Eine „Zeitenwende“ der Arbeitskämpfe?
Der heiße Herbst ist bislang ausgeblieben. Doch unter der scheinbar ruhigen Oberfläche tut sich einiges. Eine Analyse der Situation in Deutschland.
Wendet sich die Stimmung in Deutschland? Noch im Oktober standen hauptsächlich Demonstrationen von AfD, Freie Sachsen, Dritter Weg und Co. im Zentrum der Aufmerksamkeit. Nun sind in den Nachrichten immer häufiger Streiks und Arbeitskämpfe sichtbar. Entwickeln sich angesichts der anhaltenden Inflation Tendenzen hin zu einer proletarischen Antwort auf die Krise? Über die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Szenarios und über die Aufgaben der Linken in der sich verändernden politischen Lage wollen wir an dieser Stelle einige Reflexionen beginnen.
Wenden wir uns zunächst dem „Elefanten“ im Raum zu: den Warnstreiks der IG Metall – der größten Einzelgewerkschaft der Welt – in der aktuellen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie, die knapp vier Millionen Beschäftigte betrifft. Die IGM führte in den vergangenen Wochen Warnstreiks in hunderten Betrieben in ganz Deutschland mit insgesamt bis zu 300.000 Streikenden durch. Nachdem die vierte Verhandlungsrunde, die ab dem 8. November in den verschiedenen Tarifbezirken stattfand, ergebnislos gescheitert war, titelten bürgerliche Zeitungen: „Die wichtigste Tarifrunde droht zu eskalieren“. Und zu Recht: Bei 24-stündigen Streiks oder gar Erzwingungsstreiks hätten die Bosse Milliardenverluste erlitten. Und die Metaller:innen hätten damit ein Zeichen gesetzt, dass sie sich angesichts der Inflation und der sich anbahnenden sozialen Krise im Winter nicht mit Einmalzahlungen und Brotkrumen abspeisen lassen.
In der Nacht zum 18. November verkündeten IG Metall und der Arbeitgeberverband Südwestmetall dann doch einen „Pilotabschluss“ in Baden-Württemberg: 3.000 Euro Einmalzahlung und 8,5 Prozent mehr Lohn in jeweils zwei Stufen bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Der Abschluss bleibt damit unterhalb der Inflationsrate von aktuell über zehn Prozent. Viele Kolleg:innen werden deshalb unzufrieden sein, auch wenn es einer der höchsten Abschlüsse der letzten Jahre ist. Denn: Die IG Metall warf nicht ihre gesamte Kampfkraft in die Waagschale. So zeigten die Warnstreiks zwar das Potential der Gewerkschaft, echter wirtschaftlichen Druck für einen Abschluss oberhalb der Inflationsrate wäre aber erst mit ganz- und mehrtägigen Streiks aufgebaut worden.
Das Ergebnis hatte sich schon angekündigt: Die IG-Metall-Bürokratie ging ja schon mit einer Forderung unterhalb der aktuellen Inflationsrate in die Verhandlungen – das sei ja vor Monaten demokratisch beschlossen worden. Und auch die Erhöhungen des Tarifs für die Metall- und Elektroindustrie in den vergangenen Jahren, welche von niedriger Inflation geprägt waren, lagen schon leicht unter der Inflationsrate. Gerade seit Beginn der Coronapandemie gab es keine tabellenwirksamen Erhöhungen des Lohns, lediglich eine Erhöhung von „Transformationszahlungen“ und Vereinbarungen zu Einmalzahlungen. Doch angesichts der weiter steigenden Preise und der Aussichten einer Rezession braucht es eine schärfere Antwort im Interesse der Arbeiter:innen. Das hätte für die Metallrunde heißen müssen: Nicht nur acht Prozent, sondern ein automatischer Inflationsausgleich. Angesichts der horrenden Profite der Konzerne – allein VW schüttete jüngst 9,5 Milliarden Euro Sonderdividende für den Börsengang der Tochter Porsche aus – die Enteignung der Großunternehmen unter Kontrolle der Arbeiter:innen. Und angesichts der Klimakatastrophe der ökologische Umbau der Industrie im Dienste der großen Mehrheit der Bevölkerung. Deshalb hätten 24-Stunden-Warnstreiks auch nicht das Ende der Fahnenstange sein, sondern den Auftakt zu unbefristeten Erzwingungsstreiks bilden müssen, bis alle Forderungen erkämpft sind. Der Pilotabschluss der Bürokratie der IG Metall in Baden-Württemberg, der höchstwahrscheinlich von den anderen Tarifbezirken übernommen wird, zeigt jedoch an, dass sie genau dieses Szenario vermeiden wollte.
Wie sehr die aktuelle Metalltarifrunde Impulse für einen allgemeineren Kampf gegen die Inflation und die Auswirkungen von Krise, Krieg und Klimakatastrophe entwickeln kann, hängt aber auch in nicht geringem Maße von der Antwort der Ampelregierung ab. Diese gibt sich seit Monaten als Vorkämpferin der sozial Schwachen: mehrere „Entlastungspakete“, eine Strom- und Gaspreisbremse ab Januar bzw. Februar nächsten Jahres, Einmalzahlungen im Dezember. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) preist das Bürgergeld, das ab nächstem Jahr Hartz IV ersetzen soll, als die „größte Sozialstaatsreform der vergangenen 20 Jahre“. Dabei ist das Bürgergeld völlig unzureichend, wie selbst Sozialverbände wie der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisieren. Und auch wenn die Regierung das Bürgergeld vergangene Woche im Bundestag durchbrachte, wird die Blockade von Seiten der unionsgeführten Bundesländer im Bundesrat das Reformvorhaben weiter verstümmeln.
Zeitgleich mit diesen sozialstaatlichen Entlastungen stehen größere Eingriffe in die Profite der Konzerne überhaupt nicht zur Debatte. Nicht nur ist die Minimallösung einer Übergewinnsteuer praktisch vom Tisch. Auch die Diskussion um die – inzwischen entsorgte – Gasumlage zeigte, dass es der Regierung keineswegs nur darum geht, die sozial Schwächsten zu entlasten, sondern im Gegenteil die Konzerne zu subventionieren, damit ihre Profite nicht gefährdet werden. Auch das „Inflationsausgleichsgesetz“ von Finanzminister Christian Lindner (FDP) verfolgt keine soziale Logik: Durch die Bekämpfung der „kalten Progression“ verspricht er vor allem Besserverdienenden Steuererleichterungen. Rund 35 Millionen Menschen mit niedrigen Einkommen profitieren dem Ökonomen Marcel Fratzscher zufolge hiervon überhaupt nicht.
