Eine Studierendenbewegung macht sich auf, Bangladesch zu erobern
Studierende in Bangladesh sind auf die Straße gegangen, um gegen das Quotensystem der Regierung zu protestieren, welches den Arbeitsmarkt einschränkt. Während Tausende auf die Straße gehen, reagiert die Regierung mit einer noch nie dagewesenen Repression.
Die Universitätsgelände von Dhaka sind in der Regel friedliche Orte, weit weg vom Verkehrslärm der Stadt. Die Gebäude der Jahangirnagar-University sind in die Dschungelwälder des Golfs von Bengalen eingebettet, wo die Jugendlichen in den Teestuben ihre Ideen austauschen und die Skills für ihr künftiges Leben erlernen können. Auch die Universität Dhaka verfügt über solch große Parks, die die gleiche Ruhe und Abgeschiedenheit vermitteln sollen.
Bis vor wenigen Tagen hätten nur wenige geahnt, dass die Jugend dieser Universitäten die Straßen der Hauptstadt überschwemmen und eine große Rebellion anzetteln würde, die sich bald über das ganze Land ausbreiten und eine noch nie dagewesene Krise auslösen würde, die die derzeitige Regierung der Awami-Liga in die Schranken weisen würde.
Seit Beginn des Aufstandes vor drei Wochen hat die Regierung eine Ausgangssperre verhängt und paramilitärische Kräfte eingesetzt, um die Proteste einzudämmen. Über hundert Menschen sollen getötet worden sein.
Wie hat es begonnen?
Die aktuelle Bewegung wurde durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs ausgelöst, mit dem die Regierung von Premierministerin Sheik Hasina das Quotensystem für staatliche Stellen wieder einführte, das nach einer Protestwelle gegen dieses System seit 2018 auf Eis gelegt war. Das Quotensystem besagt, dass 30 Prozent der begrenzten Quoten für Familienangehörige der Veteran:innen des pakistanischen Unabhängigkeitskrieges von 1971 reserviert sind. Die Protestierenden halten dagegen, nach Ansicht der Studierenden sollte die Zulassung auf der Grundlage von Verdiensten erfolgen, d. h. auf der Grundlage der besten Ergebnisse in Auswahlprüfungen. Nach der Entscheidung der Regierung, die Quote wieder einzuführen, ließ der Ärger nicht lange auf sich warten.
Tausende von Studierenden aller Universitäten strömten spontan auf die Straßen von Dhaka, Chittagong und anderen Städten. Von der Universität Dhaka, Jahangirnagar, Rangpur und Cumilla aus hielten die Jugendlichen Sit-ins auf den Hauptstraßen der 30-Millionen-Metropole ab. Die Bewegung breitete sich schnell auf andere Städte aus; Universitäten im Landesinneren schlossen sich ihr an, ebenso wie Oberschüler:innen.
Die Regierung reagierte auf diese Proteste mit massiver Repression. Hasinas Repressionsapparat agierte harsch, der an jedem Protestpunkt Tränengas abfeuerte und Studierende mit Stöcken schlug. Das Sicherheitspersonal wurde auch durch Schläger:innen aus ihrer Studierendengruppe, der Chhatra League, unterstützt, die mit Macheten – manche auch mit Gewehren – bewaffnet waren, um die Studierenden, darunter viele Frauen, zu schlagen.
Am Montag, dem 15. Juli, kam es zum Bruch: Bei Zusammenstößen auf der Straße wurden mindestens 6 Menschen getötet und 500 verletzt. Die Proteste verschärften sich, nachdem Hasina den Studierenden gesagt hatte, sie seien „razakars“, eine Bezeichnung, die für Kriegsverbrecher:innen und Kollaborateur:innen Pakistans während der Unabhängigkeit verwendet wird.
Alle bestehenden Studierendenorganisationen haben sich an den Mobilisierungen beteiligt; die Bewegung ist dabei mit keiner bestimmten Partei verbunden. Als Reaktion auf die Repressionen sind die Proteste nur noch gewachsen. Weitere Sektoren haben sich den Forderungen der Studierenden angeschlossen, wie z. B. die Ärzt:innengewerkschaft und einige aus dem für das Land strategischen Textilsektor, wie z. B. die Bangladesh Garment Workers‘ Trade Union Confederation (GWTUC).
Jenseits der Quoten
Die Proteste der Studierenden sind tiefgreifend, weil sie den Kern der Staatsmacht von Sheik Hasina und ihrer Partei, der Awami-Liga, treffen. Wie bereits erwähnt, ist ein Drittel der staatlichen Stellen für die Kinder derjenigen reserviert, die 1971 für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft haben. Einige sind auch für Frauen, ethnische Minderheiten und behinderte Menschen reserviert. Die Studierenden beklagen jedoch, dass die Regierung durch die Monopolisierung eines Großteils der Stellen im öffentlichen Dienst eine „Diktatur“ aufbaut.
