Eine neue Welle von Lohnstreiks schwappt durch ganz Frankreich

31.05.2023, Lesezeit 20 Min.
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Streikposten von Vertbaudet Anfang Mai. Quelle: Révolution Permanente

Mit der Bewegung gegen die Rentenreform ist eine neue Welle von Streiks für höhere Löhne entstanden. Streiks, die sich trotz des Beharrens der Intersyndicale, den Kampf um die Renten nicht auf die Löhne auszuweiten, entwickelt haben.

Seit mehr als zwei Monaten streiken die 80 Beschäftigten in der Logistikabteilung von Vertbaudet, einem auf Kinderkleidung spezialisierten Unternehmen, für Lohnerhöhungen. Während die Repression mit Einschüchterungen, Polizeigewalt und Verhaftungen tobt, ist dieser Streik zu einem Symbol der Streiks für Lohnerhöhungen geworden. Hinter den Beschäftigten von Vertbaudet stehen Dutzende von Streiks für Lohnerhöhungen, die seit dem 7. März ausgebrochen sind. Streiks, die zum Teil durch den Zorn der Arbeiter:innen gegen die Rentenreform angeheizt wurden, und das trotz der Weigerung der Intersyndicale [Koordinationsgremium der französischen Gewerkschaftsverbände, A.d.Ü.], offensive Lohnparolen in die Forderungen der Bewegung aufzunehmen. Dennoch zeigen diese zahllosen Konflikte, die ein Wiederaufleben der Kampfbereitschaft der Arbeiter:innen an der Basis offenbaren, dass der Kampf gegen die Rentenreform und die Regierung eine ganz andere Dimension hätte annehmen können, wenn sich diese beiden Bewegungen zusammengeschlossen hätten. Daher ist es notwendig, eine Bilanz aus dieser Zeit zu ziehen, um erneut in die Offensive zu gehen.

Die dritte Welle

Es ist ein Phänomen, das von den landesweiten Medien weitgehend ignoriert wurde: Während des gesamten Kampfes gegen die Rentenreform entwickelten sich zahlreiche Streiks für Lohnerhöhungen. Seit dem 7. März scheinen sich diese Streiks beschleunigt zu haben, wobei sie sich in ihren Merkmalen kaum von den Lohnstreikwellen vor der Bewegung gegen die Rentenreform unterscheiden.

Ab 2021 gab es wieder Lohnstreiks, die sich im Wesentlichen auf Unternehmen konzentrierten, in denen Niedriglöhne herrschten, insbesondere im Einzelhandel. Leroy-Merlin, Décathlon, Auchan – alles große Unternehmen, in denen die Beschäftigten knapp über dem Mindestlohn bezahlt werden und in denen die während der Covid-Wellen gebrachten Opfer nicht belohnt worden waren. Diese Streiks hatten die Gewerkschaften damals weitgehend überrascht, insbesondere in Unternehmen, in denen Streiks sehr selten waren. Trotz des Kampfgeistes einiger Unternehmen waren sie weitgehend daran gescheitert, ihre Forderungen gegen unnachgiebige Bosse durchzusetzen, die nicht bereit waren, Gewinne aus der Covid-Phase zu teilen.

Zwischen Juli 2022 und Dezember 2022 entwickelte sich eine zweite Streikwelle in landesweit tätigen Unternehmen, deren Aushängeschild der Streik der Raffineriearbeiter:innen zwischen Oktober und November war. In diesen sechs Monaten kam es in zahlreichen Vorzeigeunternehmen zu Streiks: zunächst am Flughafen Roissy Charles de Gaulle, dann zu Beginn des Herbstes bei PSA-Stellantis mit einem seit 1989 nicht mehr gesehenen Streiktag, an dem 4300 Arbeiter:innen die Arbeit niederlegten. Es folgten natürlich die Streiks bei den Raffineriebetreibern Total und ExxonMobil, die das Land praktisch austrockneten. Es folgten eine Reihe von Streiks in vielen großen Industrieunternehmen, z. B. bei Safran, Airbus oder Thales in der Luftfahrtindustrie, beim führenden Logistikunternehmen Geodis, beim Pharmakonzern Sanofi, Streiks in den Energieunternehmen (EDF, RTE oder GRDF) und schließlich der Streik der Schaffner:innen der SNCF kurz vor Weihnachten. Diese Streiks, von denen einige erfolgreich waren, wie im Energiebereich mit Erhöhungen von 200 € für die Strom- und Gasarbeiter:innen, waren vor allem durch den völlig fehlenden Willen der Gewerkschaftsführungen gekennzeichnet, diese Streiks zu koordinieren, obwohl sie riesige Konzerne mit Zehntausenden von Beschäftigten erschütterten.

