Einreise- und Betätigungsverbote: Der absurde Sprung in der Repression gegen die Palästinasolidarität in Deutschland

19.04.2024, Lesezeit 8 Min.
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Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. Foto: Giannis Papanikos / Shutterstock.com

Im Zuge der Repression gegen den Palästina-Kongress in Berlin am vergangenen Wochenende wurde nicht nur das Versammlungsrecht verfassungswidrig gebrochen, sondern auch Einreise- und Betätigungsverbote ausgesprochen – unter anderm gegen den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis. Ein Sprung im Autoritarismus der Behörden im Angesicht wachsender Kritik am israelischen Genozid gegen die Palästinenser:innen.

Das Verbot des Palästina-Kongresses am vergangenen Wochenende (wir berichteten) hat erneut offengelegt, zu welchen autoritären Maßnahmen die Bundesregierung, der Berliner Senat und die Polizei bereit sind, um die Palästinasolidarität in Deutschland zu kriminalisieren. Es reiht sich ein in die Repression und Kriminalisierung seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres: massivste Polizeiaufgebote und Polizeigewalt gegen Demonstrationen, das Verbot von palästinensischen Organisationen, Gesetzesverschärfungen und Diffamierung jeglicher Palästinasolidarität als antisemitisch und islamistisch. 

Das ist auch eine europäische Tendenz: In Frankreich wurde der Kongress der Linksfront La France insoumise mit ihrem Spitzenpolitiker Jean-Luc Mélonchon von den Behörden unterbunden mit Verweis auf die angespannte Lage mit dem Iran. Zudem werdenpalästinasolidarische Aktivist:innen wegen angeblicher „Verherrlichung von Terrorismus“ verfolgt, zuletzt auch zwei Mitglieder unserer französischen Schwesterorganisation Révolution Permanente, darunter der Eisenbahner und Gewerkschafter Anasse Kazib.

Die offiziellen Gründe für das Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin zeigen einen neuen Höhepunkt, einen Sprung in der Repression gegen Palästinasolidarität. Laut den Behörden wurde die Veranstaltung verboten, weil gegen mehrere Redner:innen ein politisches Betätigungsverbot ausgesprochen worden sei. Neben dem palästinensischen Autor Salman Abu Sitta, aufgrund dessen Videobotschaft der Kongress von der Polizei abgebrochen und verboten wurde, ist auch der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis von dem Verbot betroffen. Derweil wurde die bekannte US-Philosophin und Feministin Nancy Fraser von einem Vortrag an der Uni Köln ausgeladen wegen ihrer Haltung zu Palästina.

Es handelt sich um einen verzweifelten autoritären Versuch, die wachsende Kritik der Bevölkerung in Deutschland am israelischen Genozid an den Palästinenser:innen und der Komplizenschaft der Bundesregierung mundtot zu machen: Laut einer YouGov-Umfrage sind 33 Prozent der Befragten der Meinung, Israel begehe einen Völkermord; die Hälfte der Deutschen befürwortet einen Verbot des Waffenhandels (49 Prozent) und die Strafverfolgung israelischer Beamter für Kriegsverbrechen (50 Prozent).

Politisch motiviertes Betätigungsverbot gegen Varoufakis

Yanis Varoufakis selbst sieht das Betätigungsverbot gegen ihn in der Zeitung junge Welt als „Spitze des autoritären Eisbergs“. Wie jW beschreibt, hat die Bundespolizei „‚im Kontext einer möglichen Teilnahme‘ von Varoufakis als Redner bei der Veranstaltung gegen diesen eine ‚Fahndungsausschreibung zur nationalen Einreiseverweigerung‘ im Rahmen des Freizügigkeitsgesetzes der Europäischen Union verhängt […]. Diese Maßnahme ist möglich, wenn eine ‚Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung‘ besteht. Im Falle einer ‚geplanten Teilnahme am Kongress als aktiver Redner‘ wäre eine Einreiseverweigerung gegen den Politiker ‚geprüft worden‘ […]. Die Ausschreibung war demnach auf den Zeitraum der Veranstaltung vom 10. bis zum 14. April 2024 befristet.“ 

Die Begründung und das konkrete Vorgehen der Behörden machen schier sprachlos, wie Varoufakis in einem Interview für Jacobin erläutert: „Zwei Stunden nach Beginn des Kongresses, kurz bevor ich mich per Zoom dazuschalten wollte, löste die Polizei die Veranstaltung auf. Also nahm ich meine Rede auf meinem Laptop auf und veröffentlichte sie auf meinem persönlichen Blog. Die Behörden fanden das nicht lustig. Am folgenden Tag, während einer vom Palästina-Kongress organisierten Demonstration, sprach ein Polizeibeamter einen der Organisatoren und zwei begleitende Anwälte an. Er teilte ihnen im Grunde mit, dass sie besser nicht die Lautsprecher benutzen sollten, um meine Stimme zu übertragen, da die Berliner Polizei ein Betätigungsverbot gegen mich erlassen habe, ein Verbot jeglicher politischer Aktivität, das zuvor nur wenige Male gegen ISIS-Anhänger angewandt worden ist. Einer der Anwälte verlangte eine schriftliche Anordnung, aber die Polizei sagte, sie müsse diese nicht vorlegen. Unsere Anwälte setzten sich mit der Polizei und dem Innenministerium in Verbindung und verlangten eine Erklärung. Das muss ihnen sehr peinlich gewesen sein – schließlich hatten sie ein Verbot gegen einen Bürger eines EU-Mitgliedstaates ausgesprochen – und nach zwei Tagen peinlicher Stille änderten sie ihre Erzählung von einem Betätigungsverbot zu einem Einreiseverbot. Bis heute wurde keines der beiden Verbote in schriftlicher Form vorgelegt, und die deutschen Behörden haben meine Bitten um eine schriftliche Erklärung abgelehnt.“

Ich bin der einzige griechische Politiker, dem jemals die Einreise nach Deutschland untersagt wurde. Sie hatten nie ein Problem mit griechischen Neonazis, die zu Besuch kamen.

