die Repression sinnvolle Kämpfe organisiert, kann sie sich im Angesicht der breiten Massen als einzige Alternative gegen die verfaulte Ordnung herauskristallisieren. Wir sind also der Meinung, dass die jetzige Situation zum sozialistischen Aufbau seriöse Möglichkeiten bietet. In einer Situation, in der sich der Abgrund zwischen den Klassen vertieft, der Klassenhass sich innerhalb der Arbeiter*innenklasse ansammelt, der Alltag für Arbeiter*innen anstrengend wird und die Jugend keine Zukunftsperspektive sieht, kann die sozialistische Alternative davon profitieren, wenn sie interveniert.

Doch das Potenzial ist leider nicht gleichbedeutend mit der Realität. Für eine sozialistische Linke, die mit einer unabhängigen Politik einen Unterschied machen könnte, ist der Weg noch weit. Es gibt in der Türkei ein Defizit an einem sozialistischen Subjekt, das imstande wäre, diese Intervention zu verwirklichen. Die eigentliche Krise des Landes ist die Nicht-Existenz einer sozialistischen Partei, die eine unabhängige Rolle in der Politik übernehmen könnte. Es gibt einen historischen Misserfolg der sozialistischen Linken. Deshalb gelingt es bisher nicht, von der Wut gegenüber der AKP zu profitieren.

Die Massen haben diese Erfahrung während des Gezi-Widerstands tragisch gemacht: Straßenproteste allein genügen nicht, die Opposition braucht eine politische Form. Deswegen kommt den Sozialist*innen die Aufgabe zu – ohne in die Identitätspolitik zu fallen – ein neues politisches Subjekt zu erschaffen, das eine unabhängige Politik der Arbeiter*innenklasse verfolgt. In diesem Sinne haben wir die Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (SEP) gegründet.

Die Dynamik, die aus dem Gezi-Widerstand entstand, ist nicht verschwunden. Wir beobachten sie in unseren Aktivitäten in der Phase des Referendums. Doch der Widerstand wird sich nicht erneut in der Form von Gezi ausdrücken. Der Prozess wird sich nicht wiederholen.

Über die Anti-AKP-Front hinaus gibt es unter den Arbeiter*innen, die AKP wählen, durchaus Reaktionen gegen die verschärfte Ausbeutung. Aber bedauerlicherweise positionieren sie sich im Rahmen der gesellschaftlichen Polarisierung, die aus Ethnizitäten, Lebensweisen und von AKP diktierten Identitäten hervorgeht. Aus diesem Grund brauchen wir eine sozialistische Linie, die über diese Polarisierung hinaus denkt und handelt.

Wie stehst du zur Analyse, dass Erdoğan ein bonapartistisches Regime aufzubauen versucht?

Der Bonapartismus nach Marx-Engels und Trotzki bedeutet die Erkämpfung einer temporär unabhängigen Position der Staatsbürokratie und die extreme Verselbständigung der Exekutive in einer Phase, in der die aus einem innerem Konflikt heraus geschwächte Bourgeoisie und das Proletariat im Klassenkampf nicht in der Lage sind, einander zu besiegen (Patt). Trotzki sagte dazu: „Bismarck nützte auf bonapartistische Weise den Gegensatz zwischen den besitzenden Klassen und dem aufwärtsstrebenden Proletariat aus, überwand dadurch den Antagonismus innerhalb der besitzenden Klassen zwischen Junkertum und Bourgeoisie und erhob den militärisch-polizeilichen Apparat über die Nation.“ Für Engels war “die Grundbedingung des modernen Bonapartismus: das Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat.“ Der als Bonaparte auffallende, in Trotzkis Worten „gekrönte Retter“ erhebt sich über die Klassen, während er ihnen zugleich die politische Macht raubt. So konstituiert sich ein außerordentliches Regime, welches zwischen den Klassen balanciert und den Interessen der Bourgeoisie dient.

Nach der kurzen Definition des Bonapartismus gehe ich nun auf das Argument ein, dass in der Türkei das Präsidialsystem zum Aufbau eines bonapartistischen Regimes von Erdoğan dient. Zunächst ist es ganz offensichtlich, dass die grundlegenden zwei Bedingungen der modernen Bonapartisierung nach Engels, nämlich die Konsolidierung einer Herrschaft der Staatsbürokratie in dem Patt-Zustand des Krieges zwischen den zwei feindlichen Klassen, der aktuellen Situation der Türkei nicht entspricht.

Diejenigen, die die heutige Türkei als bonapartistisch bewerten, stützen ihre Analysen nicht auf den Krieg zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Sie argumentieren demgegenüber damit, dass das Präsidialsystem einzuführen versucht wird, um den Staat zu retten, der infolge der innerbürgerlichen Konflikte fragil wurde.

Erstens bekommt der Bonapartismus von Anfang an eine andere Form oder wird in seinem Sinn verwässert, wenn er nicht als Ausdruck der Patt-Situation zwischen der Arbeiter*innenklasse und der herrschenden Klasse erscheint. Zweitens: Der Prozess des Ein-Mann-Regimes, welchem mit dem Präsidialsystem ein juristischer Boden bereitet wird, hat nicht erst nach dem 15. Juli begonnen. Zum Bespiel war der wesentliche Auslöser zur Entstehung des Gezi-Aufstandes die Organisierung des konservativen Ein-Mann-Regimes. Der Bonapartismus hat sehr offensichtliche Eigenschaften: Zunächst muss die Person, die als Retter erscheint, eine neutrale Position haben. Dies ist in der Türkei nicht der Fall. Erdoğan taucht nicht als neutraler Klassenversöhnler mit der Unterstützung der Massen auf. Er vertritt einen Pol aus dem direkten Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse.