Laut dem ZDF-Politbarometer vom 11. November 2022 finden 45 Prozent der Bevölkerung, dass die Regierung zu wenig gegen die steigenden Preise tut. 67 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass es mit der deutschen Wirtschaft „eher abwärts“ gehe, während die „eigene Wirtschaftslage“ nur noch von etwa der Hälfte als „gut“ empfunden wird. Dadurch ergibt sich eine latente Unruhe, die den sozialen Frieden herausfordern könnte. Schon im Sommer hatte Umfragen zufolge fast die Hälfte der Bevölkerung die Bereitschaft, gegen die Inflation auf die Straße zu gehen, und Regierungsmitglieder wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnten demagogisch vor „Volksaufständen“. Bisher haben die Maßnahmen der Regierung dazu geführt, dass Proteste von links gegen die Inflation eher klein blieben. Jedoch zeigt die beginnende Tendenz zur Ausbreitung von Streiks, dass immer mehr Beschäftigte die Notwendigkeit erkennen, zur Verteidigung ihrer eigenen Lebensbedingungen auf die Straße zu gehen – auch wenn sich dies bisher noch nicht in einer politischen Mobilisierung gegen die Regierung ausdrückt.
Zugleich ist klar, dass diese Unruhe nicht nur Ausdrücke nach links finden muss. Im Gegenteil haben die Demonstrationen in Ostdeutschland in den vergangenen Monaten, die zu einem Großteil von AfD, Freie Sachsen, Dritter Weg und Co. angeführt wurden, aufgezeigt, dass es gerade die Rechten sind, die bisher die Unzufriedenheit mit der Regierung kanalisieren. Allein in Gera hat der Höcke-Flügel mit einem demagogischen Diskurs, dass die AfD „für die Schwächsten“ der Gesellschaft eintrete, am 3. Oktober 10.000 Menschen auf die Straße gebracht. Doch während sie Anfang Oktober mit insgesamt bis zu 80.000 Menschen auf hunderten Demonstrationen ihren Höhepunkt hatten, sind die von rechts angeführten Proteste im Osten zuletzt rückläufig, wenn auch auf einem recht hohen Niveau mit immer noch mehreren Zehntausend Teilnehmer:innen. Am vergangenen Wochenende brachten Höcke und andere Größen der rechten Szene in Erfurt statt der angekündigten 10.000 nur noch 2.000 Menschen vor dem Thüringer Landtag zusammen.
Diese Polarisierung nach rechts wird auch von der CDU/CSU geschürt, wie sich insbesondere in der aktuellen Debatte um das Bürgergeld zeigt, das von Union und AfD gleichermaßen als Anreiz zum Faulenzen verleumdet wird. Dieser Diskurs verfängt: Laut dem ZDF-Politbarometer finden 68 Prozent die Kritik berechtigt, dass das Bürgergeld „zu wenig Anreize“ gebe, sich einen neuen Job zu suchen. Auch insgesamt entwickelte sich die Union unter Merz deutlich nach rechts. Als Kanzler würde er die Renten angreifen und bei der 100-Milliarden-Aufrüstung der Bundeswehr konnte er seine Vorstellung gegenüber der Regierung weitgehend durchsetzen, da eine Zweidrittelmehrheit nötig war. Die große rechte Opposition bildet auch künftig eine Drohkulisse, was die Regierung vor einer sozial und progressiv gesinnten Basis als kleineres Übel erscheinen lässt.
Es ist deshalb weiter zu erwarten, dass die Regierung eine Kombination aus mäßigen Reformen, Verschlechterungen und Angriffen umsetzen wird. Dennoch hat die Regierung eine gewisse Basis in den Massen, den Gewerkschaften, dem Kleinbürger:innentum und besonders in progressiveren Sektoren der Jugend, in der Klimabewegung, im Feminismus und sogar im Antirassismus, über die Grünen inbesondere auch in den zivilgesellschaftlichen NGOs. Gerade der größte Teil der Klimabewegung in „Fridays For Future“ begreift sich bislang noch als Mahner der „eigenen“ Regierung, indem er auf die Umsetzung des von den kapitalistischen Regierungen selbst vereinbarten 1,5-Grad-Ziels drängt. Die Ampel reformierte bald nach ihrem Antritt das Recht für trans Menschen und schaffte den „Werbeparagraph“ für Abtreibungen §219a ab, nun stehen Hartz IV und das Wohngeld an. Im Asylrecht gab es halb Reform, halb Angriff. Das 9-Euro-Ticket war populär, anders als zuvor der Tankrabatt. Die Beteiligung der FDP an der Regierung dient hierbei sogar noch der Stärkung der Illusionen in reformistische Lösungen und das „kleinere Übel“: Wenn doch nur Lindner nicht wäre, könnte umgesetzt werden, was wirklich nötig ist.
Inwieweit die Bourgeoisie willens und in der Lage sein wird, die Krise sozial abzufedern, hängt letztlich mit den wirtschaftlichen und geopolitischen Perspektiven zusammen. Der Ukraine-Krieg mit den Sanktionen hat zu deutlich höheren Einkaufspreisen bei Energie und Rohstoffen an den internationalen Märkten geführt. Gleichzeitig kann die deutsche Industrie aufgrund von Lieferengpässen die Nachfrage nicht voll bedienen. Folglich hat Deutschland im ersten Halbjahr 2022 erstmals seit vielen Jahren ein Außenhandelsdefizit. Das deutsche Wirtschaftsmodell ist aber auf den Überschussprofiten aufgebaut: Die hochentwickelte Industrie (Automobil, Maschinenbau, Chemie) kaufte bisher günstig ihre Rohstoffe auf internationalen Märkten und ließ Zulieferbetriebe im Europäischen Wirtschaftsraum die Einzelteile herstellen, um die größte Wertschöpfung in den Fabriken in Deutschland selbst zu erzielen und dann die Endprodukte wiederum ins Ausland zu verkaufen. Dieses Modell war schon in den letzten Jahren durch den zunehmenden Protektionismus seitens der USA und Chinas in Frage gestellt. Die hohen Energiepreise gefährden es nun mehr denn je.
