Eine radikale Täuschung
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// NEOREFORMISMUS: Projekte wie die griechische Syriza, die spanische Podemos oder die kurdische HDP befinden sich im Aufschwung. Sie versprechen Verbesserungen für die Massen durch demokratische Reformen. Doch weil sie den Klasseninhalt des kapitalistischen Staats ignorieren, sind sie zum Scheitern verurteilt. //
Vor dem Hintergrund der weltweiten neoliberalen Offensive seit der Mitte der 1970er Jahre, die sich in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten festigte, haben Theorien der „Postmoderne“ eine Hegemonie innerhalb der Linken erreicht. Ausgehend von der Verneinung des Klassenantagonismus greifen sie Begriffe wie „Gleichheit und Freiheit“ auf und versuchen auf politischer Ebene, die liberale Demokratie im Rahmen des Kapitalismus auszuweiten. Schlagworte dafür sind „radikale Demokratie“ oder „Demokratie bis zum Schluss“.
Ihre Konzepte sind jedoch weit entfernt von der radikal-demokratischen Tradition, die in der Pariser Kommune 1871 umgesetzt wurde und seitdem Teil des marxistischen Programms geworden ist, mit Forderungen wie der jederzeitigen Abwählbarkeit von FunktionärInnen oder der Begrenzung der Gehälter von Abgeordneten auf die Höhe eines ArbeiterInnenlohns. Im Gegenteil: Diese neuen Theorien sind nicht bestrebt, die Grenzen der bürgerlichen Demokratie zu sprengen und die Massen auf den Kampf um die sozialistische Revolution vorzubereiten, sondern führen gerade zur Integration von widerständigen Sektoren in den bürgerlichen Parlamentarismus.
VertreterInnen dieser Theorien sind etwa die „postmarxistischen“ Intellektuellen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau mit ihrem im Jahr 1985 erschienenen Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“. Neben TheoretikerInnen des Eurokommunismus wie Nicos Poulantzas, den wir in einer früheren Ausgabe von Klasse gegen Klasse schon analysiert haben, sind Laclau und Mouffe zentrale Referenzen der neoreformistischen Projekte wie Syriza, Podemos oder der HDP.
Die neue Form der Klassenversöhnung
Die Hauptthese der „radikalen Demokratie“ in der Variante von Laclau und Mouffe besteht darin, dass die „Radikalisierung“ der liberalen Demokratie die „Hegemonie“ des Kapitals einschränken wird. Sie lehnen den zentralen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, den unversöhnlichen Konflikt zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie, ab. Nach ihrer Theorie sind die ArbeiterInnen in der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren fundamentalen Forderungen und Kapazitäten kein privilegiertes Subjekt, das sich von anderen politischen Identitäten wie FeministInnen, UmweltaktivistInnen, LGBTI-Menschen, ethnischen Minderheiten und Geflüchteten etc. abhebt.
Der Kampf um die Emanzipation von Unterdrückung zielt deshalb auch nicht mehr auf den Sturz des kapitalistischen Staats, sondern auf die Ausweitung pluralistischer Demokratie. Denn nach Mouffe und Laclau bestand der hauptsächliche „Fehler des Sozialismus“ darin, den Kapitalismus durch eine hierarchische und autoritäre Machtform des Proletariats zu ersetzen und dabei auf die Demokratie zu verzichten. Ohne Bezug auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln, welches den Charakter der bürgerlichen Demokratie bestimmt, plädieren die Post-MarxistInnen für den ununterbrochenen demokratischen Kampf der „sozialen Bewegungen“ zur Schaffung eines „Sozialen“, in dem multiple Identitäten ihre Freiheiten und Perspektiven des Zusammenlebens finden.