Die Streikbewegung für Lohnerhöhungen, die sich gleichzeitig mit dem Kampf gegen die Rentenreform entwickelt hat, ist daher eine Art „dritte Welle“ der Lohnkämpfe, die mit der Beschleunigung der Inflation seit Sommer 2021 begonnen haben. Trotz einiger Streiks in Großkonzernen konzentriert sich diese neue Welle auf Betriebe mittlerer Größe, hauptsächlich in Privatunternehmen, die manchmal privatisierte öffentliche Aufgaben wahrnehmen, wie im öffentlichen Nahverkehr oder bei der Müllabfuhr. Wir haben versucht, durch die Zusammenstellung journalistischer Quellen, die oft sehr uneinheitlich sind (vor allem wenn es um Streiks geht, die Unternehmen betreffen, die manchmal weniger als hundert Beschäftigte haben), eine Typologie dieser Streiks, ihrer Forderungen und ihrer Modalitäten zu erstellen, um ihre Merkmale zu verstehen.

Defensive Streiks konzentrieren sich auf die Beschäftigten in der Privatwirtschaft

Was diese Streikwelle auszeichnet, ist die Vielfalt der Sektoren, die sie umfasst, von kleinen Logistiklagern über Möbel- und Holzfabriken bis hin zu Truffaut-Geschäften. Unter den knapp 100 Streiks, die wir gezählt haben (es ist anzunehmen, dass Dutzende weitere unter dem Radar der Medien, einschließlich der regionalen Tagespresse, geblieben sind), lassen sich drei große Sektoren ausmachen, die in dieser Streikdynamik an vorderster Front stehen.

Zunächst einmal zahlreiche Zulieferer der Metall-, Automobil- und Luftfahrtindustrie an Industriestandorten mit 80 bis 500 Beschäftigten. Dies gilt für die Beschäftigten von Sabena Technics (Zulieferer von Airbus), Novares (Zulieferer von Toyota), der Gießerei von Lorraine oder der ArianeGroup in L’Ile-Longue. Erfolgreiche Streiks in den ersten drei Fällen, die zeigen, wie unverzichtbar mittelständische Unternehmen in der Logistik großer multinationaler Konzerne sein können, was die Bosse dazu zwang, die Forderungen der Streikenden zu akzeptieren.

Dann war es auch der Sektor der Logistikplattformen und des Großhandels, in dem zahlreiche Streiks stattfanden: bei STEF in Le Mans, bei FM Logistic im Departement Oise und schließlich beim Amazon-Zulieferer KB90. Jedes Mal traten ein oder zwei Lagerhäuser in den Streik, ohne dass es eine landesweite Koordination gab, ebenso wie bei den großen Einzelhandelsunternehmen. So kam es in einigen Geschäften zu Streiks, z. B. bei Truffaut, Brico Dépôt oder Shiever.

Der dritte Sektor, der bei dieser Streikwelle eine Vorreiterrolle spielt, sind die vielen privaten Unternehmen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, wie der öffentliche Nahverkehr oder die Müllabfuhr. In diesen Unternehmen, die häufig Tochterunternehmen von Keolis (wie Ilevia in Lille oder Synchrobus in Chambéry) oder von Transdev (wie die Busse Rémi) sind, herrschen Niedriglöhne vor dem Hintergrund der Spaltung und Zersplitterung der Beschäftigten in Myriaden von Unternehmen, die denselben Konzernen angehören. Die gleiche Logik gilt für die Müllabfuhr, ob sie nun für SIVOM (Essonne), Pizzorno (Paris) oder Nicollin (Sète) arbeitet: Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, drückt auf die Löhne und erstickt die Kaufkraft ihrer Beschäftigten an den Übergängen.