Die Analysen Trotzkis über die unterentwickelten kapitalistischen Länder, die er in seinen Thesen über die permanente Revolution aufgestellt hat, sollten die Grundlage bilden, um die Ereignisse in der Türkei vor und nach dem 15. Juli zu analysieren. Trotzki erwähnt, dass die Bourgeoisie solcher Länder stumpfsinnige Akteur*innen sind, die nicht einmal dazu fähig sind, eine eigene Klassenpolitik zu verfolgen. Diese Wahrheit lässt sich am Beispiel TÜSIAD (Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute) in ganzer Klarheit veranschaulichen. Da die TÜSIAD unfähig ist, eigene Probleme (vor allem die erfolgreiche Beendigung des Kampfes gegen die institutionell-militärische Bürokratie) zu lösen, ist es ihr nicht gelungen, die politischen Islamist*innen (AKP), denen sie selbst die Hand reichte, zu kontrollieren. Während sie von den Vorteilen und Privilegien profitierte, die die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 ermöglichte, und während sie ihre historische Rivalin – die kemalistische institutionell-militärische Bürokratie – mit der Hilfe der AKP besiegte, lief alles im Sinne der Bourgeoisie. Aber die AKP wandelte den Staatsapparat dank der Allianzen, die aus dem Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse hervorgingen, Schritt für Schritt in ihren eigenen Apparat um und verabschiedete sich von dem Ziel eines parlamentarischen Systems nach EU-Kriterien, das die Bourgeoisie für die progressivste Regierungsform hielt. Als nach der großen Krise 2008 die EU geschwächt wurde und ihr Einfluss auf die Türkei bröckelte – in einer Phase des globalen Aufschwungs des Nationalismus und Protektionismus –, war TÜSIAD nicht mächtig genug, um zu intervenieren. Trotz des offenbaren Aufbaus des Ein-Mann-Regimes seitens der AKP, fuhr der Großteil des Clubs der großen Bosse den Kurs fort, auf der Suche nach Vorteilen die AKP zu unterstützen und die eigentlichen Fragen außer Acht zu lassen. Als Erdoğan, Kopf der Exekutive, die autonome Macht der Exekutive nutzte, bekam er die Unterstützung der Mehrheit von TÜSIAD und MÜSIAD (Verein unabhängiger Unternehmer und Industrieller). Der politische Islam wurde in staatlichen Mechanismen und als separate Kapitalfraktion zum festen Bestandteil der herrschenden Klasse. Ebenfalls spielte die FETÖ – auch sie stammt aus der Strömung des politischen Islams – bis Ende 2013 an der Seite der AKP eine entscheidende Rollen. Nach der Säuberung der FETÖ geriet der bürgerliche Staat weitgehend unter die Kontrolle der AKP. Aus diesem Grund bringen die Putschversuche die Gefahr eines Bürger*innenkriegs auf die Tagesordnung.

Zum Abschluss: Ich möchte betonen, dass bei der Analyse über den Bonapartismus die Rolle des politischen Islams nicht berücksichtigt wird. Es erschwert das Verständnis über die Wahrheit, wenn die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik als eine einseitige mechanische Beziehung wahrgenommen wird. Mit ihrem kleinbürgerlich-radikalen Programm wurden die politischen Islamist*innen nach der Gewinnung einer breiten Basis zu einem kräftigen politischen Akteur. Sie nähern sich im Laufe der Zeit den Reihen der Großbourgeoisei an – aufgrund der Höhe ihres Kapitals und der Richtung ihres Programms –, aber zugleich verzichten sie nicht auf zwanghafte Islamisierungsversuche. Deshalb können sie als autonome Akteur*innen eine eigenständige und authentische Rolle spielen, wie im Beispiel der AKP.

Kannst du uns abschließend von euren Aktivitäten als SEP für ein NEIN im Referendum berichten? Welche Perspektiven braucht es für die Niederlage Erdoğans?

Wir als Partei Sozialistischer Arbeiter*innen organisieren im Referendumsprozess eine gemeinsame Kampagne unter dem Titel „Freiwillige für NEIN“. Diese Kampagne existiert nicht nur an den Orten, wo wir Gruppen haben. Sie hat sich landesweit ausgebreitet. Es gibt eine große Masse, die bereit ist, mit NEIN zu stimmen. Wir kommen mit vielen Menschen in Kontakt, die uns kennenzulernen und die NEIN-Kampagne in die Orte zu übertragen versucht, an denen wir nicht organisiert sind. Wir organisieren diese Kampagne mit einer proletarischen Parole „Alevit-Sunnit, Türke-Kurde, Kopftuch oder nicht: Wir sind Arbeiter*innen, wir sind eins“ in Stadtzentren, sozialen Netzwerken, Universitäten und Stadtvierteln.

Es braucht die Organisierung einer sozialistischen Politik unabhängig von der künstlichen Polarisierung der Identitäten und Lebensweisen, von der die AKP profitiert. Leider sind aber weitgehend alle Linken Teil dieser künstlichen Polarisierung. So gibt es keine Möglichkeit, die verarmten und arbeitenden Massen von dem Einfluss der AKP zurückzugewinnen. Nur eine proletarische Politik kann die tiefe Polarisierung der Identitäten, Lebensweisen und Ethnizitäten überwinden. Unsere NEIN-Kampagne basiert auf diesen Grundlagen.

Es gibt keinen anderen Ausweg, um die AKP und Erdoğan zu schwächen und ihre gesellschaftliche Unterstützung zu verringern. Ansonsten wird die AKP die breiten Massen der Gesellschaft hinter sich einreihen, während sich die Linke marginalisiert bleibt.

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