Die Konfrontation mit Russland wird zunehmend zu einer wirtschaftlichen Belastung. Erste Kapitalverbände warnen seit Monaten, dass die Sanktionspolitik den Wohlstand der Bourgeoisie untergraben kann. Gleichzeitig gibt es keine Anzeichen, dass die Bundesregierung von ihrer jetzigen konfrontativen Haltung gegenüber Russland abrücken würde. Die Unsicherheit bezüglich der Gasmärkte schwächt auch den Euro gegenüber dem US-Dollar, der Import verteuert sich weiter. Um die Inflation zu bremsen, haben die Europäische Zentralbank und weitere Notenbanken die Leitzinsen erhöht, was sich aber wiederum negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken und hoch verschuldete Euro-Staaten (vor allem Italien) in eine Krise treiben könnte.
Kurzum: Der Krieg trübt die wirtschaftlichen Aussichten. Wirtschaftsforschungsinstitute gehen übereinstimmend davon aus, dass im kommenden Jahr eine bedeutsame Rezession auf uns zukommt. Das bedeutet auch: Die Krisenkosten werden trotz der bisherigen Politik der Entlastungspakete perspektivisch stärker auf die Massen abgewälzt werden als während der Corona-Krise. Gleichzeitig finden große Umstrukturierungen in Industrie, Logistik, Handel und weiteren Branchen statt. Die Bundesregierung will zudem ab 2023 die Schuldenbremse wieder einführen – eine Ansage an den Öffentlichen Dienst (wo ab Januar Tarifverhandlungen stattfinden), dass es nichts zu verteilen gäbe.
In diesem Sinne geht die potenzielle Bedeutung einer wachsenden Streikdynamik, die sich nicht nur auf Lohnerhöhungen beschränkt, sondern auch die Politik der Regierung konfrontiert, auch über die bloße Konjunktur hinaus. Auch wenn die Streiks im Metallsektor – und selbst die Streiks im Hamburger Hafen, die sehr progressive Elemente der Selbstorganisation der Streikenden beinhaltete – sehr stark von der Gewerkschaftsführung kontrolliert bleiben (worauf wir weiter unten noch genauer eingehen werden), macht sich doch hier eine subversive Veränderung im Bewusstsein der Klasse bemerkbar: Nicht mehr alles hinnehmen, die Einsicht in die Notwendigkeit, für die eigenen Lebensbedingungen zu kämpfen. Solche Elemente überdauern die konkrete Streikkonjunktur und setzen das Bewusstsein neu zusammen.
Das ist besonders deshalb wichtig, weil die aktuelle Krise im Kontext einer militärischen „Zeitenwende“ des deutschen Imperialismus stattfindet. Diese beschränkt sich nicht auf die seit der Wiederbewaffnung beispiellose Aufrüstungskampagne Deutschlands. Sie bedeutet vielmehr das erklärte Ende der militärischen Zurückhaltung auf dem großen Schachbrett der Strategie. Somit stehen die Arbeiter:innenbewegung und die Linke vor der Herausforderung, dem deutschen Imperialismus eine antiimperialistische Alternative entgegenzusetzen. Jede Beschränkung auf rein ökonomische Forderungen verkennt die langfristige Bedeutung dieser „Zeitenwende“.
Scholz’ „Zeitenwende“ eröffnet eine neue Etappe
Der Krieg in der Ukraine und die wachsenden Konflikte zwischen den Großmächten machen es nötig, mehr „in Übergängen“ zu denken. Denn abrupte politische Wendungen werden in dieser neuen Phase in der Epoche des Imperialismus wahrscheinlicher. Die Infragestellung des kapitalistischen Gleichgewichts sorgt dafür, dass sich auch das deutsche Kapital immer wieder neu orientieren muss, nicht nur im Hinblick auf Russland, sondern vor allem gegenüber China. Auch innerhalb der EU nehmen rechte Tendenzen zu, speziell in Osteuropa, aber auch in Ländern wie Italien. So zeigt sich, dass die Hegemonie Deutschlands über die EU nicht ohne weiteres aufrechterhalten werden kann. Nicht umsonst hat Olaf Scholz bei seiner Grundsatzrede im August die Notwendigkeit einer Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit in der EU betont. Die Interessen des deutschen Kapitals waren dadurch in der Vergangenheit immer wieder teilweise blockiert worden, was teilweise einen Ausgleich mit anderen Ländern notwendig machte.
Unter Angela Merkel fand der Ausgleich vor allem durch eine „strategisch uneindeutige“ Positionierung zwischen den USA und China statt. Strategisch uneindeutig bedeutet hier, sich nicht klar festzulegen, sondern aus dem Konflikt zwischen den USA und China Profite zu schlagen. Deutschland bleibt im westlichen Kapitalblock verankert, macht aber gleichzeitig riesige Geschäfte mit China, was sich durch die Investitionen in der asiatischen Infrastrukturbank oder den Joint Ventures deutscher Automobilkonzerne zeigt. Darüber sind die USA sichtlich nicht amüsiert. Obama, Trump und Biden waren sich darin weitgehend einig, Deutschland immer wieder vorzuwerfen, „die Bestie zu füttern“ (John Mearsheimer). Das sei auch erwähnt, um deutlich zu machen, dass – obwohl es momentan eine relative Einheit des Westens gegen Russland gibt – US-Interessen nicht (mehr) automatisch deutsche Interessen sind.