Wie offenkundig politisch motiviert das Verbot des Kongresses war, beschreibt auch einer der Anwälte des Palästina-Kongresses in einem Interview mit der taz: „Es gab in jedem Fall eine politische Erwartung, das war doch den Medien deutlich zu entnehmen. Die Innensenatorin, aber auch die Bundesinnenministerin haben klargemacht, dass sie ein rigoroses Vorgehen erwarten. Daraus ergibt sich, dass die entscheidenden Beamten an der kurzen Leine gehalten wurden. Für mich ist offensichtlich, dass der zuständige Polizeidirektor mit einer abweichenden Entscheidung karrieretechnisch einen Fehler begangen hätte. Hätte er grundrechtskonform entschieden und die Versammlung weiterlaufen lassen, hätte er den in ihn gesetzten Erwartungen nicht entsprochen und Schlagzeilen provoziert, dass die Polizei Antisemiten schützt. Dass es sich um einen ‚Israelhasser-Kongress‘ handelt, war ja vorher schon überall zu lesen. Er hat also ohne einschlägige Rechtsgrundlage entschieden und mildere Maßnahmen verworfen.“

Gerichte werden uns nicht schützen: Es braucht Mobilisierungen gegen den Autoritarismus

An dieser Stelle muss betont werden, dass eine Hoffnung auf die Grundrechte im Kampf gegen den Genozid und gegen die Interessen des deutschen Imperialismus vergebens ist. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Polizei oder die Regierung sich an ihre eigenen Regeln halten, wenn es ihrem politischen Interesse widerspricht. Angesichts der für immer größere Teile der Bevölkerung immer offensichtlicher werdenden genozidalen Politik Israels lassen Regierung und Repressivkräfte keine Mittel ungenutzt, um Regungen des Protests und des Widerstands zu verhindern. 

Zu Beginn des Genozids in Gaza war die Politik der Bundesregierung, die Proteste im Keim zu ersticken und sie von der großen Mehrheit der Bevölkerung zu trennen. Diese Spaltung funktioniert, wie die erwähnte YouGov-Umfrage zeigt, längst nicht mehr. Es ist deshalb kein Wunder, dass die Repression sich nicht einfach gegen eine Demonstration richtete – schließlich hat es in den vergangenen Monaten hunderte Demonstrationen gegeben, mit mal mehr und mal weniger scharfer Repression –, sondern gegen einen Kongress, bei dem auch über die Rolle des deutschen Staates und über die Strategien zur Befreiung Palästinas hätte geredet werden können. 

Egal wie verfassungswidrig das Verbot war, können wir uns nicht darauf verlassen, dass die Gerichte im Nachhinein für uns entscheiden, oder dass die Polizei ihr Vorgehen nicht wiederholt. Das Vorgehen gegen Varoufakis ist fast beispiellos – schließlich ist er EU-Bürger und europaweit bekannter ehemaliger hochrangiger Politiker – und zeigt, wie weit der deutsche Staat in der Repression zu gehen bereit ist, selbst gegen jene wie Varoufakis, die mitnichten ein radikales Programm vertreten. 

In der angespannten Situation ist dem Staat sogar der linke Institutionalismus eines Varoufakis oder eines Mélenchon in Frankreich zu radikal, da sie zur Antikriegsbewegung vermitteln. Die Gleichzeitigkeit und Schärfe der Maßnahmen in den europäischen Ländern, deutet darauf hin, dass es sich vor den Europawahlen um eine orchestrierte Kampagne handelt, um einen autoritären Umbau der EU vorzubereiten und sie „kriegstüchtig“ zu machen. Bemerkenswert ist dabei auch die völlig ungenierte Gleichsetzung der Linken mit dem Islamismus zur Rechtfertigung der Repression. Dieses Phänomen war bisher nur in der extremen Rechten verbreitet, hat jetzt aber in Deutschland und Frankreich eine Selbstverständlichkeit in Regierungen und bürgerlichen Leitmedien bekommen. Der gänzlich gleichgültige Umgang der Regime mit der Wahrheit ist dabei ein weiteres Merkmal des wachsenden Autoritarismus.

Es ist daher von größter Wichtigkeit, die Repression aufs Allerschärfste anzuprangern, aber uns zugleich zu mobilisieren und zu organisieren, um eine Bewegung und eine politische Kraft aufzubauen, die sich dieser Repression entgegenstellen kann, ohne an die bürgerliche Justiz oder vermeintliche rechtsstaatliche Prinzipien zu appellieren. Der autoritäre Sprung in der Repression gegen die Palästinasolidarität kann zu mehr Passivität führen, wenn wir uns nicht gegen ihn wehren – oder eine Bewegung befeuern, die von der Verteidigung unserer demokratischen Rechte ausgeht und dies mit einem antimilitaristischen und antiimperialistischen Programm verbindet.

Nieder mit allen Einreise- und Betätigungsverboten! Nieder mit jeglicher Repression gegen die Palästinasolidarität! Nieder mit dem Genozid! Nieder mit dem deutschen Imperialismus!

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