Sie sind der Meinung, dass das System die Kinder von Anhänger:innen der regierenden Partei von Premierministerin Sheikh Hasina, die im Januar 2024 zum vierten Mal in Folge gewählt wurde, ungerechtfertigt begünstigt. Die Premierministerin ist die Tochter von Scheich Mujibur Rahman, der von den meisten Bangladescher:innen als Gründer des Landes nach seiner Unabhängigkeit angesehen wird. Rahman wurde 1975 durch einen Militärputsch getötet, der die Unterstützung für die andere große politische Familie Bangladeschs, die Zias, die die Bangladesh Nationalist Party (BNP) führen, wachsen ließ. Hasina rechtfertigt dabei ihre Politik mit dem nationalistischen Mythos um die Held:innen des Unabhängigkeitsskriegs von 1971, um die politische Opposition von rechts und links zu bekämpfen.
Bangladesch verzeichnete in den letzten Jahrzehnten ein starkes und anhaltendes Wachstum (6% pro Jahr), das durch den Textilsektor, Immobilieninvestitionen und öffentliche Bauvorhaben vorangetrieben wurde, während sich strukturelle Probleme wie Arbeitslosigkeit und extreme Armut der Mehrheit der 170 Millionen Einwohner:innen verschärft haben. Die prosperierende Phase kommt jedoch seit dem Jahr 2022 zum Halten und ist seitdem durch einen starken wirtschaftlichen Abschwung geprägt.
Vor diesem Hintergrund verweisen die Studierendenproteste auf die Krise beim Zugang zur Beschäftigung für junge Menschen. Nach Abschluss des Studiums muss ein:e Bangladescher:in einen finanziellen Engpass überwinden, um einen Arbeitsplatz zu finden: Nach Angaben des Bangladesh Bureau of Statistics (BBS) drängen jedes Jahr zwischen 1,8 und 1,9 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Der Wettbewerb ist hart. Viele arbeiten im Ausland, um Geld an ihre Familien zu überweisen. Inzwischen werden viele junge Menschen zu Straßenhändler:innenn, die Paan, Zigaretten oder Straßenessen wie Alu Poori, Begini und Tee verkaufen.
Darüber hinaus müssen viele von ihnen der Polizei ein „Bestechungsgeld“ zahlen, um ihre Geschäfte zu „bewachen“. Nach Angaben der Bangladesh Street Vendors Federation muss jede:r Straßenverkäufer:in eine sogenannte „Maut“ von 300 Taka pro Tag zahlen, was bedeutet, dass pro Jahr etwa 30 Milliarden Taka an „Maut“ eingenommen werden.
Auf der anderen Seite sind viele gezwungen, nach ihrem Abschluss an einer privaten Universität einen Job für ein niedriges Monatsgehalt von nur 10.000 bis 12.000 Taka (80 bis 95 Euro) anzunehmen. Dies ist zum Teil der Fall bei den Textilarbeiter:innen, die für einen Mindestlohn von 23.000 Taka (ca. 180 Euro pro Monat) kämpfen und sich für die Verbesserung ihrer unwürdigen Arbeitsbedingungen einsetzen.
Diese Krisen werden durch die Tatsache verschärft, dass in Bangladesch das Studium an einer Bildungseinrichtung auch an materielle Mittel gebunden ist. Jedes Jahr brechen Hunderttausende von Schüler:innen die Primar-, Sekundar- und Hochschuleinrichtungen aufgrund von Armut ab. Arbeiter:innenfamilien haben keine ausreichenden Möglichkeiten, ihren Kindern eine bessere Alternative zu bieten.
Angesichts der explosiven Wut einer zurückgelassenen Generation hat die Regierung von Sheik Hasina das Internet und die Kommunikation innerhalb des Landes gekappt und die Armee eingesetzt, um die Proteste niederzuschlagen. Die Regierung hat Razzien in den Büros der Oppositionsparteien durchgeführt und das gesamte Bildungssystem lahmgelegt. In der Praxis herrscht der Ausnahmezustand.
Seit Beginn der Proteste hat der GWTUC seine Solidarität bekundet, aber erklärt, dass „es wahrscheinlich ist, dass wir zu einem Streik im Textilsektor aufrufen werden, um der Diktatur entgegenzutreten“. Obwohl die Gewerkschaften im Textilsektor stark zersplittert sind, hat der GWTUC in den letzten Jahrzehnten eine wichtige Rolle im Kampf um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gespielt. Die aktive Beteiligung der Textilgewerkschaften könnte der Regierung schnell den Arm verdrehen und die Bewegung radikalisieren.
Zwischen dem Stadtteil Savar und der Innenstadt von Dhaka gibt es unzählige Textilfabriken. Auf seiner täglichen Busfahrt sagt Kais, ein Student der Jahangirnagar-University: „Die Arbeiter:innenklasse ist müde; sie wird sich sehr bald der Protestbewegung anschließen.“ Für ihn wäre dies der Anfang vom Ende von Hasina und der Awami-Liga“.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in La Izquierda Diario am 16. Juli 2024 veröffentlicht.