Die Rückkehr der scharfen Konfrontationen zwischen den Großmächten, die sich in der seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008/09 eröffneten Etappe international entwickelt und mit dem Ukrainekrieg nun einen qualitativen Sprung gemacht hat, macht es für den deutschen Imperialismus unmöglich, die Politik des Ausgleichs des Merkelismus auf ewig fortzusetzen. Schon im Merkelismus waren allerdings Vorbereitungen auf eine unübersichtlichere Weltlage mit einer aggressiveren Rolle Deutschlands angelegt, so zum Beispiel in der (zunächst nicht durchgesetzten) protektionistischen Industriestrategie Altmaiers gegen China und perspektivisch auch gegen die USA, sowie lange zuvor in der wirtschaftlichen Unterwerfung Südeuropas während der Staatsschuldenkrise. Auch der Regierung Merkel war klar, dass der industrielle Strukturwandel weder nach außen noch nach innen vollständig friedlich verlaufen wird. Die Umstellung der Bundeswehr auf eine Berufsarmee unter Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sowie die Auslandseinsätze in Afghanistan, Mali und weiteren Ländern waren ebenfalls Proben.
Nichtsdestotrotz ist die von Scholz verkündete militärische „Zeitenwende“ tatsächlich das: eine historische Neuorientierung des deutschen Imperialismus. Die weltweiten Bedingungen haben sich verändert, sodass die Bourgeoisie nun ein eigenständigeres und damit riskanteres internationales Auftreten auch militärisch durchsetzen will und muss. Das 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm trägt den strategischen Zielen Rechnung, die Bundeswehr sowohl zu kleinen, flexiblen Einsätzen, als auch zu „sehr großen Operationen“, so eine Formulierung in der „Konzeption der Bundeswehr“ von 2018, zu befähigen. Es handelt sich deshalb nicht einfach um eine gewisse Anpassung im Verteidigungsetat. Stattdessen nimmt sich Deutschland vor, in den kommenden Jahren die drittgrößte Militärmacht der Welt zu werden.
Um die Bedeutung dieses Schwenks, der für den deutschen Imperialismus eine neue Etappe eröffnet, lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Die von 1945 bis zum Ukraine-Krieg geltende außenpolitische Zurückhaltung wurde Deutschland nicht nur von den Siegermächten aufgezwungen, sie wurde auch von der deutschen Bourgeoisie lange Zeit gepflegt, nachdem sie zwei gewaltige Niederlagen erlitten hatte. Sie war besonders gut möglich während der Jalta-Ordnung (der Weltordnung zwischen 1945 und 1989), als sich die UdSSR und die USA als Blöcke Stellvertreter:innenkriege führten, aber im Großen und Ganzen eine Politik der „friedlichen Koexistenz“ der Supermächte die globale Ordnung bestimmte. Die BRD konnte in dieser Zeit im Windschatten der USA fahren, zunächst wirtschaftlich mit dem Marshall-Plan, dann auch militärisch mit der NATO und der Atomwaffenteilhabe. So gelang es der deutschen Bourgeoisie, aus den Ruinen des Krieges mit der wirtschaftlichen Integration Europas und später dem europäischen Binnenmarkt und dem Euro auf „friedlichem Wege“ erneut zur führenden Macht des Kontinents aufzusteigen. Es gelang ihr aber auch, die Arbeiter:innenklasse Deutschlands, durch ihre Industriegewerkschaften eine der wichtigsten der Erde, relativ ruhig zu stellen. Dies war zum einen durch die Überschussgewinne der hochentwickelten exportorientierten Industrie möglich, zum anderen, da weltweite Kriege und Krisen des Imperialismus auf Deutschland weniger stark zurückschlugen wie auf andere imperialistische Länder, die stärker in sie verwickelt waren.
Spätestens mit dem „Krieg gegen den Terror“ ab 2001 ging die Zeit vorbei, in der Deutschland sich auf den großen Bruder USA verlassen konnte. George Bush jr. rechnete die Bundesrepublik zusammen mit Frankreich zum „Alten Europa“ und schloss eine neue „Koalition der Willigen“ im Krieg gegen den Irak, den Deutschland und Frankreich aus geostrategischen Gründen ablehnten. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine ist das „Alte Europa“ wieder auf der Landkarte. Die (besonders von Trump) totgesagte NATO ist zurück und Deutschland kommt endlich der alten Forderung der USA nach, seine Militärausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen.
Also alles beim Alten für die Bourgeoisie, eine Wiederbelebung des Kalten Kriegs? Kaum. Die Welt ist eine radikal andere geworden. Die „Zeitenwende“ ist kein Weg zurück in eine für Deutschland ruhige Zeit. Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich eine multipolare Welt entwickelt, mit den USA als imperialistischem Hegemon, der aber seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09 auf dem absteigenden Ast ist – ein Abstieg, der vom Aufstieg Chinas begleitet wird. In dieser Zeit ist die EU nicht mehr nur ein Binnenmarkt für Deutschland, sondern ein Machtblock, den die deutsche Bourgeoisie braucht, um international eine Rolle zu spielen. Innerhalb dieses Blocks gibt es große innere Widersprüche, wie sie während der Euroschuldenkrise, während der sogenannten Flüchtlingskrise und während der Coronakrise deutlich herausgetreten sind, und auch nun während der Ukrainekrise – wenn auch noch vor allem latent – heraustreten. Sie bestehen besonders innerhalb der Eurozone zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, zwischen transatlantisch und stärker zu Russland oder China vermittelnd. Besonders der Brexit hat die EU tief erschüttert. Es gibt kein friedliches Zusammenwachsen kapitalistischer Nationalstaaten. Aber das imperialistische Streben Deutschlands (und auch Frankreichs) ist nur denkbar in einer Hegemonie über die EU, trotz aller Widersprüche.
Die Zeitenwende fällt nicht vom Himmel. Die Weichen dafür wurden bereits vor über 30 Jahren gestellt, mit der kapitalistischen Restauration (Wiederherstellung), die die „Wiedervereinigung“ und die Abwicklung eines großen Teils Osteuropas zu einem Hinterhof der EU und Deutschlands umfasste. Auch in China wurde ebenso wie in den meisten degenerierten oder deformierten Arbeiter:innenstaaten der Kapitalismus wieder eingeführt. Dazu gehörten auch zahlreiche nationale Konflikte, wie um Tschetschenien, und die ein Jahrzehnt lang andauernden Jugoslawienkriege. Auch Deutschlands militärische Wende kommt nicht aus dem Nichts. Die Bundesregierungen hatten seit 1999 eine ganze Reihe Kriegsbeteiligungen beschlossen und durchgeführt, vor allem im Kosovokrieg und bei der Besatzung Afghanistans, aber auch in Mali an der Seite Frankreichs. Der Ukrainekrieg ist eine Kombination aus den kapitalistisch unüberwindbaren nationalen Widersprüchen der kapitalistischen Restauration und der neuen Krisenperiode seit 2008/09. So war die Wiedereinführung des Kapitalismus in den ehemaligen degenerierten und deformierten Arbeiter:innenstaaten mit der Neugründung von Nationalstaaten und aufkeimenden nationalen Konflikte, wie in Jugoslawien, verbunden. Die Ukraine war eine dieser Hinterlassenschaften der kapitalistischen Restauration und wurde zwischen Russland und dem Westen nach und nach zerrissen.; Gerade führende konservative Politikwissenschaftler:innen wie John Mearsheimer sahen bereits in den 1990ern kommende Kriege um die Ukraine voraus.