Selbstverständlich ignoriert der revolutionäre Marxismus die sozialen und demokratischen Fragen der unterdrückten Sektoren nicht. Nach der Oktoberrevolution bereiteten die Bolschewiki der politischen Gleichheit und Gerechtigkeit im neu gegründeten ArbeiterInnenstaat den Boden: Frauen erhielten das Wahlrecht und die Möglichkeit der Selbstorganisierung, die Kindererziehung und Hausarbeit wurden vergesellschaftet, Abtreibung und Homosexualität wurden legalisiert. Mit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts wurde die Gleichheit der Nationen und Sprachen eingeleitet. Die Einführung dieser wesentlichen Elemente der Demokratie war nur mit dem Sturz des Zarismus und der Bourgeoisie möglich, durch eine von der ArbeiterInnenbewegung angeführte Allianz mit allen Unterdrückten.
Diese und weitere Errungenschaften der Oktoberrevolution wurden mit der Machteroberung Stalins zurückgeschraubt. Stalin als Vertreter des bürokratischen Apparats, welcher sich zunächst in der Sowjetunion und später in den anderen degenerierten ArbeiterInnenstaaten über die ArbeiterInnenklasse erhob, stellte zunächst den Marxismus mit der „Theorie des Sozialismus in einem Land“ auf den Kopf. Die Sowjets (Räte), die Organe der Selbstorganisation der ArbeiterInnen, SoldatInnen und Bauernschaft, wurden im Interesse der privilegierten Kaste der Bürokratie entmachtet. So zentralisierte sich die Macht in den Händen der Bürokratie, die die Diktatur des Proletariats in die Diktatur der Bürokratie verwandelte.
Aufschwung des Neoreformismus
Der aktuelle Aufschwung von neoreformistischen Parteien hängt eng zusammen mit der weltweiten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise, welche verschiedene Protestbewegungen gegen die Angriffe der kapitalistischen Regierungen auf die politische Bühne brachte. Nach dem Scheitern der Massenmobilisierungen in den vergangenen Jahren projizierten breite Schichten von ArbeiterInnen und Jugendlichen politische Illusionen in diese neoreformistischen Formationen – so folgte beispielsweise auf die spanische 15M-Bewegung der Aufschwung von Podemos. Trotz Unterschiede in der Basis entstanden Phänomene wie Podemos oder Syriza zunächst als Wahlfronten mit den sozialen Bewegungen, GewerkschafterInnen und radikalen Linken. Ihre Führungsfiguren kommen aus dem akademischen Milieu oder aus sozialen Bewegungen. Ihre Strategie zielt auf ihre Existenz als Wahlverein und die Integration kämpferischer Sektoren in den Parlamentarismus ab, mit dem Ziel, die Verwaltung des bürgerlich-kapitalistischen Staates selbst zu übernehmen.
Die ideologische Einheit dieser Parteien besteht zum einen darin, mit sozialdemokratischen Reformen den Kapitalismus „humanitär“ zu gestalten, und zum anderen, die Illusion zu schüren, reaktionäre Institutionen wie die Europäische Union im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung „demokratisieren“ zu können.
Sackgasse von Syriza und Podemos
Die erste Konfrontation mit diesem Kurs erlebt momentan Syriza. Diese Linkspartei versprach bei den letzten Wahlen in Griechenland unter anderem die Streichung eines Teils der Schulden, kostenlose Stromversorgung, kostenlosen Gesundheitsdienst sowie Renten- und Mindestlohnerhöhungen. Sie konnte letztendlich kein einziges Wahlversprechen umsetzen, sondern kapitulierte vor dem Terror der Troika. Der Syriza-Vorsitzende und griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras nutzte das Referendum am 5. Juli als Manöver, um einerseits den Platz am Verhandlungstisch zu befestigen, andererseits Stimmenverluste und eine interne Spaltung zu verhindern. Das Referendum ist also kein Beispiel einer „radikalen Demokratie“ von unten, sondern einer Unterordnung unter ein politisches Projekt, welches dem Kapitalismus den materiellen Boden nicht entzieht und deshalb zur Kapitulation verurteilt ist.