Trotz der Vielfalt der Branchen haben diese Streiks im Allgemeinen gemeinsam, dass es sich um „Defensivstreiks“ handelt, d. h. sie verteidigen Lohnerhöhungen, die häufig unter der Inflationsrate liegen. Angesichts zweistelliger Inflationsraten bei Lebensmitteln und Energie, den größten Ausgabenposten aller französischen Haushalte, liegen die offensivsten Lohnforderungen dieser Streiks bei rund 10 % Lohnerhöhung oder 200 € mehr (was 11,5 % für einen Beschäftigten auf Mindestlohnniveau entsprechen würde). Es geht also nicht darum, Lohn zu gewinnen, sondern zu verhindern, dass man aufgrund der Inflation Lohn verliert. Angesichts der unnachgiebigen Bosse, die bei den obligatorischen jährlichen Verhandlungen manchmal 1 % Lohnerhöhung vorschlagen, erscheint die Forderung nach 6 % Lohnerhöhung manchmal „zu viel“, obwohl die Inflationsrate für 2022 auf 5,9 % geschätzt wird.

Der Kampf gegen die Rentenreform und die Tendenz zu einem verlängerbaren Streik

Was diese Welle von Lohnstreiks aber am meisten auszeichnet, ist natürlich ihre Synchronizität mit dem Kampf gegen die Rentenreform. Tatsächlich entwickelten sich diese Streiks zeitgleich mit dem Rentenkampf, wobei dieser regelmäßig eine auslösende Rolle spielt. Dies gilt beispielsweise für den Streik bei Verbaudet: Am Anfang der Bewegung stand eine externe Blockade des Lagers durch die örtlichen Gewerkschaften, die die Arbeiter:innen dazu veranlasste, sich zu organisieren und einen Streik für Lohnerhöhungen zu beginnen. Das bezeugt auch ein Beschäftigter von Onet, der die Pariser U-Bahnen reinigt und gerade einen Streik für ihre Löhne gewonnen hat: „Wir sind hier mehrere, die an den Protesten teilgenommen haben. Ohne diese Bewegung wären nicht so viele Menschen in den Streik getreten“.

Auch bei der staatlichen Eisenbahn SNCF wurde die Verbindung zwischen Lohn und Renten stark zum Ausdruck gebracht. So waren es beim Streik der Weichenwärter:innen im Frachtrangierzentrum Le Bourget zunächst die Arbeitsbedingungen und Löhne, die Ende November einen Streik auslösten, der zunächst mit einer Modalität von 59 Streikminuten pro Tag und dann zweimal 59 Minuten durchgeführt wurde. Nachdem die Gewerkschaften den Streikaufrufen gefolgt waren, verhärtete sich der Streik zu einem verlängerbaren Streik, in dem sich mit den ursprünglichen Forderungen die Forderung nach einer Rente mit 60 Jahren und 55 Jahren für schwere Arbeit vermischte. Die gleiche Dynamik herrschte bei der CCR, dem größten Stellwerk Frankreichs, wo sich die Wut auf die Renten und die Arbeitsbedingungen schnell selbst nährten. Bei diesen beiden erfolgreichen Streiks war die Präsenz einer kämpferischen Gewerkschaft wie Sud Rail Paris Nord entscheidend für den Ausgang des Kampfes. Im Technikzentrum in Châtillon, wo die TGVs für den Bahnhof Montparnasse repariert werden, explodierte die Wut über die Arbeitsbedingungen nach der Ankündigung Dekrets über die Rentenreform: Die Eisenbahner:innen begannen daraufhin einen Streik ohne die von der SNCF vorgeschriebenen Vorankündigungsfristen, der mehrere Wochen dauern und verlängerbar sein sollte.

Bei den meisten Streiks war der Kampf gegen die Rentenreform untrennbar mit den Lohnforderungen verbunden, und einige von ihnen stützten sich auf die großen landesweiten Mobilisierungstage, um eine breite Masse zu erreichen. Der März war in dieser Hinsicht besonders ergiebig. Die Idee, dass das Ende des Monats und das Ende der Karriere [gemeint sind ein ausreichender Lohn, um über den Monat zu kommen, und eine ausreichende Rente nach dem Arbeitsleben, A.d.Ü.] zwei untrennbare Themen sind, war daher zentral für die Entwicklung dieser Streikbewegung.