Die Etappe, die sich mit der militärischen „Zeitenwende“ Deutschlands eröffnet hat, ist historisch. Die Welt und Deutschland werden für die kommenden Jahre (oder Jahrzehnte?) nicht mehr dieselben sein. Nichtsdestotrotz gibt es unterhalb dieser historischen Zeitspanne langsamere und schnellere Konjunkturen der Ökonomie, der Geopolitik und des Klassenkampfes von oben und von unten. Konjunkturell können wir noch von einer relativ friedlichen Situation im Innern sprechen: Es gibt zwar erste Proteste und auch viel Unmut mit der Regierungspolitik, aber noch gibt es keine Massenmobilisierungen auf den Straßen und die Gewerkschaftsbürokratien schaffen es weiterhin, die Arbeitskämpfe einzudämmen und Abschlüsse durchzusetzen, die die Inflation nicht ausgleichen. Doch in strategischen Sektoren wie den Häfen oder dem Metallsektor gab es eine Reihe von Streiks, die etwas Neues anzeigen. Und vor allem: Insgesamt bewegen wir uns in Richtung einer Übergangssituation, bei der schnellere Wendungen der Konjunktur möglich werden. Der russische Revolutionär Leo Trotzki schrieb 1935 in „Wohin geht Frankreich?“:
Im Prozess der Geschichte begegnet man stabilen, vollständig unrevolutionären Situationen. Man begegnet auch ausgesprochen revolutionären Situationen. Es gibt auch konterrevolutionäre Situationen (das soll man nicht vergessen!). Was aber in unserer Epoche, der Epoche des faulenden Kapitalismus ganz besonders vorherrscht, das sind mittlere und Übergangssituationen: zwischen nichtrevolutionären und vorrevolutionären, zwischen vorrevolutionären und revolutionären oder … konterrevolutionären Situationen. Gerade diese Übergangszustände sind von ausschlaggebender Bedeutung vom Standpunkt der politischen Strategie.
Was sind die Charakteristika dieser beginnenden Übergangssituation? Grundsätzlich bedeutet es, dass es eine strukturelle Krise des Kapitalismus gibt, deren Verschärfung zu einer Rückkehr der offenen Konfrontationen zwischen den Großmächten geführt hat. In diesem Rahmen muss die deutsche Regierung auf verschiedene Schläge von außen (ökonomisch und geopolitisch) reagieren. Nach innen ist die Regierung hauptsächlich durch ihre Reaktionen auf die äußeren Schläge bestimmt, wobei die grundlegenden Maßnahmen der Vermittlung, insbesondere in Bezug auf die Gewerkschaftsbürokratie, noch nicht überwunden sind. Dennoch ergeben sich aufgrund des Charakters der aktuellen Etappe erste Elemente dessen, was wir als eine „organische Krise“ (Gramsci) beschreiben können:
Die historische „Unternehmung“ der deutschen Bourgeoisie – ihre Hegemonie über die EU – und ihr exportorientiertes Akkumulationsmodell sind durch die weltweite Krise grundlegend in Frage gestellt. Insbesondere die strategische Ausrichtung zu China ist unter den Kapitalfraktionen und in der Regierung selbst heiß umstritten, wie die Debatte um den Einstieg chinesischen Kapitals im Hamburger Hafen und das Verbot der Übernahme des mittelgroßen Chipherstellers Elmos deutlich zeigen. Und die erwähnten Umfrageergebnisse der Regierung und insbesondere der Aufstieg der AfD und die von rechts angeführten Proteste in Ostdeutschland zeigen zusammen mit den historisch hohen Nichtwähler:innenzahlen ein latentes Repräsentationsproblem der bürgerlichen Institutionen an, das sich in einer Verschärfung der Krise explosiv entladen könnte. Gleichwohl liegen die Grenzen für die beginnende Übergangssituation vor allem darin, dass die Gewerkschaftsführungen als Vermittlungsinstanzen weiterhin kaum in Frage gestellt werden und die Regierung trotz größerer konjunktureller Unbeliebtheit und der Mobilsierungen von rechts nicht vor dem Zusammenbruch steht.
Vermittlungsinstanzen und neue Formen des Denkens
Welche Rolle die Gewerkschaften und die NGOs und ihr Pakt mit der Regierung in der aktuellen Situation spielen, lässt sich anhand von zwei Beispielen aufzeigen:
Fast zeitgleich hat Mitte Oktober in sechs Städten über die Bundesrepublik verteilt der Aktionstag #SolidarischerHerbst stattgefunden und eigenen, optimistischen Angaben zufolge 24.000 Menschen auf die Straßen gebracht. Das Bündnis aus Gewerkschaften, Sozialverbänden und NGOs hat sich dabei als ein linkes Korrektiv der Regierung positioniert, während die Regierung im Bündnis mit den Gewerkschaftsbürokratien und den Bossen gerade mit kleinen Zugeständnissen das Stillhalten der Massen angesichts der Krise erkaufen will. Mit schwammigen Forderungen wie „höheres Bürgergeld“, „eine bezahlbare Nachfolge für das Neun-Euro-Ticket“ und „bezahlbare Energie“ hatten neben Wohlfahrtsverbänden und (Klima-)NGOs unter anderem zumindest ver.di, die GEW und einige Betriebsgruppen zu den Demonstrationen in Berlin, Stuttgart, Frankfurt, Düsseldorf, Hannover und Dresden aufgerufen. In Berlin erreichten sie qua telefonischem Organizing einen kleinen Teil der Arbeiter:innenavantgarde, wie beispielsweise Teile der Krankenhausbewegung, streikende Lehrer:innen sowie die kämpferischen Kolleg:innen der Berliner Stadtreinigung. Die anderen DGB-Gewerkschaften sahen sich nicht einmal gezwungen, zu den Demonstrationen aufzurufen.