Podemos konnte sich seinerseits bei den Regional- und Kommunalwahlen am 24. Mai als dritte Kraft in der spanischen Parteienlandschaft etablieren. Die Führung von Podemos zielt auf die Schaffung einer „anständigen“, nicht korrupten Regierung, also auf die Übernahme der Regierung des kapitalistischen Staats ab. Nach ihrer Selbstbeschreibung ist Podemos „weder rechts noch links“, doch spätestens an der Regierung wird sie sich dem Paradigma des kapitalistischen Sachzwangs und der Austerität beugen müssen.
Nachdem Podemos nach den Europawahlen ihren ersten großen Erfolg errang, machte sich die Führungsriege daran, die Macht der in sogenannten Zirkeln aktiven Basis einzuschränken, und die am besten organisierte „Opposition“, Izquierda Anticapitalista, die spanische Sektion des Vereinigten Sekretariats, anzugreifen. Auf dem Gründungskongress im Herbst vergangenen Jahres war schon ein Organisationsmodell gewählt worden, in dem der Generalsekretär die meiste Macht besitzt und sich diese durch passive Online-Abstimmungen bestätigen lässt. Zudem wurde beschlossen, dass „Doppelmitglieder“ nicht für Podemos bei Wahlen kandidieren dürfen. Dieser Kurs bedeutet nichts anderes als Karikierung der Demokratie!
Die Strategie der kurdischen HDP konzentriert sich auf die kulturelle und soziale Demokratisierung des türkischen Staates unter dem klassenversöhnlerischen Projekt der „selbstverwalteten demokratischen Autonomien“, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht antasten. Schon in den 90ern, als die KurdInnen – aus ihren Dörfern in die türkischen Großstädten vertrieben – von der türkischen Bourgeoisie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden, stellte die kurdische Bewegung nicht die Klassenausbeutung in den Vordergrund, sondern die Identitätsfrage. Schon im Kampf gegen einige LandbesitzerInnen im Nordkurdistan sah die PKK damals die Problematik nur an der Kollaboration der LandbesitzerInnen mit dem türkischen Staat, aber nicht am Eigentum am Boden und Ausbeutung der LandarbeiterInnen.
Die HDP setzt als „Vermittlerin“ zwischen der PKK und des türkischen Staates den Fokus auf den „Friedensprozess“, der nichts anderes als ein „Diktatfrieden“ ist und immer wieder einseitig vom türkischen Staat abgebrochen wird. Auch wenn die HDP eine Verbindung zu den Gewerkschaften hat, begnügt sie sich bei den Arbeitskämpfen höchstens mit den symbolischen Solidaritätserklärungen. Sie möchte sich vor der türkischen Bourgeoisie als fähiger Regierungsakteur beweisen und will die sich in den Reihen der HDP befindlichen Teile aus der kurdischen Bourgeoisie nicht abschrecken.
Revolutionärer Bruch statt „radikale“ Demokratisierung
Der Neoreformismus impft den Massen systematisch die Gedanken ein, dass die Gleichheit und Freiheit durch die Versöhnung mit dem Kapital verwirklicht werden kann. Doch die Praxis leugnet diesen Kurs, da diese Parteien schon an die Grenzen ihrer sozialdemokratischen Perspektive gestoßen sind.
Die Geschichte hat bewiesen, dass auch wenn die demokratische Republik „die denkbar beste Hülle des Kapitalismus“ (Lenin) ist, die Bourgeoisie mit der Hilfe der KlassenkollaborateurInnen in den Zeiten der Krisen gezielt die Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse angreift, um sich zu retten. Die Lösung der demokratischen Frage besteht darin, dass das Proletariat und die unterdrückten Massen die demokratischen Rechte in Form der kontinuierlichen revolutionären Mobilisierung für den Sturz des bürgerlichen Staates und Aufbau proletarischer Diktatur ausnutzen. Nur das ist „radikale Demokratie“.