Am Vorabend der ersten Demonstrationen gegen die Rentenreform hatte Laurent Berger, damaliger Chef der Gewerkschaftszentrale CFDT, auf die Notwendigkeit von Samstagsdemonstrationen hingewiesen, um „den Arbeiter:innen in der zweiten Reihe die Möglichkeit zu geben, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Das heißt, die Beschäftigten in der Lebensmittelindustrie, im Baugewerbe, im Handel, im Vertrieb, in der Reinigungsbranche usw. […] Wir wissen sehr wohl um ihre Schwierigkeiten mit der Kaufkraft“. Im Allgemeinen hat die Intersyndicale immer wieder betont, wie schwierig es für die prekärsten Beschäftigten sei, zu streiken, und erst recht, Streiks zu verlängern. Dennoch ist bei dieser Streikwelle für die Löhne eine Tendenz zu verlängerbaren Streiks zu beobachten. Ob sie nun zwei Tage oder wie bei Verbaudet zwei Monate dauerten, die Mehrheit der Streiks erfolgte auf der Grundlage von Verlängerbarkeit, und das trotz der manchmal sehr unsicheren Arbeitsplätze, die die Streikenden innehatten. Von den rund 100 Streiks, die wir gezählt haben, fanden 55 % als verlängerbare Streiks (von zwei oder mehr Tagen) statt, und nur 19 % an einzelnen Tagen oder als kurzfristige Arbeitsniederlegungen (für andere Konflikte fehlen die Daten).

In dieser Situation liegt einer der Schlüssel, der es ermöglicht hätte, von einer Mobilisierung gegen die Rentenreform, die sich auf einzelne Streiktage konzentriert, zu einem Generalstreik überzugehen, der alle Kategorien von Arbeiter:innen umfasst. In der Tat ist die alleinige Forderung nach Rücknahme der Rentenreform weit davon entfernt, die gesamte Arbeiter:innenklasse in einen erneuerbaren Streik zu ziehen, bei dem jeder Tag ein Tag ohne Lohn ist.

Wie soll ein:e Mindestlohnbezieher:in davon überzeugt werden, in einen verlängerbaren Streik einzutreten, wenn diese:r schon jetzt erst mit 64 Jahren in Rente gehen sollte? Die Kraft des Willens und der Überzeugung reicht nicht aus, um Millionen von prekär Beschäftigten davon zu überzeugen, dass sie mehrere Tage Lohn verlieren. Es bedarf eines größeren Ziels, für das es sich lohnt zu kämpfen, um Millionen von Beschäftigten in einen verlängerbaren Streik zu ziehen, und die Frage nach massiven Lohnerhöhungen hätte diese Rolle spielen können. Angesichts der Inflation, die Millionen von Menschen die Kehle zuschnürt, hätte man die beiden Probleme Renten und Löhne gemeinsam angehen müssen. „Die Inflation betrifft alle, kleine und große Unternehmen“, erklärte Stéphane, ein Angestellter von Tisséo, am 18. April in einem Gespräch mit uns. „Das ist der zweite Streik in meinem Leben. Was mich überzeugt hat, ist die Inflation, die Schwierigkeiten des Lebens: Alles ist kompliziert. Das Benzin, die Einkaufswagen, das ist alles zusammen“.

Genau das Gegenteil dieser Logik trieb die Intersyndicale während der gesamten Bewegung an, die sich bemühte, jede Ausweitung der Forderungen zu verhindern. Am 7. Februar erklärte Laurent Berger in der Zeitung Le Parisien, dass „die CFDT nie ein Anhänger von Parolen war, die alles umfassen. Wenn wir wollen, dass die Regierung uns beim gesetzlichen Rentenalter zuhört, müssen wir bei dieser Forderung bleiben“. Neben dem CFDT-Chef folgte auch der damalige CGT-Chef Philippe Martinez nur der Politik seines Gegenübers und lehnte es ausdrücklich ab, die Forderungen zusammenzuführen und damit potenziell den verlängerbaren Streik auszuweiten.