Zum Anderen zeigt der Abschluss der Tarifrunde der chemischen Industrie mit der IGBCE, dass die Gewerkschaftsführungen gemeinsam mit den Bossen und der Regierung Vereinbarungen für Einmalzahlungen mit langen Tariflaufzeiten treffen, durch die industrielle Sektoren so ruhig gestellt werden, dass de facto ein Reallohnverlust hingenommen wird. Dabei hatten die Gewerkschaftsführungen zunächst den Vorstoß der Ampel nach einer „konzertierten Aktion“ abgelehnt, die Streik- und Reallohnverzicht zugunsten des sozialen Friedens bedeutet hätte – nun zeigt sich aber, dass diese durch die Hintertür mit Einmalzahlungen und langen Friedenspflichten während laufender Tarifverträge dennoch durchgesetzt wird.
In der laufenden Metalltarifrunde hätte dieses Modell auf die Probe gestellt werden können. Hätte es statt des Pilotabschlusses in den kommenden Wochen größere 24-stündige Warnstreiks in ganz Deutschland mit potenziell hunderttausenden Beschäftigten gegeben, hätten sich auch neue Möglichkeiten für einen strategischen Sektor des Proletariats in Deutschland eröffnen können, Kampferfahrungen zu sammeln. Doch die Streiks waren vollständig von der IG-Metall-Bürokratie kontrolliert. Die Beschäftigten hatten keine Möglichkeit, über den weiteren Streikverlauf demokratisch zu diskutieren und zu entscheiden – geschweige denn darüber, wie der Kampf für eine (angesichts der Inflation unzureichende) Lohnforderung von acht Prozent verbunden werden kann mit weitergehenden Forderungen wie einem sozial-ökologischen Umbau der Branche, der Enteignung der großen Energiekonzerne, damit die Kapitalist:innen selbst für die Krise zahlen, oder auch mit Forderungen gegen Krieg und Militarismus. Stattdessen hat die Bürokratie in der fünften Verhandlungsrunde in Baden-Württemberg bereits einen Abschluss erzielt, den sie nun auch in den anderen Tarifbezirken durchsetzen will. Es wird nun an den Streikenden in diesen Bezirken selbst liegen, angesichts der miserablen Angebote der Bosse und der ohnehin bescheidenen gewerkschaftlichen Forderung einen schlechten Deal zu verhindern und über den Pilotabschluss aus Baden-Württemberg hinauszugehen.
Diese Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie, die den Kampf in engen ökonomischen Bahnen hält, bleibt auch über den Metallsektor hinaus bisher größtenteils unhinterfragt. Selbst beim emblematischen Arbeitskampf an den Nordseehäfen, bei denen es eine gewisse Organisierung an der Basis gab, mit Versammlungen und zum Teil radikaleren Aktionen, hat die ver.di-Bürokratie eine Friedenspflicht verhandelt, welche den Arbeiter:innen die Hände band, und vor dem Ende der Friedenspflicht einen Abschluss durchgedrückt, der die unteren Lohngruppen mit Brotkrumen abspeiste. In der NRW-Krankenhausbewegung, die mehr als 70 Tage lang streikte, ergaben sich gewisse Elemente von Streikdemokratie wie ein Delegiertensystem und Streikversammlungen (ohne direktes Mandat, aber mit wohl realem Einfluss auf die Verhandlungsführung). Diese Erfahrungen der Selbstorganisation blieben jedoch von der Bürokratie kontrolliert, sodass sie (noch) keine Schritte hin zu einer antibürokratischen Strömung in den Gewerkschaften darstellen – was sich aber in einer zugespitzten Klassenkampfsituation verändern kann.
Der Verlauf der kommenden TVöD-Runde, bei der es um den Inflationsausgleich für 2,3 Millionen Beschäftigte geht, kann bei der allgemeinen Verteidigung der Massen vor der Inflation eine entscheidende Rolle spielen. Bisher versucht die Bürokratie die Diskussion um die Tarifrunde in Grenzen zu halten, indem Forderungen, die weit über die Inflation hinausgehen, als unrealistisch bezeichnet werden. Die allgemeine Stimmung unter den Beschäftigten ist jedoch klar die Forderung nach einem substanziellen Inflationsausgleich.
Insgesamt ergibt sich trotz der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie eine Situation, in der „neue Formen des Denkens“ entstehen können. Nach Jahren des Verzichts entwickelt sich langsam ein Bewusstsein, die Krise nicht einfach hinzunehmen, sondern für die eigenen Lebensbedingungen zu kämpfen. Dies kann potenziell Wege zur Infragestellung der bürokratischen Vermittlungsinstanzen wie den Führungen der Gewerkschaftsapparate eröffnen, wenn diese weiterhin Abschlüsse unterhalb der Inflation verhandelt. Es kann aber auch angesichts einer Ampelregierung, die zwar gewisse Zugeständnisse für den sozialen Frieden macht, deren Maßnahmen jedoch weithin als unzureichend gesehen werden, den Weg für eine Infragestellung der Regierung von links eröffnen.
Die strategischen Fragen für eine Bewegung gegen Gaspreise und Inflation wird in dem Sinne zum ersten sein, inwieweit sie in Konfrontation zur Regierung und zum Regime gehen wird; und sie wird zweitens sein, inwiefern Teile der Arbeiter:innenklasse sie mit einem hegemonialen Programm anführen können. Damit verbunden stellt sich die Frage, wie sich diese Teile der Arbeiter:innenklasse in solchen Kampfprozessen gegen die Gewerkschaftsbürokratie und den Reformismus behaupten können. Letztlich muss das auch eine Diskussion über eine Alternative zur Linkspartei und den Aufbau einer antibürokratischen Strömung in den Gewerkschaften bedeuten.
Die große Grenze dafür ist, dass die Linke weiterhin keine grundsätzliche Opposition zur Regierung vorschlägt. Das drückt sich insbesondere in der Trennung von politischen und ökonomischen Forderungen aus, die weit in die radikale Linke reicht, und in der fast vollständigen Abwesenheit von Forderungen gegen Sanktionen, Waffenlieferungen und insgesamt gegen den militaristischen Kurs der Zeitenwende resultiert. Währenddessen haben die Rechten die politischen Themen wie Krieg und Sanktionen in ihrem Sinne besetzt und mit ihrem demagogischen Diskurs in Ostdeutschland zeitweilig Zehntausende erreicht.
Das reformistisch-kleinbürgerliche Projekt „Genug ist Genug“ (GiG) schlägt dazu vor, dass die Gewerkschaften mehr Druck machen müssen, um in den Verhandlungen sicherzustellen, dass Privathaushalte nicht ganz so lange auf Entlastungen warten müssen wie bisher vorgesehen. Eine grundlegend andere Politik wäre das jedoch nicht – ganz zu schweigen davon, dass die tatsächliche Mobilisierungsfähigkeit von GiG bisher sehr begrenzt ist. So ist GiG bislang nicht darauf ausgelegt, eine echte materielle Kraft in den Betrieben, Schulen und Unis zu organisieren, sondern eben von links einen Verhandlungsdruck auf die Regierung aufzubauen. Inzwischen sind selbst die Grüne Jugend und Teile der SPD Teil von „Genug ist Genug“. Gegen diese Vermittlungspolitik gilt es, eine revolutionäre Fraktion in solchen Bündnissen aufzubauen, um eine klassenkämpferische und antiimperialistische Opposition in den Inflationsprotesten gegen die Politik der Regierung zu schaffen. Denn die Politik der Ampel ist nicht einfach nur „nicht ausreichend“, um Menschen in Deutschland zu entlasten. Besonders die außenpolitische Zeitenwende – verbunden mit den beispiellosen Aufrüstungsplänen der Bundeswehr – werden solche Krisen, wie wir sie heute erleben, immer wieder aufflammen lassen. Deshalb kämpfen wir dafür, dass auch die kommenden Tarifrunden nicht nur einfache (wenn auch notwendige) Lohnrunden bleiben, sondern zu Kämpfen gegen die Aufrüstung und die imperialistischen Sanktionen werden. Wir wenden uns gegen die Stärkung des deutschen Imperialismus in der Welt. Denn das bedeutet für Milliarden Menschen weltweit mehr Privatisierung, Umweltzerstörung, Ausbeutung und Hungerkrisen. Wir wollen den deutschen Imperialismus nicht etwas grüner anstreichen, sondern stürzen. Wir stehen an der Seite der Arbeiter:innen, der Jugend und aller Unterdrückten der Welt, die unter dem deutschen Imperialismus leiden und wollen gemeinsam mit ihnen für eine internationalistische revolutionäre Partei kämpfen, die weltweit der Kriegstreiberei, der Umweltzerstörung und der Ausbeutung der imperialistischen Staaten ein Ende setzt.
Riesa als Antwort auf die erstarkende Rechte im Osten
Die Mobilisierungen der Rechten in Ostdeutschland bleiben, auch wenn sie stagnieren oder rückläufig sind, ein wichtiges Element der nationalen Situation. Das gilt umso mehr in Anbetracht der fehlenden Mobilisierungskraft der politischen Linken.
Zurecht sind insbesondere im Osten viele Menschen frustriert von der unsozialen Politik nicht nur der Ampelregierung, sondern aller Bundesregierungen der vergangenen drei Jahrzehnte, in denen die Arbeits- und Lebensbedingungen nach der kapitalistischen Restauration zerstört wurden. Hinzu kommt, dass auch die direkten wirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine und der Wirtschaftssanktionen gegen Russland den Osten Deutschlands härter treffen. Genau dies ist der soziale Nährboden, auf dem rechte bis rechtsextreme Kräfte wie AfD und Co. mit ihren chauvinistischen und rassistischen politischen Forderungen gedeihen. Sie bringen anlässlich der steigenden Energiepreise zehntausende Menschen auf die Straße, indem sie ihre Spaltung der Arbeiter:innen an nationalen, geschlechtlichen und religiösen Linien und die Hetze gegen Geflüchtete als Antwort auf die Krise präsentieren. Dabei läuft ihr politisches Programm vor allem auf eine Wahrung der deutschen Konzernprofite hinaus. So verteidigt die AfD etwa die Hartz-IV-Sanktionen, um den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen, was die durchschnittlichen Löhne verringert.
Das bedeutet aber nicht, dass es in Ostdeutschland keine progressiven Kämpfe gibt. Ganz im Gegenteil gibt es in Ostdeutschland regelmäßig gewerkschaftliche Kämpfe, wie aktuell beim Teigwarenhersteller Riesa. Die Beschäftigten des ostdeutschen Nudelmarktführers befinden sich in der sechsten Streikwoche. Angesichts dessen, dass ihr Lohn nur knapp über dem Mindestlohn liegt, fordern sie einen Euro mehr Stundenlohn ab sofort und einen weiteren Euro im nächsten Jahr. Damit wehren sie sich nicht nur offensiv gegen die Folgen von Inflation und Krise, sondern auch gegen den Niedriglohnsektor als solchen, den sie abgeschafft sehen wollen. Sie wenden sich gegen die „Lohnmauer“ zwischen Ost und West, die emblematisch für die Entrechtung und soziale Misere eines Großteils der Bevölkerung Ostdeutschlands steht. Über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Löhne in Ostdeutschland immer noch auf einem deutlich niedrigeren Niveau als im Westen und die materielle Lage damit besonders in der Krise noch schlechter. Im Jahr 2022 liegt der Unterschied im durchschnittlichen Gehalt zwischen Beschäftigten im Osten und Beschäftigten im Westen bei 12.173 Euro.