Für eine Koordinierung der Streiks und einen landesweiten Kampf um die Löhne

Was schließlich bei der Betrachtung dieser neuen Streikwelle auffällt, ist die Isolation, in der jeder dieser Streiks verbleibt. Die meisten Streiks finden an einzelnen Arbeitsplätzen statt und nicht auf der Ebene ganzer Unternehmen. Und selbst wenn sie zur gleichen Zeit und manchmal in sehr ähnlichen Gebieten stattfinden, bleiben die Streiks voneinander isoliert.

Das Problem der Inflation ist jedoch kein Problem, das speziell diesen oder jenen Arbeitsplatz betrifft: Es handelt sich um ein Phänomen, das alle Schichten unserer Klasse betrifft, von den prekärsten undokumentierten Arbeiter:innen bis hin zu den bestbezahlten Arbeiter:innen in Großunternehmen. Um ihren Besuch in Matignon zu rechtfertigen, spricht die neue CGT-Chefin Sophie Binet seit einigen Tagen wieder über Löhne: „Ich habe Elisabeth Borne gesagt, dass es ein Problem mit den Löhnen gibt, die in Frankreich zurückgehen. Die Regierung hat bei Lohnfragen Hebel in der Hand: Sie kann eine Preisindexierung der Löhne einführen“, erklärte sie auf BFM TV.

Auf die Frage von Mathieu Magnaudeix auf Mediapart, ob eine landesweite Bewegung zu den Löhnen angebracht sei, antwortete die CGT-Chefin jedoch im selben Atemzug: „Renten und Löhne funktionieren überhaupt nicht gleich: Bei den Löhnen ist der erste Ansprechpartner der Chef, also gibt es Mobilisierungen in den Unternehmen an den Arbeitsplätzen, die direkt mit den Lohnverhandlungen zusammenhängen. Aber eine nationale, branchenübergreifende Bewegung zu den Löhnen, das ist viel seltener und so gut wie nie gesehen“. Eine Art zu erklären, dass es nicht möglich wäre, auf eine Koordinierung der Streiks für Lohnerhöhungen zu drängen, geschweige denn eine landesweite Bewegung für Lohnerhöhungen aufzubauen.

Doch nur wenige Augenblicke später erklärt Sophie Binet, dass die CGT für die Bindung der Löhne an die Inflation eintritt. Wie soll man erklären, dass es unmöglich wäre, eine landesweite Mobilisierung zur Lohnfrage aufzubauen und dann eine Forderung vorzubringen, die nur mit einer landesweiten Mobilisierung erreicht werden könnte? Sophie Binet verstrickt sich in ihren eigenen Widersprüchen. Wenn Sophie Binet behauptet, dass „der Aufbau einer nationalen, branchenübergreifenden Mobilisierung nicht derselbe Mechanismus“ sei wie bei den Renten, dann liegt das daran, dass es den Bossen unter Mitterrand gelungen ist, die – begrenzten – Mechanismen zur Bindung der Löhne an die Inflation abzuschaffen und die Lohnfrage durch die Einführung der NAO zu individualisieren. Eine Art, die Lohnfragen von Unternehmen zu Unternehmen zu unterteilen. Anstatt diesen Sieg der Bosse in Frage zu stellen, indem sie einen Plan vorschlägt, um die Streiks zu vereinheitlichen und zu „nationalisieren“, akzeptiert Sophie Binet in letzter Instanz einen Zustand, der die Mechanismen der Spaltung unserer Klasse aufbaut und nährt.

Umgekehrt sollte die gesamte Arbeiter:innenbewegung für die Bindung der Löhne an die Inflation kämpfen, die von Arbeiter:innenvertreter:innen im Bündnis mit den Ökonom:innen des Statistikinstituts Insee berechnet werden sollte – entgegen der Unterordnung dieser Institution unter das Finanzministerium, dessen Inflationsberechnungen weit von den Realitäten entfernt sind, die von den Arbeiter:innen erlebt werden. Aber genauso wenig wie die Intersyndicale die Rücknahme der Rentenreform erreicht hat, indem sie die Regierung höflich darum gebeten hat, werden wir eine massive Lohnerhöhung und die Bindung der Löhne an die Preise erreichen, indem wir die Regierung bei Treffen im Regierungspalast Matignon darum bitten. Nur durch eine landesweite Bewegung von verlängerbaren Streiks werden wir diese Forderungen durchsetzen können. Und dafür ist die Koordinierung der bereits bestehenden und laufenden Streiks, deren Forderungen oft sehr ähnlich sind, eine zentrale Aufgabe.