Angesichts des Aufstiegs der Rechten kann die Antwort von links nicht sein, von der Regierung nur eine etwas stärkere soziale Abfederung zu verlangen, während deren rassistische Abschiebepolitik ignoriert und Sanktionen oder Waffenlieferungen an die Ukraine als Teil einer imperialistischen Politik toleriert oder ausgeblendet werden, wie es die Gewerkschaftsführungen oder auch die linke Protestplattform „Genug ist Genug“ tun. Im Gegenteil muss es die Aufgabe sein, den Kampf gegen die Inflation und Streiks für höhere Löhne mit einem Kampf für eine hegemoniale Antwort der Arbeiter:innen auf die soziale Misere zu verbinden. Das bedeutet ein Programm zum Schutz von kleinen Selbständigen und Kleinsparer:innen, für eine automatische Anpassung der Renten, BaföG und aller Sozialleistungen aufzustellen – und dafür, dass die Kapitalist:innen die ökonomische und ökologische Krise bezahlen müssen: durch massive Gewinn- und Vermögenssteuern, die Verstaatlichung der Energiekonzerne, der Immobilienkonzerne, der verarbeitenden Industrie insgesamt, für einen ökologischen Umbau im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung.
Die Streikenden von Riesa machen erste wichtige Schritte dafür vor, indem sie ihren Kampf für höhere Löhne mit einer Anklage der Politik der Bundesregierung verbinden und zugleich aufzeigen, dass es nicht notwendig ist, der im Kern neoliberalen AfD auf die Straße zu folgen, sondern die Methoden der Arbeiter:innenklasse im Kampf gegen die Krise eine überlegene Antwort bieten können.
Strategische Schlussfolgerungen
Die Strategie der Linken angesichts der Stärkung der Rechten kann nicht im Schulterschluss „aller demokratischen Organisationen“ oder darin, sich in die Front der Ampelkoalition einzureihen, bestehen. Die Politik der Regierung ist kein „geringeres Übel“ angesichts rechter Mobilisierungen. Nur eine konsequente Opposition von links, die der Sicherung der Gewinne des Kapitals ein soziales Notfallprogramm entgegenstellt, das die kapitalistischen Profitinteressen angreift und sozialistische Perspektive angesichts von Krise, Krieg und Klimakatastrophe aufwirft, kann dem Aufstieg der Rechten das Wasser abgraben. Für sofortige Preisstopps, für die automatische Angleichung von Löhnen, Renten, Sozialleistungen, Bafög etc. an die Inflation, für hohe Gewinn- und Vermögenssteuern, für die Enteignung von Immobilen- und Energiekonzernen in der Perspektive der entschädigungslosen Enteignung aller Großunternehmen unter Kontrolle der Arbeiter:innen, für einen sozialen und ökologischen Umbau des Energiesystems und der gesamten Wirtschaft, gegen den Krieg, Sanktionen und Waffenlieferungen, gegen die 100-Milliarden-Aufrüstung. Weder Putin noch NATO, und gegen den Militarismus des deutschen Imperialismus.
Um ein solches Programm umzusetzen, ist es notwendig, die bremsende Rolle der Bürokratien der Gewerkschaften und NGOs zu überwinden und ihr eine Perspektive der Selbstorganisation und der Koordinierung der Kämpfe gegenüberzustellen. Eine Debatte darüber, was für eine Partei die Arbeiter:innen und die Jugend brauchen, ist nötig, um unabhängig von Regierung, Kapital und Bürokratie eine Antwort auf Krieg, Krise und Klimakatastrophe zu geben.
Denn während die Krise immer weiter voranschreitet, befindet sich die Linkspartei in der tiefsten Krise ihrer Geschichte, die auch nach dem Krisenparteitag im Juni nicht ansatzweise gelöst wurde. Der kontinuierliche Rückgang der Wähler:innenstimmen ist für die Partei besonders verheerend, weil DIE LINKE eine elektoralistische, das heißt, eine strategisch auf Wahlen und Parlamentssitze ausgerichtete Partei ist. So zeigt sich, dass größere Sektoren sich nicht mehr von der Linkspartei vertreten fühlen und vor allem in Richtung des Nichtwähler:innen-Lagers abwandern. Dieses Lager wird immer mehr zur „stärksten Partei“ – insbesondere im Osten –, was das Repräsentationsproblem des deutschen Regimes ausdrückt. Ohne Alternative von links wird dieses Repräsentationsproblem jedoch passiv bleiben oder gegebenenfalls sogar nach rechts kanalisiert werden.
Die Wahlniederlagen der LINKEN sind Ausdruck einer kontinuierlichen Rechtsentwicklung der Partei, die in ihren Regierungsbeteiligungen in mehreren Bundesländern und in ihrer strategischen Perspektive der Mitverwaltung des bürgerlich-kapitalistischen Staates wurzelt. Dies wurde insbesondere seit Beginn des Ukraine-Kriegs deutlich, wo die Partei Sanktionen gegen Russland unterstützt und die Opposition zur NATO weitgehend über Bord geworfen hat – eine Konsequenz der Entwicklung, die schon bei der letzten Bundestagswahl sichtbar wurde. Eine Mobilisierungsperspektive gegen den Krieg und gegen die Interessen des deutschen Kapitals darin vertritt die Partei nicht. Dasselbe gilt für die Antwort der Linkspartei auf die Inflation, wo sie ein seichtes Programm vertritt, ohne dafür größere Proteste organisieren zu können. Die neue Parteispitze steht für ein „Weiter so“, was bedeutet, dass sich die Tendenzen des Niedergangs der Partei vertiefen werden – bis hin zu einer möglichen Abspaltung des Flügels um Sahra Wagenknecht –, auch wenn die Partei aufgrund ihrer Verankerung in mehreren Landesregierungen nicht einfach so verschwinden wird.
Anstelle der Fokussierung auf minimale Reformen in Parlament und Regierung, wie sie die Linkspartei vertritt, zeigt die Krise die immer dringende Notwendigkeit auf, Schritte in Richtung des Aufbaus einer revolutionären, sozialistischen Organisation zu gehen. Die wachsende Konfrontation der Großmächte und die katastrophale Perspektive des Klimawandels kündigen unvorstellbares Elend für Millionen Menschen an. Anstelle der Misere des „Möglichen“ gilt es, in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen revolutionäre Fraktionen aufzubauen und eine sozialistische, antiimperialistische und ökologische Perspektive der Arbeiter:innenklasse und der Jugend zu entwickeln. Denn die Utopie ist nicht der Sozialismus, sondern die Illusion, dass es im Kapitalismus einen Ausweg aus der existenziellen Krise der Menschheit geben kann.