Wir müssen aufhören, jeder für sich allein zu kämpfen, ohne Dialog mit anderen, die aus denselben Gründen kämpfen. Die Gewerkschaftsbünde sollten, wenn sie die Kopplung der Löhne an die Preise erreichen wollen, diese Koordinierungsarbeit leisten, diese Brücken zwischen diesen Kämpfen bauen, um jeden dieser Konflikte, die allzu oft an den Türen des Unternehmens enden, zu entflechten.

Diese Aufgabe ist umso zentraler, als eine solche Bewegung durch die Arbeiter:innenmassen, die sie in Bewegung setzen könnte, in der Lage wäre, unsere Klasse wirklich zu vereinen. Auf der vom „Netzwerk für den Generalstreik“ organisierten Kundgebung am 13. März, als die verlängerbaren Streiks in der Energiewirtschaft, in der Raffinerie und bei den Müllmännern ihren Lauf nahmen, charakterisierte Frédéric Lordon die Lohnforderung als „die Forderung, zwingend, transversal, vereinigend, die Forderung, die alle in den globalisierten Kampf werfen wird“. Wo viele linke Journalist:innen und Aktivist:innen in der gewerkschaftsübergreifenden Zusammenarbeit den einzigen und ausschließlichen Weg sahen, um die „Einheit unserer Klasse“ herzustellen, hat die Realität der verlängerbaren Streiks gegen die Rentenreform deutlich gezeigt, dass die Einheit der Gewerkschaftslogos nicht ausreichen würde, um Millionen von Arbeiter:innen in den Streik zu treiben.

Die Tendenzen zur Verlängerung der Streiks für die Löhne zeugen davon, dass die Wut noch immer vorhanden ist. Die Einheit unserer Klasse, die mehr denn je notwendig ist, um Macron bei der Rentenreform und seiner gesamten arbeiter:innenfeindlichen und reaktionären Agenda zurückzudrängen, kann nur erreicht werden, wenn wir versuchen, die kämpfenden Sektoren zu vereinen. Eine Politik, die den Aufbau eines Programms voraussetzt, das die Sektoren miteinander verbinden kann: rund um offensive Losungen zu den Löhnen, für ihre Bindung an die Preise und 400€ mehr für alle, zu den Renten, aber auch auf dem Gebiet der Demokratie angesichts der laufenden autoritären Offensive. Diese Forderungen sind untrennbar mit dem Aufbau eines nationalen Kampfplans verbunden, um sie durchzusetzen.

Um diese Notwendigkeit herum entwickelte sich insbesondere das Netzwerk für den Generalstreik, das während der Bewegung die einzige Stimme war, die unaufhörlich auf die Notwendigkeit hinwies, die Forderungen auf die Löhne auszuweiten. Dieses Netzwerk von Gewerkschafter:innen, Student:innen und Aktivist:innen gegen die Rentenreform begnügte sich keineswegs damit, diese Notwendigkeit zu bekräftigen, sondern legte großen Wert darauf, Brücken zwischen dem Kampf um die Renten und den Streiks für die Löhne zu bauen. Ob bei der Unterstützung des Streiks der Müllabfuhr des SIVOM, der Stellwerker:innen in Le Bourget, bei Tisséo in Toulouse oder bei Verbaudet – die Aktivist:innen des Netzwerks haben gezeigt, wie eine alternative Politik zur Politik der Intersyndicale hätte aussehen können, indem sie Streiks von prekär Beschäftigten unterstützten und sie gleichzeitig als Teil des Kampfes für unsere Renten einbezogen haben. Ein Netzwerk, das weiterlebt und sich weiter strukturiert, insbesondere um die zentrale Aufgabe der Koordinierung der Kämpfe.

Dieser Artikel erschien zuerst am 22. Mai 2023 bei Révolution Permanente.

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